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Ausgabe:

November/2007

Spalte:

1189–1191

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Busse, Ulrich [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Bedeutung der Exegese für Theologie und Kirche. Unter Mitarbeit v. K. Gabriel, G. Häfner, J. Kügler, F. R. Prostmeier, E. Reinmuth, H.-J. Sander, S. Schreiber, J. Wanke.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2005. 240 S. 8° = Quaestiones Disputatae, 215. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-451-02215-9.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Die »Erfahrung unter den Exegeten vom Akzeptanzverlust ihrer Disziplin innerhalb der Theologie und Kirche« und der »Relevanzverlust der universitären Theologie im Dialog mit anderen Wis­senschaften« sind, so der Herausgeber, Anlass und Intention der vorliegenden Sammlung, die auf eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft der deutschsprachigen katholischen Neutestamentler 2003 in Köln zurückgeht (7–9). Hohe Ziele sind es, die er der Exegese zu­schreibt. Sie habe »das kirchliche wie kulturelle Gedächtnis erinnernd aufzufrischen und entsprechend die von angeblichen Sach­zwängen erzwungenen Kompromisse in der Verkündigung und kirchlichen Praxis mit der authentischen Memoria kritisch zu konfrontieren« (8). Dass sie sich dabei nur nicht übernimmt, muss man als Exeget besorgt hoffen! Jedenfalls wird »authentische Memoria« nicht ohne partnerschaftliche Zusammenarbeit der Exegeten mit und Lernbereitschaft gegenüber Vertretern der übrigen theologischen Disziplinen, weiterer akademischer Fächer und wohl auch der Verantwortlichen für das kirchliche Leben zu haben sein. Absolutheitsansprüche Einzelner helfen nicht weiter.
Dementsprechend verbindet der Bayreuther Bibelwissenschaftler J. Kügler (Die Gegenwart ist das Problem! Thesen zur Rolle der neutestamentlichen Bibelwissenschaft in Theologie, Kirche und Gesellschaft, 10–37) seinen schonungslosen Aufweis der Irrelevanz der Exegese für Theologie, kirchliches Lehramt und Ge­meindearbeit mit einer sehr viel bescheideneren Aufgabenstellung: Die Aufgabe der Bibelwissenschaft bestehe »nicht in der Feststellung des richtigen Textsinns« (25), sondern »primär in der Hilfestellung zum besseren Lesen« (27) und »in der Verteidigung der Nichtfestlegbarkeit der biblischen Texte« (29). »Dort wo sie sich als Wissenschaft richtig versteht, arbeitet sie gegenüber ihren eigenen und anderen Sinnbildungen immer wieder ideologiekritisch.« (31) Der Salzburger Dogmatiker H.-J. Sander (Die kritische Autorität der Exegese für die Dogmatik. Theologie im Zeichen einer prekären Differenz über die Heilige Schrift, 38–75) macht sich zunächst einmal für eine strikte Trennung zwischen den Anliegen und Arbeitsweisen der Exegese einerseits, der Dogmatik andererseits stark, die gerade so ihre jeweiligen Stärken zur Geltung bringen können. Weder dürfe die Exegese in die Dogmatik verlängert werden, noch dürfe Dogmatik ihre Argumente einfach aus der Exegese beziehen. »Man darf der Spannung der unterschiedlichen diskursiven Zugriffsweisen beider Theologien nicht ausweichen« (40).
Der Rostocker evangelische Neutestamentler E. Reinmuth (In der Vielfalt der Bedeutungen. Notizen zur Interpretationsaufgabe neutestamentlicher Wissenschaft, 76–96) sieht in dem soteriologischen Anspruch der biblischen Texte den Auftrag zu einer »spezielle(n) Ethik der Lektüre« (84). »Sie könnte zeigen, weshalb die Konzentration auf die soteriologische Interpretation der Jesus-Christus-Geschichte keine fundamentalistische, historisierende oder dogmatische Engführung bedeuten muss, sondern zur Erschließung, Provokation oder Neuinszenierung von Befreiungserfahrungen führen kann.« (84 f.)
Stimmen diese ersten drei Beiträge des Bandes darin überein, dass das die Exegese der zweiten Hälfte des 20. Jh.s weithin beherrschende hermeneutische Schema von Rekonstruktion und Interpretation heute nicht mehr trägt, so bleiben die folgenden drei ihm noch weithin verhaftet (F. R. Prostmeier, Was bedeutet die Autorität der Schrift bei Paulus?, 97–130; S. Schreiber, Imperium Romanum und römische Gemeinden. Dimensionen politischer Sprechweise in Röm 13, 131–170; G. Häfner, Schriftauslegung und »ge­sunde Lehre« in den Pastoralbriefen. Von der Problematik eines spannungsfreien Verhältnisses, 171–198), mit entsprechend problematischen Versuchen einer jeweils hinten angehängten, eher plakativen »Aktualisierung« exegetischer Befunde für Fragen von Kirche und Gesellschaft heute, die der von Kügler angesprochenen ideolo­giekritischen Selbstanalyse der neutestamentlichen Wis­senschaft erst noch zu unterwerfen wären.
Auffällig, aber wohl nicht untypisch ist, dass die beiden Beiträge am Schluss (K. Gabriel, Die Wahrnehmung der Schrift in der Gesellschaft und ihre soziale Relevanz, 199–226; J. Wanke, Bibel und Kirche. Eine katholische Perspektive, 227–240) zwar eindrückliche Befunde zum Umgang mit der Bibel aus sozialwissenschaftlichen Erhebungen und kirchlicher Praxis benennen, die Bibelwissenschaft bei ihnen aber überhaupt keine Rolle spielt.
Der Band führt somit exemplarisch den gegenwärtigen Stand der akademischen Schriftauslegung in Deutschland vor Augen, der wohl für beide Konfessionen in gleicher Weise charakteristisch ist: Die Bibelwissenschaften sind akademische Fächer im Übergang, von der Selbstgenügsamkeit historischer Detailforschungen hin zur Konzentration auf Elementares und Fundamentales, von der innertheologisch-hermeneutischen Lehrdiskussion hin zu die Disziplinen übergreifenden Fragen von Kultur, Ethik und Denken, von der Isolierung der Fächer mit Tendenzen zur Verabsolutierung hin zur Einbindung in die gemeinsamen Aufgaben und Herausforderungen akademischer Theologie heute.