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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1127 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schütte, Anne

Titel/Untertitel:

Würde im Alter im Horizont von Seelsorge und Pflege. Der Beitrag eines integrativen dialogischen Seelsorgekonzepts in der Palliativen Betreuung pflegebedürftiger Menschen im Altenpflegeheim.

Verlag:

Würzburg: Echter 2006. 287 S. gr.8° = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 64. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-429-02774-2.

Rezensent:

Wolfgang Drechsel

Das Thema Altenseelsorge, das in der protestantischen Seelsorgetheorie eher selten zum Gegenstand der Reflexion wird, hat im katholischen Kontext eine ausgeprägte Tradition. In dieser ist die Dissertation von S. (bei Maria Blasberg-Kuhnke) verortet. In ihrer Frage nach pflegebedürftigen Menschen in Altenpflegeheimen erschließt S. die palliative Geriatrie als Neuland für die Seelsorge. Dieser Bereich hat auf Grund der gesellschaftlichen Abwertung des Alters, der Schwierigkeit des Umgangs mit Multimorbidität, Demenz oder anderen gerontopsychiatrischen Erkrankungen und den damit verbundenen Erfahrungen von Ohnmacht, Schuld oder Angst bei Pflegenden oder Seelsorgern weder im Blick auf eine angemessene Praxis noch auf eine entsprechende (nicht nur) poimenische Theorie bislang kaum Beachtung gefunden. Mit dem Ziel, »›Palliative Care‹ in die Versorgung und Betreuung pflegebedürftiger alter Menschen zu integrieren« (15), gilt das Interesse der Entwicklung einer spezifischen Seelsorgetheorie und der Formulierung eines neuen Aufgabenprofils für die Praxis der Altenpflegeheimseelsorge.
Dabei spiegelt sich die bereits im Titel zum Ausdruck kommende Verbindung von Pflege und Seelsorge, die allerdings immer auch ein nicht ganz geklärtes Nebeneinander beinhaltet, im Aufbau der Arbeit. Während sich die ersten drei Kapitel primär mit grund­legenden Fragen zur Pflegebedürftigkeit im Kontext der Organi­sation Altenpflegeheim und einer menschenwürdigen Pflege be­fassen, gelten die zwei folgenden Kapitel der Entfaltung einer »integrativen dialogischen Seelsorge« und der Frage nach der Seelsorge als Fachdisziplin in der »Palliative Care«.
In einer umfassenden Darstellung der »Situation alter Menschen im System der stationären Altenbetreuung« (21–72), die sehr genau auf Fragen von Multimorbidität, psychischen Erkran­kungen sowie auf den Kontext der Organisation Altenpflegeheim eingeht, betont S. die Notwendigkeit »der Umsetzung von Betreuungs- und Kommunikationsformen (Validation, basale Stimulation), die einen respektvollen, empathischen und wertschätzenden Umgang gegenüber den pflegebedürftigen alten Menschen vermitteln« (68). Im folgenden Abschnitt zur Würdediskussion (73–120) grenzt sich S. gegen die Euthanasiethesen Singers ab und stellt unter Verweis auf die Hospizbewegung ihr Verständnis vom alten Menschen als eigenständigem Subjekt in Würde dar. Das anschließende Kapitel »›Palliative Care‹ als Synonym für menschenwürdige Pflege in Trägerorganisationen« (121–165) entfaltet – auf der Basis der Präsentation verschiedener Modellprojekte – die Hypothese, »dass eine Implementierung von ›Palliativer Geriatrie‹ in die Organisation Altenpflegeheim ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt gewährleisten kann« (107).
Auf dieser Basis, die primär am Gesamt der palliativ-geriatrischen Pflege orientiert ist, entwickelt S. ihr integratives dialogisches Seelsorgemodell (167–229), indem sie – ausgehend von den Defiziten gängiger Seelsorgepraxis gegenüber dem kirchlichen Seelsorgeanspruch (180) – zur »begleitenden Seelsorge« die Perspektiven der logotherapeutisch orientierten Seelsorge, der »energetischen Seelsorge« (Josuttis), der Empathie als Indikator heilender Seelsorge und der Biographiearbeit sowie einer diakonischen und politischen Seelsorge hinzufügt. Dadurch gewinnt S. ein pragmatisches Konzept, das die wesentlichen Felder möglicher Altenseelsorge abdeckt, das allerdings auf einer seelsorgetheoretischen Ebene auch Fragen offen lässt: Ist Integration durch Addition differenter, sich zum Teil ausschließender Konzeptionen möglich?
S. gelingt es, zentrale Aspekte einer Seelsorge zu beschreiben, die den alten, pflegebedürftigen Menschen in den Mittelpunkt stellt, aber sich nicht auf diesen beschränkt, sondern auch Pflegende und Angehörige sowie die gesellschaftlich-politische Dimension wahrnimmt. Zugleich wird diese im abschließenden Kapitel als Fachdisziplin von »Palliative Care« (231–264) beschrieben. Doch es stellt sich die Frage, wie ein solcher programmatischer Entwurf, der nicht zufällig immer wieder sprachlich den Konjunktiv (»hilfreich wäre es ...«) oder »muss«- und »sollte«-Formulierungen verwendet, durch einzelne Seelsorgerinnen und Seelsorger in konkreten Altenpflegeheimen realisiert werden kann und ob sich gerade in diesem Problem eine letztlich fehlende Einheit der Theoriebildung spiegelt. So bleiben, bei einem hohen Anspruch des Programms, strukturelle Gegensätze ungeklärt wie z. B.: Wie ist das Verhältnis von Seelsorge und Pflege? Wie kann die Seelsorgerin Element des interdisziplinären Teams und Dienstleister (228), aber zugleich auch sorgendes Gegenüber sein (210)? Wie verträgt sich Empathie als identifikatorisches »lang andauerndes Eintauchen in die Welt des Gegenübers« (243) zur notwendigen professionellen Distanz, usw.? – In dieser Hinsicht wirken die beiden Seelsorgekapitel weniger wie Elemente poimenischer Theoriebildung, sondern eher wie eine Zusammenfassung eines programmatischen »Seelsorgeanspruchs« (232 u. ö.).
Dennoch bietet S. viele wichtige und weiterführende Perspektiven in einem poimenischen Neuland, die zum Fragen nach einer nicht-additiven Altenpflegeheimseelsorge anregen.