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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1116–1118

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Spengler, Friederike Franziska

Titel/Untertitel:

Kindsein als Menschsein. Beitrag zu einer integrativen theologischen Anthropologie.

Verlag:

Marburg: Elwert 2005. XVII, 302 S. m. Abb. gr.8° = Marburger Theologische Studien, 88. Kart. EUR 29,00. ISBN 3-7708-1274-3.

Rezensent:

Doris Hiller

Eine theologische Anthropologie, die den Menschen unter Einbeziehung aller Modi des Menschseins als Gottes Gegenüber darstellt– das ist das Ziel, das die in Heidelberg von Wilfried Härle betreute Dissertation verfolgt. F. Spengler setzt dabei das Kind als Modell für den empfangenden, fragenden und im Werden seienden Menschen ins Zentrum ihrer Untersuchung.
Es empfiehlt sich, die am Ende der Arbeit zusammengefassten Thesen zuerst zu lesen. Die vielschichtigen, theologiegeschichtlichen, biblischen und an Lu­ther orientierten Untersuchungen zum Kindsein als Menschsein werden mit den Thesen immer wieder auf das Grundthema der Arbeit bezogen. Bereits im Vorwort, wenn auch nur in einer Fußnote, weist die Vfn. darauf hin, dass ihr nicht an einer »Theologischen Anthropologie des Kindes« gelegen ist, wie sie auch sonst »Genetivanthropologien« ablehnt. Vielmehr geht es ihr um die theologische Rede vom Menschen in umfassender Weise, womit weder ein Vernunftideal noch ein Vollkommenheitsideal leitend für ein theologisches Menschenbild werden können. Immer wieder sucht die Vfn. ihre Überlegungen konkret in Bezug zu psychisch und/oder physisch erkrankten und behinderten Menschen, Alten und Sterbenden zu setzen – und eben in be­sonderer Weise zu Kindern. Darin liegt der integrale Ansatz, dessen Hintergrund die Diskussion um eine integrative Ethik bildet.
Auf der Suche nach Antworten, die eine theologische Anthropologie auf die Fragen nach den verschiedenen Modi des Menschseins zu geben vermag, setzt die Vfn. mit einem Überblick über die Forschungslage zur Rolle des Kindes in der theologischen Anthropo­logie des 20. Jh.s ein. Den Schwerpunkt bilden die drei zentralen anthropologischen Ansätze von Emil Brunner, Karl Barth und Wolfhart Pannenberg. Befragt werden sie insbesondere nach ihrer Behandlung des Kindes. Dass allen in je spezifischer Weise der Entwicklungsgedanke und ein Bildungsideal eignet, d. h. das Bestreben, vom Kindsein zu einer wie auch immer gearteten Reife, die dem Erwachsensein entspricht, zu gelangen, zeigt, dass hier ein Ansatz für eine integrative Anthropologie nicht zu gewinnen ist – so das Resümee der Vfn. Auch dort, wo die Unbelastetheit des Kindes, das offen für alles ist, erkannt wird (besonders Barth), bleibt letztlich das Kind auf das Defizitäre, Unreife, Unvollkommene festgelegt, das im Wachsen zu überwinden ist. Insbesondere bei Barth, der in seinen Ausführungen zur Kindertaufe das Kindsein im Verhältnis zum Glaubenkönnen in den Blick nimmt, arbeitet die Vfn. das Problem einer latent und explizit vorhandenen Vorstellung vom Glauben als kognitiver Leistung heraus. Ob hier allerdings nicht die engagierte Diskussion der Vfn. seitens der grundlegenden Anthropologie Barths her angefragt werden müsste, die durchgängig das Unvermögen der Erkennbarkeit Gottes durch den Menschen betont, sollte bei der sonst treffend herausgearbeiteten Argumentation doch noch einmal bedacht werden.
Hinter den zentralen Entwürfen verschwindet die Rolle des Kindes in den Werken Bonhoeffers. Auch wenn die Vfn. ihn im Aufriss ihrer Arbeit theologiegeschichtlich richtig nach der Darstellung Brunners einordnet, hätte die Bedeutung, die von ihr hier entdeckt wird, einen systematisch zentraleren Ort verdient. Hier findet die Vfn., in akribischer Spurensuche durch die z. T. nur fragmentarischen Äußerungen Bonhoeffers, Ansätze, die eine eigenständige Wahrnehmung des Kindes im Kontext der Wesensbestimmung des Menschseins zulassen und auf die theologische Bedeutung des Kindes im Rahmen der Rechtfertigungslehre aufmerksam machen.
Nach diesem forschungsgeschichtlichen Teil, in welchem die Vfn. insgesamt zu dem Ergebnis gelangt, dass eine theologische An­thropologie in integrativer Perspektive bisher nicht geleistet wurde, setzt sie ihre Anregungen zum Thema mit einer biblisch-theologischen Studie fort, die den Grundlinien der Stellung des Kindes im Alten und Neuen Testament folgt. Die exegetisch durchdachte, an Wortfeldanalysen orientierte und theologisch fundierte Interpretation der verschiedenen Aspekte des biblischen Blicks auf das Kind gelangt zu einem differenzierten Bild sowohl in der Wahrnehmung kindlichen Verhaltens als auch in der Interpretation des Kindseins im Bezug auf die Beziehung Gottes zu den Menschen.
Die exemplarischen Kindergeschichten des Alten Testaments zeigen die spezifische Zuwendung Gottes zu Kindern, wie sie auch in Psalmen und im Elterngebot zum Ausdruck kommt. Neutestamentlich geht es um vorbildliche Nähe zur Gottesherrschaft, die besonders in der synoptischen Tradition deutlich wird. Wesentlich, auch für die Argumentation der Vfn., ist die Unterscheidung von »kindlich« und »kindisch«. In der Analyse der neutestamentlichen Texte kommt es der Vfn. darauf an, drei wesentliche Zugänge zum Verständnis des Kindes zu unterscheiden. Sie betreffen die dort zu findende Betonung der Würde des Kindes in der Akzeptanz seines Kindlichseins, die nicht allein Kinder betreffende Kritik am Kindischsein und die Spannung dieser beiden Di­mensionen, die das Wesen des Menschen in seiner Beziehung zu Gott und seinem Verhalten in der Welt zum Ausdruck bringt – eine Spannung, die vor allem die paulinische Briefliteratur verdeutlicht. Die Vermutung der Vfn., dass theologisch diese Spannung nicht weiter durchdacht worden ist, sondern eine Tendenz zur Wahrnehmung des Kindischen als einem abzulegenden und zu überwindenden Verhalten und damit eine Diskreditierung des Kindseins überhand genommen hat, sieht sich durch die Analyse bestätigt.
In ihrer luziden Textanalyse gelangt die Vfn. auch zu überraschenden Einsichten, die vor allem dadurch gelingen, dass sie gelegentlich einfach auf den alltäglichen Umgang mit Kindern hinweist, der oft nicht spektakulär sein mag, aber dort, wo er aus­geblendet wird, we­sentliche Erkenntnisse zum Kind als eigen­ständigem Menschen verstellt, so z. B. zur Macht des Kindes, das durch Lächeln oder Schreien Erwachsene in den Bann zieht.
Einen eigenen Schwerpunkt dieser Arbeit bildet die Aufnahme und Interpretation von Luthers Lehre von der fides infantium. Zwar hat die Forschung inzwischen durchaus erkannt, dass diese Lehre nicht eine Marginalie in Luthers Theologie darstellt – diese Erkenntnis hat sich allerdings, insbesondere für eine theologische Anthropologie, noch nicht in gebührender Weise durchgesetzt. Die Vfn. hilft dieser Erkenntnis durch Einblicke in Luthers Glaubensverständnis und seinem Verständnis der Kindertaufe auf, wobei die Spannung in der Relevanz des Glaubens für die Taufe nicht übersehen wird. Zentral aber ist Luthers Verständnis des Menschen vor Gott. Der Mensch coram Deo ist immer ein Werdender, nie ein Seiender. Hier könnten auch wieder Bezüge zu Barths Anthropologie hergestellt werden, die über den Vergleich des Taufverständnisses hinausführen würden.
Eine scheinbare, dem Lutherdeutsch geschuldete Ungenauigkeit in der Schreibweise, die vom »Fodern« des Glaubens redet, wird von der Vfn. in einsichtiger Weise in der doppelten Perspektive des Forderns und Förderns ausgelegt, womit sie – im Zusammenhang mit der theologischen Argumentation Luthers – die exemplarische Bedeutung des Kindes für das Verständnis der Rechtfertigung aus Glauben deutlich machen kann.
Die abschließenden Thesen, die zum einen das Dargestellte resümieren, zum anderen Perspektiven einer integrativen theologischen Anthropologie öffnen, konzentrieren sich auf die bedingungslose Würde des Menschseins, die allen Modi des Menschseins gilt und keineswegs rationale oder intellektuelle Fähigkeiten zum Leitbild erhebt. Für dieses, von Gottes bedingungsloser Zuwendung getragene, ganzheitliche Menschenbild steht das Kind mit seiner eigenen Würde und Größe vor Gott Pate. Dem biblischen Befund folgend repräsentiert – so die Schlussthese der Vfn. – das Kind das neue Sein des Menschen als Sein in Christus.
Die Vfn. macht mit ihrer Arbeit auf eine wenig beachtete Problemkonstellation innerhalb theologischer Anthropologie aufmerksam. Theologischer Anthropologie kann es nicht allein um allgemeine und ontologische Aussagen über den Menschen gehen. Sie hat – getragen von den biblischen Erzählungen – den konkreten Menschen in seinen vielfältigen Relationen in den Blick zu nehmen. Damit ist der Mensch sowohl in verschiedenen Phasen seines Lebens als auch in seinen verschiedenen Fähigkeiten wahrzunehmen. Von hier aus, nicht von einem Idealbild her, ist theologisch verantwortet vom Menschen zu reden. Wem an einer Anleitung zu einer solch theologisch verantworteten Rede vom Menschen gelegen ist, dem ist diese Arbeit zu empfehlen. Sie wird in der Diskussion um theologische Anthropologie in kritischer Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Argumenten unbedingt zu beachten sein.