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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1103–1105

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dienstag, Joshua Foa

Titel/Untertitel:

Pessimism. Philosophy, Ethic, Spirit.

Verlag:

Prince­ton-Oxford: Princeton University Press 2006. XIX, 293 S. gr.8°. Lw. EUR 36,99. ISBN 978-0-691-12552-7.

Rezensent:

Jochen B. Schmidt

Joshua Foa Dienstag, Professor der Politikwissenschaft an der University of California, Los Angeles, hatte sich bereits in seiner Studie »Dancing in Chains. Narrative and Memory in Political Theory« (1997) mit der Zeitlichkeit menschlichen Daseins – dort primär im Horizont von politischer Theorie – auseinandergesetzt. Sein 2006 erschienenes Werk »Pessimism. Philosophy – Ethic – Spirit« stellt nun jene negative Zeiterfahrung, die sich im Phänomen des Pessimismus äußert, in den Vordergrund einer ideengeschichtlich und philosophisch-ethisch (im Sinne einer Ethik als Theorie der ars vivendi, vgl. XI.111.141.205.268 u. a.) verfahrenden Analyse, welche zeigen soll: Der »pessimistic spirit« (265) ist keine Disposition des Gemüts (4.17.33.116.265), sondern eine philosophische Haltung, die einer reflektierten Wahrnehmung von Zeitlichkeit entspringt und zur konstruktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen befähigt.
Auf eine Exposition des Themas, in der die Entstehung des linearen Zeitbewusstseins als kulturgeschichtliche Bedingung der Möglichkeit des Aufkommens von Pessimismus dargestellt wird (3–45), folgt eine Typologie von kulturellem (Rousseau und Leopardi, 49–83), metaphysischem (Schopenhauer und Freud, 84–117) und existentiellem (Camus, Unamuno und Cioran, 118–158) Pessimis­mus. Die D.s Ansicht nach konstruktiven Valenzen des Pessimis­mus, welche im Rahmen dieser Analysen bereits Gestalt gewinnen, werden insbesondere im Gespräch mit Nietzsche (161–200) und Cervantes (201–225) entwickelt; die beiden abschließenden Kapitel des Buches, im Stil nun eher meditativ denn analytisch, stellen Erwägungen zur Sinnhaftigkeit des Pessimismus für die Gestaltung individuellen Lebens in der Gesellschaft an (226–264).
D. gibt eine differenzierte Rechenschaft sowohl über die Auswahl seiner Gesprächspartner als auch über die Methode und das Ziel seiner Studie ab. Angestrebt wird keine erschöpfende Ge­schichte des Pessimismus, sondern eine Provokation von etablierten Beurteilungen desselben vermittels exemplarischer Lektüren (156). Die Vorgehensweise ist induktiv und synthetisch, hingegen nicht deduktiv oder analytisch (45); D. räumt ein, dass seine Interpretationen der ausgewählten Philosophen und Literaten aus der Perspektive der jeweiligen Spezialisten weiterer Differenzierung bedürftig sind (ebd.).
Während die Konzentration auf Rousseau, Leopardi, Schopenhauer und Nietzsche sinnvoll erscheint (und das weitgehende Fehlen Kierkegaards m. E. zu verschmerzen ist), verwundert es doch, dass Theodor W. Adorno (5.18.29.41.227 f.) und besonders Walter Benjamin (6) nur en passant Erwähnung finden, zumal die Analyse von Denkern aus dem 20. Jh. m. E. auch nicht dieselbe Zugkraft entwickelt wie jene von Denkern aus dem 19. Jh.
Das Phänomen des Pessimismus wird mit großer Differenziertheit und Ausgewogenheit beschrieben. Pessimismus ist nicht zu verwechseln mit der Auffassung, dass ›alles schlechter wird‹, sondern wird von der ›Einsicht‹ angestoßen, dass Verbesserung nicht zu erwarten steht (XI.18), genauer: dass die Kosten des Fortschritts von den durch ihn gezeitigten Verbesserungen (möglicherweise) nicht aufgewogen werden (25). Pessimismus zieht nicht zwingenderweise Resignation (19.40) oder Lähmung (75) nach sich, sondern kann zu einer Stärkung (»[self-]fortification«, XIII.4.106.113.116.224. 267 u. a.) des Menschen führen, wenn, so D. in Abgrenzung von der Haltung des Optimismus, unerfüllbare Erwartungen an die Zukunft aufgegeben und die so frei werdenden Kapazitäten in den Dienst gegenwärtiger Weltbewältigung gestellt werden. Die Polarität von Resignation/Selbstverneinung/Rückzug aus der Welt auf der einen und Spontaneität/Stärkung des Selbst/Partizipation an der Welt auf der anderen Seite ist die Achse der verschiedenen Interpretationsgänge: Schopenhauer, Rousseau fallen eher dem Denken der Resignation zu, Leopardi, Unamuno, Nietzsche, Freud und Camus eher dem Denken der Spontaneität (vgl. vor allem 36 ff.; D. unterschlägt dabei nicht die bleibenden Unterschiede zwischen den Autoren, die jeweils einer der beiden Gruppen zugeordnet werden; insbesondere Cioran widersetzt sich einer solchen Zuordnung). Der konstruktive Pessimismus besteht in einer Affirmation der im Optimismus implizit abgewerteten (41, vgl. 220) jeweiligen Gegenwart: Pessimismus ist die Demokratie von ›Momenten‹ (»the democracy of moments«, 41.248.268). Der Plural (»moments«) be­wahrt D. vor einer Ontologisierung des Augenblicks: Die ›Momente‹ gelten D. nicht etwa als über den Fluss der Zeit erhabene Größe, als Ewigkeit im Augenblick (vgl. [mit Bezug auf Cioran] 140), sondern als das Land, auf das der Mensch gleichsam gespült wird, nachdem seine Zukunftserwartungen Schiffbruch erlitten haben: »The present then is the island on which we are stranded.« (136)
Cervantes’ Roman Don Quichotte, in dem die konstruktive Dimension des Gewahrwerdens der Begrenzungen unseres Handlungsspielraumes thematisch wird (205), vor allem aber Nietzsches Pessimismus der Stärke (180 ff.) gelten als Paradigmen einer solchen affirmativen, jedoch nicht ungebrochenen Hingabe an das je Ge­genwärtige (44). Pessimistische Philosophie (4) ist also eine Explikation der Erfahrung: »Time is a burden« (19 ff.51 ff.125 u. a.), die da­rauf zielt, gleichsam in der Bewegung einer Schubumkehr die befreienden Kräfte einer solchen Erfahrung zum Tragen kommen zu lassen: »Pessimism, then, is a terror that liberates« (178); »Pes­simism liberates us to the accidents of our lives« (247; vgl. 76.148. 178ff.259).
D.s Polemik gegen eine derogative (»term of political and intellectual abuse«, IX.16), ich würde hinzufügen: stigmatisierende, Re­de vom Pessimismus scheint mir überzeugend und verdienstvoll zu sein. Die behutsam abwägende Analyse von exponierten Äußerungsformen der Erfahrung existentieller Negativität könnte z. B. dazu beitragen, dass die Ethik zu einer differenzierteren Wahrnehmung von (literarischen und philosophischen) Diskursen über den Suizid (vgl. 36 f.78 f.102 f.128.137 ff.249) gelangt. D.s Andeutungen in dieser Richtung stehen keinesfalls im Dienst eines Plädoyers für den »Freitod« – Billigung und Missbilligung sind nicht die Kate­gorien, in denen hier geredet wird. Dem apostrophierten »Pessimismus der Stärke« entspricht vielmehr die Kunde einer Lebensführung des Nicht-Suizids (mit Rekurs auf Cioran, vgl. 138 f.) im Angesicht einer irreduzibel abgründigen Welterfahrung. D.s Pessimismus zielt auf eine Affirmation, die dialektisch aus Nicht-Affirmation geboren wird. (Hier könnte sich ein fruchtbarer Dialog mit der theologischen Polarität oder Sequenz [?] Klage – Lob anschließen.) Diesem zuletzt angedeuteten, im Dienst einer Apologetik des Pessimismus stehenden Gedanken einer Dialektik von Negativität und Positivität, kraft derer der Pessimismus eine konstruktive Wirkung entfaltet, kann allerdings letztlich nur folgen, wer sich Nietzsches Philosophie (in D.s Deutung) uneingeschränkt zu Eigen zu machen vermag. Indes, auch wenn der Leser D. an dieser Stelle die Gefolgschaft verweigern sollte, bleibt es doch dabei: »Pessimism. Philosophy – Ethic – Spirit« ist ein erhellendes, orientierendes und inspirierendes Werk.