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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1089–1091

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Burger, Christoph

Titel/Untertitel:

Marias Lied in Luthers Deutung. Der Kommentar zum Magnifikat (Lk 1, 46b–55) aus den Jahren 1520/21.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. X, 209 S. 8° = Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe, 34. Geb. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-149066-8.

Rezensent:

Volker Leppin

Der Amsterdamer Kirchenhistoriker Christoph Burger legt mit diesem Buch einen durchgehenden Kommentar zu Luthers Magnifikat-Auslegung vor. Durch seine feingliedrige Analyse erscheint diese Schrift als ein zentraler Text zum Verständnis der Umformung spätmittelalterlicher zu reformatorischer Frömmigkeit.
Dass und warum eine solche Schrift durch einen Kommentar zu erschließen ist, macht B. in der Einleitung deutlich, die den Ab­stand zwischen dem modernen Leser nach der Aufklärung und dem frühneuzeitlichen Autor und seinen Rezipienten hervorhebt. B. bezieht sich dabei nicht allein auf die hermeneutischen Grundsätze, nach denen er Luther als »Exeget(en) der vorkritischen Phase« (1) bestimmt. Er betont beispielsweise auch die von den heutigen Vorstellungen unterschiedenen Auffassungen der Frühen Neuzeit von Empfängnis und Geburt, die es für Luther möglich machen, Maria als »Werkstatt Gottes« zu verstehen (5 f.). Vor allem aber dient die Einleitung dazu, das Genus der Schrift deutlich zu machen: B. ordnet sie als eine Erbauungsschrift ein, wirbt aber zugleich dafür, diese Einordnung nicht pejorativ zu verstehen, sondern in ihr eine Form von Theologie zu sehen, in der gerade Luther eine genuine »Transformation« (12) seiner wissenschaftlichen theologischen Er­kenntnisse in eine den Laien zugängliche Gestalt vornahm. – Daneben gibt es, nahegelegt vom Widmungsschreiben an Jo­hann Fried­rich von Sachsen und von dem an ihn gerichteten Schlusswort sowie auch von den ausführlichen Darlegungen zum Obrigkeitsverständnis, eine Einordnung im Sinne eines Fürstenspiegels (10. 18 4f.), die freilich für B.s Gesamtdeutung weniger tragend ist.
B. arbeitet minutiös und sensibel den Gehalt von Luthers Deutung heraus, gibt allerdings auch zu erkennen, dass er ihm nicht alles durchgehen lässt: Er beklagt die Fülle der Exkurse, die den Aufbau der Schrift unübersichtlich machen (14) oder stellt auch einmal lapidar über den Versuch Luthers, die Werke Gottes nach Jer 9,23 f. »der Reihe nach in guter Ordnung darzustellen«, fest: »Doch das gelingt ihm nicht« (112). Immer wieder widmen sich Randbemerkungen auch Charakteristika Luthers: Seine mangelnde Bereitschaft, andere Deutungen zu akzeptieren, wird benannt (148) oder auch sein Versuch, den Text zur Entfaltung seiner ohnehin gewonnenen Position zu nutzen: »Obwohl der Text keinen Anlaß bietet, findet Luther es sinnvoll, einmal mehr seine Sicht der Funktion des Gesetzes zu erläutern« (170).
Dies sind Markierungen einer methodischen Distanz zum Ge­genstand, denen nicht entgegensteht, dass B. Luther und seinen Intentionen so nah wie möglich zu kommen sucht, ohne dabei in eine vorschnelle Identifikation zu verfallen. In der mehrfach referentiellen Situation, selbst eine Auslegung in einem Kommentar auszulegen, macht B. immer deutlich, ob er spricht oder Luther. Diese sprachliche Kontrolliertheit hat auch damit zu tun, dass B. nicht den Anspruch erhebt, einen umfassenden Luther zu präsentieren. Vielmehr trägt er gerade dadurch zur präzisen Erfassung des Reformators bei, dass er ihn konkret in einer bestimmten Entwick­lungsstufe erfasst. Dezidiert grenzt er sich von Versuchen ab, Aussagen des Magnifikat durch spätere Aussagen Luthers zu interpretieren und so ihren Charakter als »ungeschütztere frühere Thesen« zu relativieren (29 f.).
Schon auf den ersten Seiten des Kommentars macht B. deutlich, dass Luthers Magnifikat-Auslegung vor allem im Sinne einer Verweisstruktur von Maria auf Gott zu lesen ist: In seiner Vorrede legt Luther dar, was durch Maria alles über Gott zu lernen ist. Diesem Anliegen dient, wie B. in einem schönen Vergleich mit mittelalterlichen Tendenzen, die Hoheit Mariens zu unterstreichen, illus­triert, auch die Darstellung der sozialen Situation Marias (37 f.) – obwohl oder gerade weil für Luthers Verständnis von Niedrigkeit nicht die soziale Dimension entscheidend ist, sondern die theologische (147).
Wie komplex die frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergründe dieser Betonung des Wirkens Gottes am Menschen sind, zeigt B. an verschiedenen Stellen. So setzt Luther sich aus rechtfertigungstheologischen Erwägungen heraus (68 f.) von einem Verständnis von humilitas im Sinne einer von Menschen herbeizuführenden De­mut ab und unterstreicht diese Auffassung durch Verweis auf den griechischen Urtext (61; vgl. 182–184 – beide Stellen sind leider in dem ansonsten vorzüglichen, fein differenzierten Register nicht unter »humilitas« zu finden). Diese theologische Neuorientierung steht aber in einem Zusammenhang mit anderen Bereichen der Anknüpfung an spätmittelalterliche Frömmigkeit. Erhellend zeigt B. dies an der Auslegung von Lk 1,46b: »Meine Seele erhebt den Herren«. Dieser Satz wird zu Recht ebenso auf die Aussagen über den Glauben im »Sermon von den guten Werken« von 1520 bezogen wie auf mystische Frömmigkeitsformen (40 f.). B. unterstreicht damit eindrücklich die derzeit in der Forschung vielfach thematisierte Entdeckung mystischer Spuren im Werk Luthers – auch die von B. angesprochene Hervorhebung Maria Magdalenas (91) ist möglicherweise vor diesem Hintergrund zu sehen. Zugleich zeichnet B. subtil die Transformation mystischer Spiritualität durch Luther nach, auf deren Fortschreiten durch Auseinandersetzung mit den »Schwärmern« er gelegentlich vorausweist (30).
Der Luther von 1520/21, den B. hier zeichnet, ist ein Luther, dessen Spiritualität ihre Kraft gerade daraus gewinnt, dass sie sich noch im Werden befindet. So reicht die Bedeutung dieses gründlichen Kommentars weit über die einzelne Schrift hinaus, der er gewidmet ist. Entstanden ist ein Beitrag zur Entwicklung Luthers, der diese den einfachen Kategorien »noch mittelalterlich« oder »schon reformatorisch« entzieht und gerade dadurch den Eigencharakter von Luthers geistlicher Erbauung erschließt.