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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1071 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Yeo, Khiok-khng [Ed.]

Titel/Untertitel:

Navigating Romans Through Cul­tures. Challenging Readings by Charting a New Course.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2004. VI, 326 S. gr.8° = Romans Through History and Cultures Series. Kart. £ 25,00. ISBN 0-567-02501-2.

Rezensent:

Christian Strecker

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Cosgrove, Charles H., Weiss, Herold, and Khiok-khng Yeo: Cross-Cultural Paul. Journeys to Others, Journeys to Our­selves. Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2005. VII, 293 S. gr.8°. Kart. US$ 25,00. ISBN 0-8028-2843-4.


Die landläufig unter dem Schlagwort cultural turn verhandelte kulturalistische Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften (vgl. dazu D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006) geht bekanntlich mit dem Abschied von den großen westlichen »Meis­ter­erzählungen« und dem objektivistischen Paradigma jenes vermeintlich neutralen wissenschaftlichen Beobachters einher, der das gesamte Terrain der Forschung gleichsam aus der Adlerperspektive unbeteiligt überblickt und in seinen Arbeiten adäquat zu repräsentieren weiß. Die beiden angezeigten Publikationen lassen sich dieser kulturalistischen Wende insofern zuordnen, als sie voraussetzen, dass auch der historisch-kritische Zugriff auf das Gewesene in der biblischen Exegese maßgeblich kulturgeprägt ist. Vor diesem Hintergrund öffnen sie sich bewusst für unterschiedliche kulturelle Perspektiven und Zugriffe speziell auf die paulinische Theologie bzw. den Römerbrief. Diese Fokussierung auf Paulus wird mit dessen Rolle als Apostel der Völker begründet sowie mit seiner missionarischen Strategie »allen alles« zu werden (1Kor 9, 19–23), die ein bewusstes Überschreiten kultureller Grenzen einschließt. Im übertragenen Sinn das Projekt der Missionsreisen (vgl. die Reisemetaphorik im Titel bzw. Untertitel: »Navigating«, »Journeys«) aufgreifend und ausweitend gehen die beiden Bücher den Reaktionen und Antworten »der Völker« der modernen Welt auf das paulinische Evangelium respektive den diversen Inkulturationen desselben in unterschiedlichen ethnischen und kulturellen Kontexten nach. Daneben wollen sie den Blick für den kulturellen Hintergrund der paulinischen Mission, die damals bestehenden kulturellen Differenzen und die kulturellen Unterschiede zwischen Damals und Heute schärfen.
In dem Gemeinschaftswerk »Cross-Cultural Paul« blicken die drei Autoren aus sechs verschiedenen kulturellen Perspektiven auf Paulus. Vorab legen sie in der Einleitung ihre eigenen ethnischen Wurzeln und soziokulturellen Prägungen in Form ausführlicher biographischer Essays offen (9–31). Auf dieser Grundlage beleuchten sie in den ersten drei Kapiteln Paulus aus dem Blick­winkel ihrer eigenen Kultur: Herold Weiss beschreibt drei kulturelle Marker der Region um den Rio de la Plata, nämlich Fatalismus, die Situierung von Caudillos und Vivos über dem Gesetz sowie die fortwährende Präsenz des Todes, und konfrontiert sie mit der Gerechtigkeitsverständnis, dem Gemeinschaftsideal und der Bedeutung des Todes in den Protopaulinen. In einem anregenden Beitrag vergleicht Charles Cosgrove zentrale Werte des nordamerikanischen Individualismus (Selbstvertrauen, Menschenrechte, Freiheit so­wie Glücksstreben und persönliche Selbstverwirklichung als Lebenszweck) kritisch mit Kerngedanken des paulinischen Evangeliums. K. K. Yeo bietet eine chinesische Lesart der paulinischen Theologie und Ethik, die er den westlichen Deutungen gleichberechtigt zur Seite gestellt wissen will. Er korreliert paulinische Texte mit chinesischer Kosmologie (vor allem der dialektischen Beziehung von dao und de sowie Tian als transzendentem und immanentem Prinzip) und konfuzianischer Ethik (vor allem den kardinalen Tugenden ren und li), um am Ende die chinesische Ahnenverehrung von Paulus her zu hinterfragen. In den letzten drei Kapiteln versuchen die Autoren, den Apostel jeweils in einen Dialog mit einer ihnen selbst fremden Kultur zu bringen, wobei Cos­grove das komplexe politische Selbstverständnis von Afroamerikanern, Yeo das Naturverständnis indigener Völker Nordamerikas und Weiss die Mystik und Askese der russischen Orthodoxie vor 1917 heranzieht. In der Schlussbetrachtung werden wichtige Themen und Ergebnisse der voranstehenden Untersuchungen gebündelt und hermeneutische Fragen reflektiert.
Der von K. K. Yeo herausgegebene Sammelband »Navigating Romans Through Cultures« enthält Beiträge, die 2001–2002 auf den SBL-Treffen in der von Daniel Patte und Cristina Grenholm geleiteten Seminargruppe »Romans Through History and Culture« vorgetragen wurden. Das Buch gliedert sich in drei Teile, die jeweils bestimmten Erdteilen gewidmet sind. Im ersten Teil über Europa und Afrika postuliert Florin T. Cimpean als rumänischer Pentekos­taler einen chiastischen Aufbau des Römerbriefes mit Kapitel 8 als Zentrum. Jonathan A. Draper behandelt dann die Römerbriefauslegung des im 19. Jh. in Natal wirkenden anglikanischen Bischofs John William Colenso, der die im Brief thematisierte Beziehung zwischen Juden und Griechen aktualisierend auf die zwischen englischen Kolonialisten und dem Volk der Zulu übertrug. Im zweiten Teil geht es um Latein- und Nordamerika. Mark D. Baker und J. Ross Wagner zeigen, wie Gläubige einer honduranischen Kirche angesichts der Zerstörungen durch den Hurrikan Mitch das paulinische Konzept der Gerechtigkeit Gottes für sich deuten und aneignen. Juan Esarfullar setzt sich vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrung kulturell-religiöser Hybridität als Latino-Theologe mit drei klassischen Zugängen zu Röm 9–11 auseinander, und Monya A. Stubbs legt unter Rekurs auf das Konzept der »hidden transcripts« von James C. Scott eine anregende antiimperiale Deutung von Röm 13 vor. Im dritten Teil über Asien beschäftigt sich Daniel C. Arichea mit Problemen der Übersetzung des paulinischen Verständnisses von Ge­rechtigkeit in asiatische Sprachen, Revelation Enriquez Velunta beleuchtet das Syntagma ἐκ πίστεως εἰς πίστιν in Röm 1,17 vom philippinischen Konzept der Dankbarkeit bzw. Dankesschuld (utang na loob) her, und K. K. Yeo bietet eine konfu­zianische Lektüre von Röm 8. Allen acht Beiträgen folgen instruktive responses, u. a. von James Dunn, Elsa Tamez, Douglas Campbell oder Brian Blount. Das Buch wird gerahmt von einer Einführung des Herausgebers und einer Schluss­betrachtung von Charles Cosgrove.
Wie diese Übersicht zeigt, sind die Beiträge inhaltlich und me­thodisch disparat. Es finden sich sowohl Neuinterpretationen paulinischer Texte mittels kulturvergleichender Analysen als auch Besprechungen der Aneignung paulinischer Texte in bestimmten Kulturen, ferner missionsgeschichtliche Ausführungen. Insgesamt erfordern beide Publikationen von westlichen Exegetinnen und Exegeten die Bereitschaft, sich auch auf nichtwestliche symbolische Universen und ungewohnte Ausleuchtungen des Corpus Paulinum einzulassen. Gerade darin besteht freilich auch ihr Reiz, insofern Perspektivwechsel anregend wirken und das Bewusstsein für die eigene Standortgebundenheit sowie für westlich-akade­mische Vereinnahmungen der paulinischen Aussagen schärfen können. Inwieweit diese inter- bzw. multikulturellen Paulusdeutungen freilich für den mainstream der historisch-kritischen Forschung anschlussfähig sind, bleibt fraglich.
Dazu müsste wohl die philologische Arbeit an den antiken Texten noch vertieft werden. Aber ist ein solcher Anschluss überhaupt gewollt? Hilfreich wäre indes eine stärkere Beachtung aktueller kulturwissenschaftlicher Debatten. Wenn etwa Yeo in der Einleitung des Sammelbandes zum Römerbrief Edward Tylors klassische Kulturdefinition von 1871 als Grundlage bestimmt (4 f.), entspricht dies nicht dem gegenwärtigen Diskussionsstand. Auch die Writing-Culture-Debatte, in der die Probleme kulturellen Fremdverstehens breit diskutiert wurden (s. dazu Chr. Strecker, Das Gewesene, das Fremde und die Exegese, in: Ders. [Hrsg.], Kontexte der Schrift II, Stuttgart 2005, 127–129), hätte eine Beachtung verdient. Überhaupt werden kulturanthropologische Studien nur wenig rezipiert.
Ungeachtet dessen stellen die beiden Bände eine unkonventionelle Bereicherung der herkömmlichen Perspektiven auf Paulus dar, für die den Autorinnen und Autoren zu danken ist.