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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1067–1069

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bauckham, Richard

Titel/Untertitel:

Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2006. XIII, 538 S. m. Tab. gr.8°. Geb. US$ 32,00. ISBN 987-0-8028-3162-0.

Rezensent:

Armin D. Baum

»Die Evangelientexte stehen der Form, in der die Augenzeugen Jesu ihre Geschichten erzählten oder ihre Traditionen weitergaben, we­sentlich näher als in der gegenwärtigen Forschung weithin angenommen wird« (6). Der Stoff unserer schriftlichen Evangelien entstamme nicht einer anonymen Gemeindetradition, sondern den Berichten individueller Augen- und Ohrenzeugen. Diese hätten ihre Erzählungen nicht einfach in einen namenlosen Überlieferungsprozess eingespeist und sich dann zurückgezogen, sondern seien jahrzehntelang als verlässliche Gewährsleute für die Jesus­tradition angesehen worden. Die mündlichen Varianten dieser Jesustradition hätten sich nicht stärker voneinander unterschieden als die Parallelperikopen in unseren synoptischen Evangelien (285).
Diese Gesamtthese begründet B. anknüpfend an S. Byrskog (2000: Story as History – History as Story), dessen Ansatz er, über diesen hinausgehend, anhand einer akribischen Analyse der neutestamentlichen Texte und der altkirchlichen Nachrichten exegetisch und historisch untermauern will. Auf den über 500 Seiten, die er diesem Projekt gewidmet hat, lässt B. zwar durchgängig erkennen, dass er mit der Forschungsgeschichte vertraut ist, und verweist in den Fußnoten regelmäßig auf einschlägige Sekundärliteratur, ar­beitet aber vor allem mit großer Selbständigkeit und Sorgfalt (und ohne dabei allzu technisch zu werden) an den antiken Quellentexten. Darin liegt der besondere Charme dieses Buches.
Anders als die griechisch-römischen Historiker der Antike ma­chen die neutestamentlichen Erzähler (mit Ausnahme des luka­nischen Prologs) an keiner Stelle ausdrückliche Angaben zu ihren Quellen und Gewährsleuten. Allerdings tragen einige der zumeist anonymen Nebenpersonen einen Namen. Während die anderen Blinden namenlos auftreten, heißt ein von Jesus geheilter Blinder »Bartimäus, Sohn des Timäus« (Mk 10,46). Warum stehen diese Namen in den Evangelien? B. schlägt (teilweise anknüpfend an G .Theißen) vor, dass die Namensangaben, die in einigen synop­tischen Perikopen erhalten geblieben sind, implizite Hinweise auf die Zeugen darstellen, auf die die jeweiligen Erzählungen zurück­gehen (39–66). Dies gelte für Levi, den (Sohn) des Alphäus (Mk 2,14), Jaïrus (5,22), Maria, Jakobus, Joses, Judas und Simon (6,3), Bartimä­us, Sohn des Timäus (10,46), Simon den Aussätzigen (14,3), Simon von Kyrene mit Alexander und Rufus (15,21), Joseph von Arimathia (15,43) sowie für die Frauennamen in der Passionsgeschichte (Mk 15,40.47; 16,1) und ebenso für die in Mt 1,18; Lk 1,5 ff.; 2,25; 2,36; 7,40.43.44; 8,3; 10,38–42; 19,2.5.8; 24,18; Joh 1,45; 3,1; 6,42; 11,1 ff.; 18,10; 19,25.38 genannten Namen. Am ausführlichsten werden die Apos­tel in den entsprechenden Listen namentlich vorgestellt und von Trägern des gleichen Namens unterschieden. Auch diese präzisen Namensangaben waren B. zufolge als Hinweise auf »die offiziel­len Augenzeugen und die Garanten für den Kern der Evangelientradition« gemeint (93–113, hier 108). Besonders bemerkenswert findet B. es in diesem Zusammenhang, dass im Mar­kusevangelium Simon Petrus der zuerst (Mk 1,18) und zuletzt (16,9) genannte Jünger Jesu ist. Diesen Befund deutet er als Bestätigung des Papiaszeugnisses zum petrinischen Hintergrund des zweiten Evangeliums (114–154).
Eindeutiger ist ein Vergleich aller in den Evangelien genanntern Namen mit den Namen, die für die jüdische Bevölkerung Palästinas und der Diaspora in hellenistischer Zeit belegt sind. Die von T. Ilan (2002: Lexicon of Jewish Names in Late Antiquity) zusammengetragenen Daten vergleicht B. mit den aus den neutestamentlichen Geschichtsbüchern ermittelbaren Daten (67–92). Die relative Häufigkeit jüdischer Personennamen in den schriftlichen Quellen Palästinas stimmt weitgehend mit der relativen Häufigkeit jüdischer Namen im Neuen Testament überein. Bereits ein Blick auf die fünf häufigsten jüdischen Namen macht dies deutlich: 1. Simon/Simeon (243; achtmal), 2. Joseph/Joses (218; sechsmal), 3. La­zarus/Eleazar (166; einmal), 4. Judas/Juda (164; fünfmal) und Johannes/Jochanan (122; fünfmal). Wie im Palästina der hellenistischen Zeit ist auch in den neutestamentlichen Evangelien Simon der verbreitetste Männername; der zweithäufigste ist in beiden Fällen Joseph usw. (Lediglich für den Namen Lazarus weisen die Evangelien mit nur einem Namensträger einen zu geringen Wert auf.) In der (ägyptischen) Diaspora war die Namenshäufigkeit den Angaben von W. Horbury und D. Noy zufolge eine ganz andere: 1. Eleazar, 2. Sabbataius, 3. Joseph, 4. Dositheus, 5. Pappus. Dieser von B. sorgsam herausgearbeitete Befund unterstützt die Annahme einer palästinischen Herkunft der Evangelientradition.
Im Kapitel über die Relevanz der Gedächtnisforschung der kognitiven Psychologie für die Deutung der Entstehungs- und Überlieferungsprozesse der Je­sustradition (319–357) stellt B. zu Recht fest, dass der Ertrag dieser Disziplin von Neutestamentlern bisher kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Als Ausnahmen nennt er ein Kapitel von J. D. Crossan und zwei Aufsätze anderer Autoren. Tatsächlich wurde der interdisziplinäre Zugang zu neutestamentlichen Problemen an dieser Schnittstelle über Jahrzehnte fast vollständig vernachlässigt. Über die von B. genannten Arbeiten hinaus sind in jüngerer Vergangenheit jedoch eine ganze Reihe von Einzelstudien erschienen, und es wäre wünschenswert, wenn diese Arbeiten (von J. Bradshaw, R. B. Vinson, T. A. Friedrichsen, R. McIver, R. McIver u. M. Carroll sowie J. C. Poirier) einmal im Zu­sam­menhang kritisch ausgewertet und weiterentwickelt würden.
Mit seinem Gesamtmodell für die Überlieferung der Evangelien­tradition setzt B. sich sowohl von der klassischen Formgeschichte als auch von jüngeren Alternativen ab (240–318). Die Jesusgeschichten seien weder informell (anonym) und unkontrolliert (ohne Auswendiglernen) überliefert worden, wie R. Bultmann annahm, noch anonym und kontrolliert, wie neuerdings K. Bailey und ihm folgend J. Dunn annehmen. Vielmehr sei die Jesustradition (formell) von identifizierbaren Lehrern und Schülern (kontrolliert) auswendig gelernt und relativ intakt weitergegeben worden. Mit dieser These folgt B. mit Differenzierungen dem von B. Gerhardsson und anderen skandinavischen Forschern entwickelten Ansatz. Und er begründet ihn mit Argumenten, die deutlich über das hinausgehen, was bisher vorgetragen worden ist.
Selbstverständlich befasst B. sich auch ausführlich mit den Papiaszeugnissen zur Person des Johannes (412–437) sowie zum Matthäus- und Markusevangelium. Papias habe im Markusevangelium »praktisch eine Niederschrift des Zeugnisses von Petrus« gesehen (221). Die Aussage des Papias, Petrus habe die Jesustradition πρὸς τὰς χρείας mitgeteilt, übersetzt B. im Anschluss an J. Kürzinger als rhetorischen Fachausdruck im Sinne von »nach Art der Chreiai« bzw. im Stil antiker Anekdoten (202–239, hier 214–217). Allerdings hat J. Mansfeld diese griechische Formulierung inzwischen an den rund 50 im Thesaurus Linguae Graecae (TLG) genannten Belegstellen überprüft und festgestellt, dass sie an keiner Stelle etwas anderes als »gemäß den praktischen Bedürfnissen« bedeutet (NedThT 49 [1995], 140–153). An dieser Übersetzung sollte man sicher auch im Papiaszitat zum Markusevangelium festhalten. Insgesamt handelt es sich bei der Deutung der Papiaszitate auf dem Hintergrund rhetorischer Fachterminologie wohl weitgehend um eine Überinterpretation.
Als Verfasser des Johannesevangeliums identifiziert B. mit M. Hengel den bei Papias erwähnten Presbyter Johannes, einen Schüler des Apostels Johannes, der wie der Apostel Augenzeuge des Lebens Jesu gewesen sei. Dieser Presbyter sei mit dem Lieblingsjünger zu identifizieren, der in Joh 21,24 als Verfasser des Evangeliums bezeichnet wird. Während allerdings Hengel der Meinung ist, in den Lieblingsjüngertexten sei teils der Apostel und teils der Presbyter Johannes gemeint, bezieht B. alle Lieblingsjüngertexte auf den Presbyter Johannes (358–411). Diese Annahme erscheint mir unvereinbar mit der Angabe, dass der Lieblingsjünger, von dem das Evangelium verfasst worden sein soll, sich beim letzten Abendmahl an die Brust Jesu gelehnt hat (Joh 13,23–25; 21,20–24). Oder soll man annehmen, dass dem vierten Evangelium zufolge außer dem Apostel und Zebedaiden Johannes auch der Presbyter Johannes am letzten Abendmahl teilgenommen hat? Das leuchtet mir nicht ein.
Den »philosophischen Überbau« dafür, dass er das Konzept des »Zeugnisses« in das Zentrum seiner Evangelieninterpretation rückt, formuliert B. in Anlehnung an P. Ricœur (2004: Memory, History, Forgetting [franz. 2000]): Der Jesus der Geschichte und der Christus des Glaubens finden zusammen im »Jesus of testimony«.
Trotz mancher Skepsis im Einzelnen: Es gibt wenige Bücher zu den Evangelien, die man mit dem Eindruck aus der Hand legt, in mehreren Kapiteln substantiell Neues gelernt zu haben. B.s Buch gehört in diese Kategorie.