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Ausgabe:

Oktober/2007

Spalte:

1052–1054

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Fokouo, Jean Gabriel

Titel/Untertitel:

Donner et transmettre. La discussion sur le don et la constitution des traditions religieuses et culturelles africaines.

Verlag:

Münster-Wien: LIT 2006. IV, 271 S. 8° = Studien zur Traditionstheorie. Studies in tradition theory, 8. Kart. EUR 39,90. ISBN 3-8258-9843-1.

Rezensent:

Markus Roser

Die Arbeit will die in Ethnologie, Sozialwissenschaften, Religionswissenschaften und Philosophie vor allem in Frankreich geführte Gabediskussion für die Entwicklung einer komplexen Traditionstheorie fruchtbar machen. Das geschieht durch einen Überblick über diese Diskussion seit Marcel Mauss, durch eine Auslegung der afrikanischen kulturellen und religiösen Traditionen im Licht dieser Diskussion und durch eine Skizze der Bedeutung der so ausgelegten afrikanischen kulturellen und religiösen Traditionen für den heutigen interkulturellen Dialog.
Der erste Teil von insgesamt drei Teilen ist der konstituierenden Rolle der Gabe und ihres Austausches in archaischen Gesellschaften und in der Moderne gewidmet. Der Vf. führt in die von Marcel Mauss angestoßene Gabediskussion ein, skizziert dessen Biographie (19–28), fasst die »Essais sur le don« zusammen (28–42) und stellt die Frage nach der Theoriebildung, die durch dessen Werk angestoßen wurde. Die Gabe deutet er als soziale Wirklichkeit, deren zentraler Mechanismus in der Solidarität besteht, die wiederum durch Reziprozität, Kritik des Utilitarismus und heuris­tischem Prinzip gekennzeichnet ist. Ausgehend von Mauss werden drei Aspekte entfaltet: die Gabe als soziales Phänomen, die zirkuläre Theorie der Gabe und die Spannung zwischen Verpflichtung und Freiheit (42–55). Dabei geht es um die Frage, ob in sozialen Be­zie­hungen nur wirtschaftliche und moralische Interessen verfolgt werden. Den freiwilligen Aspekt der Gabe sieht der Vf. handfesten sozialen und damit materiellen Interessen ausgeliefert. Das Individuum steht in der Spannung zwischen sozialem Determinismus und Gehorsam sozialer Wirkmechanismen einerseits, während an­dererseits das soziale Miteinander den Zusammenhalt stärkt, ohne Opfer zu fordern (51).
Auf der Grundlage von Mauss interpretiert der Vf. die moderne Gabepraxis als auf rituelle und folkloristische Funktionen reduziert, die wirtschaftliche egoistische Interessen verfolgen. Er er­kennt ihren freundschaftlichen und familiären Charakter, letztlich aber bleibt die Verpflichtung zur Gegengabe, auch wenn sie durch eine freiwillige Gabe maskiert ist. Beispiele, wie die Gabe zur Ware verkommt, sind Alltagsgeschenke an Weihnachten, Geburtstagen, Gaben an Fremde wie z. B. Spenden der Mildtätigkeit oder Organ- und Blutspenden (52–80).
Schließlich wird der Mausssche Impuls im Licht der philoso­phischen Gabediskussion gespiegelt. Der Vf. baut das komplette Panorama der philosophischen Gabediskussion von der Instrumentalisierung bis hin zur Inkompatibilität zwischen Gabe und Tausch hin auf. Sowohl die kritische Sicht der nikomachischen Ethik des Aristoteles, in der die Gabe als berechnend und kalkuliert verstanden wird, als auch Wirtschaftstheorien und sozialdarwinistische Ansätze, die ihrerseits utilitaristische und wirtschaftliche Interessen als ultima ratio der Gabe ins Feld führen, werden altruistischen Modellen von Seneca, dem Hebräerbrief, den Paulusbriefen, Boltanski und Jacques Derrida gegenübergestellt (81–104.)
Der zweite Teil entfaltet die Gabe für den religiösen und kulturellen Bereich im traditionellen Schwarzafrika. Von den traditionellen Religionen ausgehend wird der Leser in die Formen und Strukturen dieses spezifischen Gabentausches eingeführt. Der Ansatz liegt hier beim Vertrauen zum Transzendenten, der unablässigen Suche des Spirituellen und der Einheit des Lebens. Die Partizipation am Leben, das Leben selbst ist hermeneutischer Schlüssel. Den Beziehungen zu Gott, den Ahnen, den Geistern, der Natur, dem Kosmos und den Menschen der jeweiligen Gemeinschaft kommt grundlegende Be­deutung zu. Sie sind eingebunden in ein ganzheitliches Geflecht des Austausches von Gaben. Im religiösen Bereich wird dies durch Opfer, rituelle Gaben und Gebete deutlich. Gabe und Tausch gehören zur Identität der traditionellen afrikanischen Religionen. Da Reichtum grundsätzlich geteilt wird, kommt der Gabe und dem Tausch in den sozialen und politischen Struk­turen, in der Öffentlichkeit, in den Verwandtschafts- und Familienbeziehungen sowie bei den lebenszyklischen Eckpunkten wie Geburt, Namensgebung, Initiation, Heirat und Tod zentrale Be­deutung zu. Das Geschenk des Lebens, seine Annahme und Weitergabe ist hermeneutischer Schlüssel für die afrikanischen Religionen und Kulturen (105–210).
Der dritte Teil ist Schlüssel und raison d’être der ganzen Arbeit. Die traditionellen schwarzafrikanischen Werte werden der westlichen Moderne gegenübergestellt. In einem historischen Rück­blick lässt der Vf. die ambivalente Begegnung der Kulturen aufleuchten: Demütigung und Ausbeutung durch Sklavenhandel, Kolonialzeit und Neokolonialismus. Im Widerstand des traditionellen Afrika kristallisierten sich schwarzafrikanische Werte und Konstanten als überlebensfähig heraus, die ihrerseits zur Konstruktion eines interkulturellen Dialoges beitragen können. Als solche werden das philosophische und ethische Konzept des Lebens und die Lebenskraft als force vital genannt. In diesen Zusammenhang stellt der Vf. auch Solidarität und vitale Partizipation. Er ist davon überzeugt, dass auf der Basis der afrikanischen Werte über das Leben, die Familie, die Gastfreundschaft, den Sinn des Heiligen, die Erziehung und Weitergabe des Wissens eine neue Gabentheorie als Geben – Nehmen – Weitergeben entfaltet werden kann, die so­wohl in den afrikanischen Traditionen und Anschauungen über das Leben wurzelt als auch in die Zukunft gerichtet ist (201–256).
Im Schlusswort geht es dem Vf. darum, dass in einem interkulturellen Dialog dieser afrikanische Humanismus zur Gestaltung einer humaneren Welt beiträgt und an Stelle der ökonomischen und utilitaristischen Instrumentalisierung der Gabe ganzheitliches soziales Geben und Nehmen geübt wird und der Individualismus durch eine ganzheitliche Position korrigiert, der homo oeconomicus durch einen homo donator abgelöst wird.
Sollte die auf Französisch geschriebene Arbeit nicht ins Deutsche übersetzt werden, wird sie nur einen geringen Beitrag leisten können, die Gabediskussion der deutschen Leserschaft zugänglich zu machen. Von einigen Adiaphora abgesehen, wie z. B. die unkorrekte Zuordnung des Gbayavolkes zur Bantugruppe (183) oder unterlassene Angaben der Jahreszahlen in Fußnoten (445) und im Literaturverzeichnis oder der table des matières am Anfang und nicht am Schluss, leistet die Arbeit einen interessanten und zu­gleich wichtigen Beitrag zum interkulturellen Dialog und interkulturellen Lernen. Diesbezüglich wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Vf. den ersten Teil über die Theoriebildung und den ausführlichen und detaillierten ethnologischen Teil über Gabe und Gabentausch im Rahmen der lebenszyklischen Riten dichter formuliert und der Diskussion im dritten Teil mehr Raum gegeben hätte. Der Leser kann sich des Eindruckes im Schlussteil nicht er­wehren, dass der Vf. die traditionelle afrikanische Kultur gegen­über der westlichen Moderne idealisiert. Die Frage bzw. Gegenthese bleibt, ob letztlich nicht beide Systeme dem Utilitarismus und dem reziproken Leistungsdenken in gleicher Weise verhaftet bleiben. Interessant wäre es in diesem Zusammenhang gewesen, wenn dieser Fakt mit einem radikalen Gegenentwurf aus dem religiösen Be­reich, z. B. dem Gedanken der Rechtfertigung allein aus Gnaden im Römerbrief, oder der protestantischen Theologie kontrastiert und ausführlich diskutiert worden wäre.