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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

1027 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Szagun, Anna-Katharina

Titel/Untertitel:

Dem Sprachlosen Sprache verleihen. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen.

Verlag:

Jena: IKS Garamond (Edition Paideia) 2006. 374 S. u. Beiheft m. Abb. 8° = Kinder Erleben Theologie, 1. Geb. EUR 28,90. ISBN 3-938203-36-6.

Rezensent:

Günter R. Schmidt

Anna-Katharina Szagun will »individuelle Bildungsverläufe – speziell fokussiert auf ihr Gottesverständnis und ihre Gottesbeziehung« (43) – nachzeichnen. Dabei bezieht sie Kinder unterschiedlicher religiöser Herkunft ein, deren Gemeinsamkeit allerdings darin besteht, dass sie »in einem mehrheitlich konfessionslosen Umfeld« groß werden. Im Vordergrund stehen acht Individuen, deren Entwicklung über mehrere Jahre hinweg verfolgt und sorgfältig dokumentiert wird. Sekundär fragt sie sich, ob durch Vergleich auch »überindividuelle Zusammenhänge, allgemeine Strukturen« wahrzunehmen sind. Weiterhin will sie zur didaktischen Wirkungsforschung beitragen, indem sie erhebt, wie bestimmte unterrichtliche »Thematisierungen von Kindern aufgenommen und weiter verarbeitet wurden«. »Das Erkenntnisinteresse zielt letztlich auf eine Verbesserung der Praxis« (44), d. h. auf Anstöße für eine »Theologie mit Kindern« und eine »Theologie für Kinder«, die auch für ein religionspädagogisches Konzept fruchtbar werden können.
S. stellt die Reichweite von »Stufentheorien zur religiösen Entwicklung« in Frage, weil sie »auf Untersuchungen in christlichen Kontexten« fußen. Zudem haben die verwendeten Gesprächsleitfäden Erwachsene im Blick. Die Erhebungsmethoden sind nicht kindgemäß. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklungsforschung sind Langzeitstudien. S.s Datenmaterial wurde ab 1999 und 2000 an »50–60 Kindern im Alter von 6–17 Jahren, die 4–7 Jahre begleitet wurden«, gewonnen. Bei ihren Untersuchungen orientiert sich S. an Kriterien der heuristischen Methodologie (Kleining 1995): »Offenheit der Forschungsperson« und »des Forschungsgegenstandes«, »Variation der Perspektiven«, »Analyse auf Gemeinsamkeiten« (45). Durch »Visualisierungen« und »Persönliche Ge­spräche« sollen die affektive und die kognitive Seite von Gottes­vorstellung und -beziehung der Probanden beleuchtet werden. Visualisiert wird in Form von Materialcollagen (Knetmasse, Ton, Steine, Zweige, Früchte, Blüten, Papp- und Plastikabfälle, Stoffreste und dergleichen) und Zeichnungen zu »Metaphern für Gott«, zur »Lebenswelt« und zum Selbst sowie zu einzelnen Unterrichtseinheiten.
Den Kindern wird etwa folgende Aufgabe gestellt: »Gestalte aus den bereitliegenden Materialien den Vergleich für Gott, der dir heute Morgen am wichtigsten ist: GOTT IST FÜR MICH WIE … Bleibe dabei ganz bei dir! Lass deine Einfälle kommen – es gibt kein FALSCH oder RICHTIG – beim Beginn des Bauens musst du noch gar nicht wissen, was das schließlich wird.« (68) In den Gesprächen wird das Kind angeregt, seine Gestaltungen zu deuten. Die Interviewerin bietet ihm zwar sprachliche und interpretatorische Hilfen an, vermeidet aber jede inhaltliche Einflussnahme. Durch die Gespräche macht sich das Kind seine Einstellungen nicht nur sprachlich bewusst, sondern entwickelt sie auch weiter. Die Interviewerin regt es durch Fragen zur Erweiterung seines Horizontes an. »Fragebögen zu Gebetskonzept und -praxis«, »zur Kommunikation von/über religiöse(n) Themen«, »zu Wesen/Eigenschaften Gottes« sowie psychologische Tests ergänzen das skizzierte Vorgehen. Die anfallenden Daten werden von S. sorgfältig aufbereitet, dann von einem Forschungsteam in mehreren Schritten ausgewertet: Interpretation der Visualisierungen, Information zum Kind, Hinzunahme sämtlicher Textdokumente, Dokumentation der Kommunikation im Team, »Rekonstruktion des Entwicklungsverlaufs des Kindes«.
Den größten Raum nehmen in dem Buch die acht Einzelfallstudien ein (248 von 374 Seiten). Zu jedem der acht Kinder macht S. Angaben über Herkunft, familiäre und wirtschaftliche Situation, Konfession, und geistigen Entwicklungsstand, besonders Sprachfähigkeit. Sie folgt jedem Kind durch mehrere Schuljahre hindurch und bietet für einzelne Teststationen Ergebnisse zu »Gottesmeta­pher«, »Lebenswelt«, »Lebensmetapher«, »Positionierung zu einem Gottessymbol«, Selbst- und Fremdwahrnehmung u. a. in Form wörtlicher Äußerungen der Kinder und eigener Zusammenfassungen. Die von den Kindern produzierten »Visualisierungen« sind teilweise in einem Beiheft wiedergegeben und zahlreicher unter www.ket.garamond-verlag.de einsehbar. S. interpretiert einzelne Stationen und bietet zu jedem Kind eine abschließende »Bilanz«.
Wichtige Ergebnisse werden am Schluss des Bandes unter »Bi­lanz und Ausblick« zusammengefasst. Auf Gestaltung und Deutung in Vorjahren blicken die einzelnen Kinder unterschiedlich zurück. S. findet vier »Muster«: genaue Erinnerung an frühere Gestaltungen und Deutungen (1), Erinnerung, aber Deutung aus der gegenwärtig neu eingenommenen Perspektive (2), flachere Deutung früherer Gestaltungen als zum früheren Zeitpunkt [»Die Kinder sehen sich offenbar in einer aufsteigenden Entwicklung begriffen.«] (3), Verbalisierung des früher latent gebliebenen Inhalts, den die Forscherin aber stillschweigend vermutet hatte (4), Vergessen (5). Diese Befunde stellen Theorien in Frage, »welche meinen, kindliche Gotteskonzepte aus der Retrospektive von Er­wachsenen ermitteln zu können« (360). Die von S. untersuchten Kinder weisen verschiedene Orientierungen auf: »Drei Kinder kommen aus konfessionell gebundener Familie, drei weitere wurden mindestens partiell durch eine kirchlich geprägte Großmutter beeinflusst, zwei Kinder brachten keine explizite religiöse Prägung aus ihren Familien mit.«
S. arbeitet sehr methodenbewusst und tastet sich höchst vorsichtig an ihre Ergebnisse heran. Sie hält sich mit verallgemeinernden Schlussfolgerungen zurück, bestreitet die gegenwärtig beliebten Phasentheorien nicht, gibt allerdings zu bedenken, dass sie sie durch ihre eigenen Forschungen nicht bestätigen kann.
Die Kombination von Erhebungsverfahren und Frageperspektiven überzeugt. Besonders eindrucksvoll ist S.s liebevoll einfühlsamer und behutsamer Umgang mit ihren kindlichen Probanden und ihre fast ehrfürchtige Achtung vor deren Subjektivität und subjektiven religiösen Vorstellungen. Hier legen sich kritische Anfragen an das religionspädagogische Konzept nahe, dem diese em­pirischen Untersuchungen zuarbeiten sollen. Liefert das Chris­ten­tum nur noch disparate Materialien, mittels deren religiöse Selbstfindungsprozesse von Aufwachsenden stimuliert werden sollen, oder hat die Lehrperson die christliche Lehre und Glaubens­praxis auch als Einladung in die christliche Gemeinschaft und als Korrektiv religiöser Subjektivität einzubringen? Freimütig nennt S. selbst Faktoren ihrer eigenen Biographie (21–23), welche sie eher die erste als die zweite Frage bejahen lassen.