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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

1023–1025

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Obermann, Andreas

Titel/Untertitel:

Religion unterrichten zwischen Kirchturm und Minarett. Perspektiven für einen dialogisch-konfessorischen Unterricht der abrahamischen Religionsgemeinschaften an berufsbildenden Schulen.

Verlag:

Münster-Berlin: LIT 2006. 411 S. m. Abb. gr.8° = Christentum und Islam im Dialog. Christian-Muslim Relations, 8. Kart. EUR 39,90. ISBN 3-8258-9149-6.

Rezensent:

Gottfried Orth

Die Bonner Habilitationsschrift greift ein hochaktuelles Thema auf, nimmt ihren Ausgangspunkt bei berufsbildenden Schulen, reicht jedoch in ihrer Bedeutung weit darüber hinaus. Ausgangspunkt ist die gegenüber der Zeit der Formulierung des Grundgesetzes und seiner Bestimmungen über den Religionsunterricht veränderte gesellschaftliche Situation: Die Bundesrepublik entwickelt sich einerseits zu einer »säkularen« und andererseits zu einer »multireligiösen – und auch multikulturellen – Gesellschaft, in der immer mehr Religionsgemeinschaften den Anspruch auf einen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach äußern« (17). Die Arbeit erhebt nun den Anspruch, vor den veränderten Verhältnissen den Religionsunterricht gesellschaftlich und theologisch zu erörtern und zu verantworten. Sie tut dies am Beispiel der Berufsschule in Nordrhein-Westfalen im Kontext eines christlich-islamischen Religionsunterrichtes.
Der erste Teil der Arbeit analysiert die Grundbedingungen des Religionsunterrichtes an Berufskollegs zwischen staatlichen An­sprüchen, den Erwartungen gewerblicher und kaufmännischer Betriebe, den Erwartungen der Schülerinnen und Schüler sowie den Ansprüchen der Kirchen, um den Ort konfessionellen Religionsunterrichtes zu beschreiben und als dialogischen Religionsunterricht in multireligiöser Verantwortung neu zu bestimmen. Dabei versteht O. die Multireligiosität der Lerngruppe, die offenen Erwartungen der Schülerinnen und Schüler sowie die ethisch spezifischen und zugleich religiös indifferenten Erwartungen der Ausbildungsbetriebe an den Religionsunterricht ebenso als Chance für diesen wie als pädagogische und didaktische Herausforderung.
Beispielhaft eingelöst wird diese im zweiten Teil der Arbeit: Hier stellt O. ein von ihm verfasstes und erprobtes interreligiöses Unterrichtsprojekt »Schalom – Frieden – Salam« vor und wertet es aus. Exemplarisch wird deutlich, was die Kennzeichnung des Religionsunterrichtes im Untertitel der Arbeit mit den Stichworten »dialogisch-konfessorisch« meint: Eine muslimische Lehrkraft war an Konzeption, Planung und Durchführung des Unterrichtsprojektes gleichberechtigt beteiligt, was nicht nur – bedeutsam für den konkreten Unterricht – für muslimische und christliche Schülerinnen und Schüler jeweils eigene Identifikationsmöglichkeiten anbietet, sondern ebenfalls zwei theologische Fachleute für die thematische Arbeit zur Verfügung stellt. Theologisch reflektierter und kognitive religiöse Kompetenz vermittelnder konfessorischer Dialog wird in solchem Team-Teaching möglich. Die Dialogizität des Unterrichtes liegt zu Tage, wobei sich O. ausführlich an Bubers Beziehungsbegriff – »Im Anfang ist die Beziehung« – orientiert und das Gegenüber von »Ich« und »Du« als konstitutiv auch für religiöse Identitätsentwicklung ansieht. Konfessionell ist der Unterricht, »weil in kontroversen Diskussionen im harten Pluralismus konfessionelle Standpunkte offenbar werden und der Schulpfarrer bzw. die Religionslehrerin als Person mit seinem bzw. ihrem Anliegen oder seinen bzw. ihren Werten stark gefragt sind« (117).
»Praxis reflektierende Theoriebildung« erfolgt im dritten Teil der Arbeit in Form »gesellschaftlicher und theologischer, religionspädagogischer und didaktischer Bestimmungen eines interreligiösen Religionsunterrichtes in gemeinsamer Verantwortung der beteiligten Religionsgemeinschaften« (21) und »auf der nicht aufzugebenden (!) Basis des Grundgesetzes« (119). Auch wenn sich »religiöses Lernen als existentielles Lernen einer menschlichen Verfügbarkeit entzieht« (284), kann O. Parallelen und Übereinstimmungen zwischen einem jeweils an der Heiligen Schrift orientierten Lernverständnis der jüdischen, christlichen und muslimischen Traditionen aufzeigen und deutlich machen, dass in allen drei Re­ligionen »der Lernprozess als kommunikatives Geschehen neben dem Verständnis der Gedankengänge der jeweiligen Heiligen Schriften auf der kognitiven Ebene auch auf die Aneignung von Handlungsweisen und Lebensperspektiven auf der affektiv-exis­tentiellen Ebene zielt« (284) und so »identitätsfördernde Aspekte des Lernens« deutlich werden (286). Dieser dritte Teil der Arbeit schließt, das konkrete Unterrichtsprojekt inhaltlich im Kontext des propagierten »Kampfes der Kulturen« nochmals aufnehmend, mit einer religionspädagogisch-fachdidaktischen Überlegung zum »Frieden als Basis für Verständigung und Gemeinschaft«, die von der Prämisse ausgeht, dass »der Weg zum Frieden den Kriterien des Friedens genügen muss« (287).
Das Buch endet mit einer konkreten Utopie interreligiösen Religionsunterrichtes, die seinem Anspruch »Verständigung und Ge­meinschaft in respektierter Verschiedenheit« (350) entsprechen soll. Wünschenswert erscheint O. ein Religionsunterricht, in dem die Möglichkeit gegeben ist, »dass eine Lerngruppe mit so vielen Religionslehrern in einen Dialog treten kann bzw. von diesen unterrichtet wird, wie Religionsgemeinschaften in ihr vertreten sind«, was in der gegenwärtigen Schulwirklichkeit auf einen » Religionsunterricht mit einer (!) christlichen wie mit einer muslimischen Lehrkraft« zielt (344).
Die Arbeit zeichnet aus, dass O. den Weg dorthin auch über Kompromisslösungen als möglich ansieht; als solche »praktikable Möglichkeiten« sieht O.: entweder »ein interreligiöser Religionsunterricht in multireligiöser Verantwortung als ordentliches Schulfach nach 7,3 GG als Parallelunterricht mit Rotationsverfahren« oder »ein interreligiöser Religionsunterricht im Kontext einer modifizierten Fächergruppe nach der EKD-Denkschrift ›Identität und Verständigung‹« (344).
Der erstgenannte Kompromiss ermöglicht zum einen authentisch-konfessorischen Religionsunterricht durch die Lehrkraft des eigenen Glaubens wie einen Perspektivenwechsel zu den jeweils anderen Religionen und eine Phase des Team-Teaching, während derer die Vielfalt der Religionen dialogisch erfahrbar und diskutierbar wäre. Der zweitgenannte Kompromiss setzt eine Fächergruppe voraus, die aus den Unterrichtsfächern Philosophie, Ethik und Religion besteht, wobei die »Untergruppe ›Religion‹ in einen jüdischen, christlichen und islamischen Unterricht ausdifferenziert« werden müsste (349), der wiederum als rotierender Phasenunterricht zu gestalten wäre.
Überzeugend gelingt O. die Verknüpfung von reflektierter eigener Praxis und theoriegeleiteter Konzeptionsentwicklung, von der Darstellung gesellschaftlicher Notwendigkeiten und schulischen Möglichkeiten, von theologischen Argumentationen und pädagogischen wie (kirchen)politischen Anforderungen hinsichtlich der Gestaltung wie der organisatorischen Implementierung eines in­terreligiösen Religionsunterrichtes. Dass sein Ausgangspunkt da­bei das berufliche Schulwesen darstellt, ist deshalb besonders bedeutsam, da dies zum einen ein Feld vergleichsweise geringer religionspädagogischer Beachtung ist und zum anderen gerade hier die gesellschaftliche Problemlage sich exemplarisch spiegelt. Dass interreligiöser Religionsunterricht freilich eine Forderung hinsichtlich aller Schultypen ist, davon ist O. ebenso wie der Re­zensent dieser lesenswerten Habilitationsschrift überzeugt.