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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

1006–1009

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ruddat, Günter, u. Gerhard K. Schäfer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Diakonisches Kompendium. M. 9 Abb. u. 5 Tab.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 640 S. 8°. Kart. EUR 27,90. ISBN 3-525-62379-8.

Rezensent:

Annette Noller

Das diakonische Kompendium erfüllt ein bisher offenes Desiderat diakoniewissenschaftlicher Forschung: Bislang fehlte eine kurze prägnante Zusammenstellung der derzeit relevanten diakoniewissenschaftlichen Forschungs- und Handlungsgebiete. Das Erscheinen eines Kompendiums signalisiert zugleich, dass die deutsche Diakoniewissenschaft einen Entwicklungstand erreicht hat, der eine umfassende Zusammenschau möglich macht. Zusammen mit dem von Volker Herrmann und Martin Horstmann herausgegebenen Studienbuch Diakonik (Neukirchen-Vluyn 2006) ist das Kompendium als Resümee einer sich in den letzten Jahren etablierenden diakoniewissenschaftlichen Forschung zu verstehen.
Paul Philippi und Jürgen Albert hatten bereits 1981 die Probleme der Etablierung der Diakoniewissenschaft als einer theologischen Disziplin beschrieben (Art. Diakonie, in: TRE Bd. VIII, Berlin-New York 1981, 656 ff.). Treffend konstatieren die Herausgeber im Vorwort, dass diakoniewissenschaftliche Vorlesungen bis vor 25 Jahren an theologischen Fakultäten Seltenheitswert hatten. Ausnahmen waren und sind die diakoniewissenschaftlichen Institute (in Heidelberg und Bonn) und die Evangelischen Fachhochschulen. Die Etablierung der Diakoniewissenschaft als Disziplin vollzieht sich dort. Sie vollzieht sich auch in den Verbänden und Werken der Diakonie (vgl. die Jahrbücher Diakonie des DW der EKD). Kennzeichnend für diakonische Forschung ist, dass sie sich nicht ausschließlich als universitäre theologische Grundlagenforschung versteht, sondern ebenso praxisorientiert und interdisziplinär, insbesondere im Dialog mit den Sozialwissenschaften, vollzieht. Das schlägt sich nicht nur im Inhalt des Kompendiums nieder, sondern auch in der Auswahl der Autoren und Autorinnen, die sich wie ein ›who is who‹ der Diakonie liest. Neben den profilierten Universitäts- und Fachhochschulprofessoren, darunter auch renommierte Sozialwissenschaftler, stehen die Führungs- und Facheliten der Diakonie: Genannt seien der bis dahin amtierende Präsident des Diakonischen Werkes der EKD und Präsident von Eurodiakonia, Jürgen Gohde, die Direktorin von ›Brot für die Welt‹, Cornelia Füllkrug-Weitzel, die Direktoren der Diakonischen Werke in der Kirchenprovinz Sachsen, Reinhard Turre, und der Evangelischen Kirche im Rheinland, Rainhard Witschke, oder die ehemalige Vorsteherin der Kaiserswerther Diakonie und ihrer Schwesternschaft, Cornelia Coenen-Marx.
Der inhaltliche Bogen ist entsprechend weit gespannt: Er langt von den biblischen Grundlagen (U. Luz) über die Geschichte der Diakonie (G. K. Schäfer/V. Herrmann) bis in den modernen Sozialstaat und seinen Sozialmarkt (Th. Strohm), die theologischen (G. K. Schäfer) und ethischen Implikationen (N. Ammermann) werden vor dem Hintergrund ökumenischer (M. Robra) und interreligiöser Fragen (H. Pompey) beleuchtet, die Organisationsformen von der Selbsthilfegruppe (H. Steinkamp) über die diakonische Gemeinde (G. Ruddat/G. K. Schäfer), das diakonische Unternehmen (J. Degen) bis hin zur nationalen (R. Witschke) und europäischen Verbandsebene (J. Gohde) werden differenziert dargestellt. Den aktuellen Erfordernissen entsprechend kommen unter der Überschrift ›Lenken und Gestalten‹ kybernetische Fragen zur Sprache (A. Jäger), Rechtsfragen (J. Winter) sind ebenso besprochen wie die immer dringlicher werdenden Fragen der Finanzierung (M. Rückert). Qualitätsmanagement (U. Schwarzer) und Öffentlichkeitsarbeit (H. Seibert) kommen zu Wort. Unter der Überschrift ›Personen und Kompetenzen‹ stehen die Hilfsbedürftigkeit und Hilfsbereitschaft (D. Starnitzke) neben den ehrenamtlichen (R. Liebig/Th. Rauschenbach) und hauptamtlichen Mitarbeitenden (R. Turre) sowie dem Diakonat und diakonischen Gemeinschaften (C. Coenen-Marx). Ein eigenes Kapitel erhalten Fragen der Spiritualität (G. Ruddat), des diakonischen Lernens (H. Schmidt) und die Fort- und Weiterbildung (H.-St. Haas). Die sich anschließenden Handlungsfelder lesen sich wie ein ABC diakonischer Praxisfelder: Es langt von der Altenhilfe (K. Hartmann/K. Hildemann), über die Arbeitslosenhilfe (Traugott Jähnichen), die Begleitung Sterbender/Hospizarbeit (Daniela Tausch), die Bekämpfung von Armut (E.-U. Huster), die Behindertenhilfe (N. Störmer), die Ehe- und Familienberatung (M. Klessmann) bis hin zur Flüchtlingshilfe (W. D. Just). Als ein großes Praxisfeld darf auch die Kinder- und Jugendhilfe (A. Götzelmann) nicht fehlen, ebenso wenig die Obdachlosen- und Wohnungslosenhilfe (R. v. Spankeren), die Schwangerschaftskonfliktberatung (H. Kuhlmann) und die Sorge für Kranke (B. Städtler-Mach), die Suchtkrankenhilfe (U. Eibach) und die Telefonseelsorge (J. Wieners), die alle zu den mit der Diakonie assoziierten guten Werken zählen. Der Blick in die Handlungsfelder endet mit dem Ausblick in die weltweite Diakonie (C. Füllkrug-Weitzel). Abgeschlossen wird der diakonische Themenkreis durch ein differenziertes, kurzes Register, in dem Bibelstellen, Namen und Sachen neben den Autoren und Autorinnen und aktuellen Adressen aus Diakonie und Caritas zu finden sind.
Aus den 38 Aufsätzen seien einige wenige diskutiert. Angesichts der virulenten Debatte um die provokativen Thesen des Australiers John N. Collins (Diakonia, Reinterpreting the Ancient Sources, Oxford 1990) und der sich daran anschließenden deutschen Diskussion (vgl. H.-J. Benedict, Beruht der Anspruch der evangelischen Diakonie auf einem Missverständnis antiker Quellen? In: Pastoraltheologie 89/9/2000, 349 ff., und die Diskussion in: H. Schmidt u. a. [Hrsg.], Diakonische Konturen, Heidelberg 2003) liest man erstens Ulrich Luz’ Artikel über die biblischen Grundlagen der Diakonie aufmerksam. Der Katholik Collins hatte die seit dem 19. Jh. vorherrschende evangelische Interpretation des Diakonats als helfendes Handeln im Sinne der dienenden Nächstenliebe von den bib­lischen und antiken Quellen her in Frage gestellt. Collins’ Inter­ pretation der Quellen definiert ›diakonein‹ als vermittelndes her­meneutisches Handeln eines Stellvertreters oder Beauftragten (mit pastoralen und kybernetischen Aufgaben). Luz’ lesenswerte Darstellung orientiert sich durchweg an der traditionellen evangelischen Interpretation. Eine breitere Auseinandersetzung mit Collins, dessen Veröffentlichung in einer Fußnote Erwähnung findet, wäre m. E. hilfreich gewesen. Aus den zahlreichen Artikeln ist der schöne Überblick über die Geschichte der Diakonie von Gerhard K. Schäfer und Volker Herrmann erwähnenswert. Nach dem immer noch grundlegenden Artikel von Paul Philippi (Art. Diakonie, in: TRE VIII, Berlin-New York 1981, 621 ff.), dem älteren Standardwerk von Erich Beyreuther (Geschichte der Diakonie und Inneren Mission in der Neuzeit, Berlin 1983, 3. Aufl.) und der 2003 (Göttingen) erschienenen ›Geschichte der christlichen Diakonie‹ von Gottfried Hamman ist dieser kurze, kenntnisreiche geschichtliche Durchgang eine aktuelle Ergänzung und hilfreich für jeden, der sich oder seinen Studierenden einen ersten umfassenden Überblick über die (evangelischen) Entwicklungslinien verschaffen möchte. Diese Einschätzung gilt auch für den differenzierten systematisch-theologischen Überblick über evangelisch-theologische Konzeptionen und Diskussionslinien der Diakonie von Gerhard Schäfer. Wer sich über die Theologie der Diakonie informieren möchte, findet hier einen guten ersten Zugang zum Thema.
Souverän, kenntnisreich und gelegentlich provokativ lesen sich wie gewohnt die Beiträge zur ›Diakonie als sozialem Unternehmen‹ (J. Degen und A. Jäger). Sie repräsentieren diejenige Diakonie, die weit in die Gesellschaft und die Gestaltung des Sozialmarktes hineinragt und deshalb auf hohem Niveau innovativ und gelegentlich spannungsvoll zu den traditionellen Selbstbildern der Diakonie steht. Kontrovers wäre die Veröffentlichung geworden, wenn auch Kritiker der neuen sozialpolitischen Steuerung und der Unternehmensdiakonie wie z. B. Steffen Fleßa zu Wort gekommen wären (Arme habt ihr allezeit! Ein Plädoyer für eine armutsorientierte Diakonie, Göttingen 2003). Neben den in der Diakoniewissenschaft regelmäßig reflektierten Themenkomplexen finden sich im Kompendium auch Artikel, die deshalb besonderer Erwähnung wert sind, weil sie einerseits für die Praxis der Diakonie von großer Bedeutung sind, diese aber andererseits in diakoniewissenschaftlichen Publikationen selten verhandelt wird. Dazu zählt erstens Reinhard Witschkes kenntnisreiche Darstellung der verbandlichen Organisationsformen in ihrem historischen Entstehen und ihren aktuellen Ausformungen. Ebenso unverzichtbar zum Verständnis diakonischer Realität ist zweitens Jörg Winters Darstellung von aktuellen arbeitsrechtlichen, organisationstheoretischen sowie verfassungs- und europarechtlichen Spannungsfeldern. In der ge­samten Anlage und Durchführung wird deutlich, dass das Kompendium auf hohem wissenschaftlichem und praxisrelevantem Niveau den diakoniewissenschaftlichen Forschungsstand darstellt. Fragt man, was fehlt, so bleiben wenige Wünsche offen. Anmerken könnte man, dass die Reflexion des Diakonats kurz geraten ist angesichts seiner theologischen und kirchenpolitischen Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass der ökumenische Dialog mit der katholischen und orthodoxen Ämtertheologie nicht ausreichend in den Blick kommt.
Abschließend kann man festhalten: Der Titel ›Kompendium‹ ist für dieses Buch zu Recht gewählt. Es verschafft den Lesenden einen umfassenden Überblick über den Stand der diakoniewissenschaftlichen Forschung und die aktuellen Herausforderungen diakonischer Praxis. Das diakonische Kompendium zählt zu den bedeutenden Publikationen der Diakoniewissenschaft. Forschende, Lehrende und Studierende werden vom reichen Inhalt auf hohem Niveau profitieren.