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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

995–997

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schnabl, Christa

Titel/Untertitel:

Gerecht sorgen. Grundlagen einer sozialethischen Theorie der Fürsorge.

Verlag:

Freiburg (Schweiz): Academic Press Fribourg; Freiburg-Wien: Herder 2005. 539 S. gr.8° = Studien zur theologischen Ethik, 109. Kart. EUR 60,00. ISBN 3-7278-1493-4 (Academic Press Fribourg); 3-451-28906-7 (Herder).

Rezensent:

Susanne Dungs

Obwohl Fürsorge inzwischen zu einem Schlüsselbegriff der feministischen Ethik avanciert ist, wird sie in den moraltheoretischen Diskursen noch immer nur begrenzt diskutiert, weil sie entweder mit dem Paternalismus des alten Sozialstaats oder mit einer von Frauen ausgeübten Beziehungsform assoziiert wird. Dennoch sind Aspekte feministischer Ethik auch in die Ansätze männlicher Ethiker eingeflossen, aber nur implizit, so dass die daraus resultierenden normativen Überzeugungen und anthropologischen Perspektiven erst einmal freizulegen und zu systematisieren sind. Christa Schnabl unternimmt diesen Versuch, die Kategorie der Fürsorge zu reformieren und als einen expliziten Begriff für die Ethik wiederzugewinnen. Dabei will sie die in der Moralphilosophie gezogene Front zwischen Fürsorge und Gerechtigkeit aufbrechen, denn Fürsorge sei nicht nur individualethisch, sondern auch sozialethisch als eine gesellschaftspolitische Kategorie aufzufassen: gerecht sorgen. Die Grenze zwischen Ethik und Politik solle durchlässig werden (vgl. 434).
Im ersten Kapitel stellt Sch. die Begriffsgeschichte und die historischen Ausformungen von Fürsorge dar. Es zeigt sich, dass die christliche Barmherzigkeit sukzessive von der sozialen Kontrolle Bedürftiger abgelöst wurde. Im zweiten Kapitel verortet Sch. Fürsorge im sozialpolitischen Kontext, um die Arbeitsdimension von Fürsorge herauszustellen. Weibliche Fürsorgearbeit blieb unsichtbar und unbezahlt, obwohl sie das Fundament für den modernen Gesellschaftsvertrag bildet. Im dritten Kapitel wird Fürsorge im Horizont christlich-theologischer Traditionslinien reflektiert, um sie als deren Kernsubstanz auszuweisen und zu markieren, wie der Fürsorgebegriff in der aktuellen Sozialethik verwendet wird. Das vierte Kapitel bezieht sich auf die Debatten um Fürsorge in den feministischen und nicht-feministischen Moraltheorien. Das fünfte Kapitel untersucht Fürsorge im Horizont der politischen Theorien und deren sozialliberaler Gerechtigkeitskonzeptionen. Im sechsten Kapitel werden die Ergebnisse zusammengeführt und zu einer neuen sozialethischen Theorie der Fürsorge ausgeformt.
Traditionell ist Fürsorgearbeit an Frauen delegiert und ihrer spezifischen Wesenheit essentiell zugeschrieben worden. Sie wurde stillschweigend ohne Anerkennung im Öffentlichen der Gesellschaft geleistet. Und erst recht gehörte Fürsorge nicht zur Moraltheorie, da in der klassischen Gesellschaftsethik der Vertrag als Grundmodell zur Absicherung zwischenmenschlicher Beziehungen und individueller Eigeninteressen diente. Die Anthropologie des Vertrages basiert auf einem solipsistischen Subjekt. Fürsorge wird, so Sch., subaltern und pejorativ verankert für den Fall des Versa­gens von Autonomie. Geleugnet wird die Grundtatsache menschlichen Gebundenseins an andere. »Bindungen sind vor diesem Hintergrund instrumentell und utilitaristisch motiviert und bleiben theoretisch betrachtet äußerliche Anhängsel und aufgesetzte, arbiträre Konstruktionen. Im vertraglichen Bindungsmodell ist die Autonomie die primäre Komponente und die Bindung eindeutig sekundär nachgeordnet« (446).
In der spätmodernen Gesellschaft ist nach Sch. eine ›Fürsorgelücke‹ entstanden, indem Frauen aus der vormodernen Aufgabenzuschreibung heraustreten und die traditionelle Fürsorgearbeit für andere aufkündigen (müssen). Damit steuert die Gesellschaft auf einen Punkt zu, an dem die Lücke nicht mehr über die traditionelle Gendercodierung geschlossen werden kann. Auf Grund der Logik der Gesellschaft, aus einem vertraglichen Zusammenschluss von autonomen Menschen zu bestehen, die der Fürsorge nicht explizit bedürfen, steht spätestens dann keine Fürsorgearbeit mehr bereit, wenn jeder – auch die Frau – sich an den Erfordernissen des Marktes ausrichten muss. »Entsprechend ist die durchgesetzte Marktgesellschaft auch eine kinderlose Gesellschaft« (Beck zitiert nach Sch.: 13). Damit wird der Gesellschaft ein Problem zurückgegeben, das so lange nicht sichtbar war, als Frauen die Fürsorgearbeit substitutiv für alle übernahmen. Die Lücke, die sich als das Kernproblem der Spätmoderne entpuppt, ist für Sch. der Ausgangspunkt, in der Sozialethik theoretische Anknüpfungen zu schaffen, von denen aus das Geschlechterverhältnis einer gerechtigkeitsethischen Transformation unterzogen werden kann. Fürsorge soll als allgemeines ethisches Prinzip und geschlechtsungebundene Praxisform erschlossen werden. Es geht »um die Gestaltung einer humanen Zukunft, die sich nicht nur um die Aktiven, die Starken und die Leistungsfähigen kümmern kann, sondern auch um jene, die überhaupt nicht oder nicht mehr mitkönnen. Es geht … um die Frage, wie moderne Gesellschaften Verletzbarkeit, Abhängigkeit und Fürsorge als Teilaspekte sowohl individuellen menschlichen Lebens wie sozialen Zusammenlebens in das gesellschaftliche, ethische und politische Selbstbild integrieren können« (444).
Sch.s Intention ist, die Kategorie der Fürsorge zur Gerechtigkeitsfrage umzugestalten, da sie individualethisch privatisiert, sozial feminisiert und gerechtigkeitsethisch substituiert wurde. Die Ergebnisse dieser Intention, zu der sie verschiedenste Ethik­theo­rien hinsichtlich des Aspektes Fürsorge durchleuchtet, sind höchst verdienstvoll und durch die gelungenen Bezüge zur aktuellen Sozialpolitik (auch im internationalen Vergleich) äußerst aufschlussreich. Es wird eine »soziale Anthropologie anerkannter Ab­hängigkeit« sichtbar (444). Die zentrale Kritik an der Habilitation setzt dort ein, wo Sch. Fürsorge – ganz traditionell – als ein asymmetrisches Handeln zu Gunsten anderer definiert. »Manche Menschen sind Zeit ihres Lebens aufgrund von Behinderung auf an­dere angewiesen« (165). Davon ausgehend stellt sich für Sch. die Frage nach der gesellschaftlichen »Anerkennung von unabänderlicher Abhängigkeit bestimmter Menschen, deren Fähigkeit, ein autonomes und selbstbestimmtes Leben zu führen, nicht (umfassend) gegeben ist« (166). Sch. will die Kategorie der Fürsorge dahingehend erneuern, dass sie – im Unterschied zur Liebe – als ein gesellschaftliches Gut sichtbar wird, das getauscht und gekauft werden kann (vgl. 225). Mit dieser Zuordnung der Fürsorge zur symmetrischen Ebene der Tauschgerechtigkeit verfehlt Sch. aber ihre eigene Pointe. Man fragt sich, warum Sch. das Bedürfnis nach Fürsorge nur bestimmten Menschen zuschreibt, die der vollständigen Teilhabe an der Gesellschaft nicht fähig sind. Dann scheint es ihr nicht um eine fundamentale Abhängigkeit zu gehen, die in der Konstitution aller Menschen gründet, sondern nur derer, die in asymmetrischen sozialen Beziehungen verharren (müssen), weil sie zur autonomen Kooperation an der Gesellschaft nicht fähig sind. Das Problem des wechselseitigen Ausschlusses von Gerechtigkeit (Symmetrie) und Fürsorge (Asymmetrie), das Sch. als Kritikfolie skizziert, gerät nicht wirklich in Bewegung, denn das autonome Subjekt- und das Vertragsmodell bleibt leitend. Auch fragt es sich, ob die beiden ethischen Dimensionen (Symmetrie und Asymmetrie) nicht in einer antagonistischen Spannung zueinander stehen (sollten), weil sie nicht miteinander vermittelbar sind. Fürsorge wird von Sch., zu­sam­mengefasst gesagt, gegenständlich als eine Sozialkategorie eingeführt, die auf die Tatsache sozialer Abhängigkeit reagiert und entsprechende Institutionen schafft. Die Stärkeren reagieren auf die Not der Schwächeren. Ist damit aber die ethische Tiefenschicht berührt, die in den Ethiken der Alterität antönt? Diese Ethiken kehren die Beziehung zwischen autonomem Selbst und abhängigem Anderen grundlegend um in ein verletzliches Selbst, das sich der Not des Anderen nicht entziehen kann (Asymmetrie). Lässt sich diese fundamentale Abhängigkeit überhaupt theoretisch fundieren? Fürsorge bleibt wider Erwarten bei Sch. auf Grund der gegenständlichen Konzeption einem bestimmten defizitären Menschensein zugeordnet – dadurch kann Fürsorge nicht zur Grundkonsti­tution aller Menschen werden. Die dualistische Konzeption von Fürsorge und Gerechtigkeit wird fortgeschrieben.