Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2007

Spalte:

975–977

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Schulze, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Die Bach-Kantaten. Einführungen zu sämtlichen Kantaten Johann Sebastian Bachs.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006. 760 S. gr.8° = Edition Bach-Archiv Leipzig. Geb. EUR 44,00. ISBN 3-374-02390-8.

Rezensent:

Martin Petzoldt

Lange Jahrzehnte stand als einzige Informationsquelle für Bachs großartiges Kantatenwerk lediglich A. Dürrs Handbuch – Die Kantaten von Johann Sebastian Bach. München-Kassel 1971 – zur Verfügung, inzwischen in 9. Aufl. (2005) vorliegend. Nicht nur für Kantoren, Chorleiter, Musiker und Bachliebhaber war es der einzige verlässliche Ort, wenn es um musikalische Strukturen, Abläufe und um die Zusammenhänge zwischen Text und Musik ging. Auch Pfarrerinnen, Pfarrer und theologisch Interessierte griffen nach diesem bewährten Werk. Dürr fügte zwar erst zur 5. Auflage 1985 die Kantatentexte selbst hinzu, hatte aber in den analysierenden und kommentierenden Passagen bereits diese wichtige Frage mit berücksichtigt. Dabei lag ihm vor allem primär aus Sicht der Musikwissenschaft an einer Erschließung des Kantatenwerkes für den heutigen Hörer. Im Blick auf das geistliche Kantatenwerk Bachs korreliert diese Aufgabenstellung mit der theologisch-hermeneutischen, auch wenn Dürr für sich nicht in Anspruch nehmen mochte, den theologischen Part einfach zu ersetzen. Damit stellte er sich der Herausforderung, dass Bachs geistliches Werk bis heute von sich aus nach geistlicher Erschließung verlangt.
Mit der Veröffentlichung von »Einführungen« in die Bach-Kantaten legt Hans-Joachim Schulze – in und außerhalb der Bachszene unbestrittene Autorität – im Druck vor, was »im Zusammenhang mit einer Sendereihe des Mitteldeutschen Rundfunks in den Jahren 1991 bis 1994, die bis 2000 mehrere Wiederholungen erlebte«, entstand (9). Äußere und innere Struktur der Einführungen in jede Kantate sind also wesentlich durch die gesprochene Fassung im Rundfunk bestimmt, was, will man nicht eine Überarbeitung im Sinne einer ausgeführten schriftlichen Analyse daraus ent­wickeln, eine gewisse »Autarkie« jedes Einzeltextes mit sich bringt und sich grundsätzlich gegen eine forsche Überarbeitung in Richtung einer verschrifteten Fassung wehrt. Der Vf. und der Verlag haben deshalb die Veröffentlichung in unveränderter Sprechfassung bevorzugt. Zur musikwissenschaftlichen Methodik sagt der Vf. (9 f.):
»Als Grundlage für bestimmte Teile der musikwissenschaftlichen Kommentierung diente das traditionelle Rüstzeug der Bach-Forschung, also die im Laufe von Jahrzehnten angesammelten und in den Kritischen Berichten der Neuen Bach-Gesamtausgabe sowie in zahlreichen anderen Veröffentlichungen niedergelegten Erkenntnisse zu Echtheit und Überlieferung sowie Werk- und Wirkungsgeschichte von einzelnen Kompositionen und ganzen Werkgruppen. Einige wenige häufiger konsultierte Spezialdarstellungen sind im Lite­raturverzeichnis genannt. … Nachträglich aufgenommen sind wichtige Erkennt­nisse, die die Forschung seit 1994 gewonnen hat; sie wurden stillschweigend in die Texte eingefügt und in einem gedrängten Anmerkungsteil nachgewiesen.«
Bereits an früherer Stelle gibt der Vf. seiner Überzeugung Raum, dass es nicht allein um musikwissenschaftliche Bearbeitung gehen könne, sondern »daß Text und Musik von Haus aus zusammengehören und insbesondere bei den Texten zu den zahlenmäßig bei weitem überwiegenden Kirchenkantaten theologischer Gehalt, sprachliche Qualität und musikalische Brauchbarkeit eine un­trennbare Einheit bilden müssen«. Das aber führe notwendigerweise zum »Nachdenken über die Art des musikalischen Bewältigens«, also zur Frage nach den »Absichten und Verfahrensweisen des Komponisten«. Hier zeigt sich, wie der Vf. sich unbeeinflusst dem damit beschriebenen Problemkreis nähern möchte, was wohl heißen mag, dass er die sich stellenden theologischen Fragen nicht ausdrücklich und absichtlich zu den seinen machen will (8). Gleichwohl kommt es in den Einführungen mit nicht überraschender Regelmäßigkeit zu theologischen Urteilen oder zu Versuchen, den Inhalt eines Textes in seinem eigenen Sinn zu begreifen, vor allem dann, wenn die musikalische Umsetzung dieses geradezu herausfordert. Ein Beispiel aus der Einführung zu BWV 62/BC A 2 sei herausgegriffen und völlig unpolemisch beschrieben: Der Vf. legt Wert auf die Feststellung, die Diktion des Lutherliedes »unterscheide[t] sich signifikant von der ambitionierten Verskunst in den zwei Jahrhunderte jüngeren Umdichtungen«.
Luther dichtete als sechste Strophe jene längst aus den Gesangbüchern entfernte: »Der du bist dem Vater gleich, / führ hinaus den Sieg im Fleisch, / daß dein ewig Gottes Gewalt / in uns das krank’ Fleisch enthalt.« Daraus gewinne der Kantatentextdichter »einen Arientext von heroischem Zuschnitt, der das Vorbild nur schwer erahnen läßt: ›Streite, siege, starker Held, / sei vor uns im Fleische kräftig, / sei geschäftig, / das Vermögen in uns Schwachen / stark zu machen!‹« (15 f.). Hier mischen sich das musikhistorische Wissen um das »zeittypische[n] Genre der ›Arie mit heroischen Affekten‹« (17) und ein einfacher Textvergleich in ein handfestes theologisches Urteil eines Zeitgenossen aus dem 20./21. Jh., nämlich das Urteil der schweren Erahnbarkeit des Vorbildes. Nicht nur die zeitgenössische Theologie der Bachzeit, auch Luther und natürlich auch der Text der Vorlage Luthers – nach der Tradition Ambrosius von Mailand – verbinden mit dem Imperativ »führ hinaus den Sieg im Fleisch« selbstverständlich jenen Kampf Christi auf Leben und Tod, der der Christuswirksamkeit von jeher Sinn und Ziel gab. Das macht es dann fast überflüssig zu sagen, »im Fleische kräftig« sein, bezieht sich nicht auf den Menschen, sondern auf die menschliche Natur des Gottessohnes, die so ausgestattet wird, dass er Welt, Sünde, Tod, Teufel und Hölle besiegen kann. Und diese Erkenntnis führte in Bachs eigenem »Nachdenken über die Art des musikalischen Bewältigens« (8) zur Wahl des »zeittypischen Genre der ›Arie mit heroischen Affekten‹« (17). So dechiffriert sich das genannte theologische Urteil über das schwer mögliche Erahnen des Vorbildes des Arientextes als Ausdruck der heute – selbst bei Theologen – allgemein geschwundenen theologischen Kenntnis und weniger als Differenz zwischen zwei Textsorten aus verschiedenen Jahrhunderten (was ohne Zweifel auch der Fall ist).
Die Einführung in jede einzelne Kantate vollzieht sich nach einem gut nachvollziehbaren Aufriss: Eingangs wird das Werk in seine Entstehungssituation eingeordnet, erkennbare Daten seiner Wie­deraufführung werden genannt und die Kantatendichtung wird vorgestellt. Die alternierende Reihenfolge der Kantatenaufführungen in den Leipziger Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai, gelegentlich mit Zweifeln belegt (vgl. 229 zu BWV 86/BC A 73), ist durchaus sicher erkundbar. In diesen mehr historischen Zusam­menhang bezieht der Vf. ausführlich und vollständig vertonte Texte ein, die sonst – etwa vorangestellt, wie bei Dürr üblich – keinen eigenen Platz erhalten, entschließt sich aber auch zur Paraphrasierung von Texten. In der Besprechung der je ersten Kantate zu einem Sonn- bzw. Festtag kommt es zu dem zumeist wörtlichen Vortrag des Sonn- oder Festtagsevangeliums. In diesem ersten Umkreis hat auch die Behandlung weiterer Probleme Platz, die sich mit Entstehung, Wiederaufführung und überlieferten Quellen – Autographe, Abschriften – stellen. Hier ist der Vf. be­kanntlich unschlagbar, hier erfährt der interessierte Leser trotz knapper Diktion unendlich viel an wissenswerten Einzelheiten, was in einer eher codierten und deshalb für den musikwissenschaftlichen Laien schwerer erschließbaren Form bereits in das vo­luminöse »Bach-Compendium« (= BC, Dresden und Leipzig 1985 ff., zusammen mit Chr. Wolff) eingeflossen ist. Als Beispiel sei auf BWV 86, Satz 6, hingewiesen, wo man fast nebenbei erfährt, dass Bachs zweitjüngster Sohn Johann Christoph Friedrich diesen Satz mit verändertem Text in sein Oratorium »Die Auferweckung Lazarus’« (1773) übernahm (232). Dann folgt eine mehr oder weniger ausführliche musikanalytisch pointierte Besprechung der einzelnen Kantatensätze, wo­mit die Behandlung der Kantate abschließt.
Dem Haupttitel des Buches »Die Bach-Kantaten« werden nicht nur alle geistlichen und nichtgeistlichen Kantaten, sondern auch die Oratorien, nicht aber die Passionen, untergeordnet. Das hat seine Berechtigung darin, dass – zumindest für den gottesdienstlichen Bereich – der Begriff »Kantate« inzwischen zur Bezeichnung der proprialen Figuralmusik in Gottesdiensten geworden ist, auch wenn der Begriff musikgeschichtlich seine eigene Entwicklung hat. Die Reihenfolge der Anordnung der geistlichen Kantaten ist das Kirchenjahr mit anschließender Behandlung der nichtzuordenbaren Kantaten, der Kantaten für besondere Anlässe, der Oratorien (nicht in den Kirchenjahresablauf eingeordnet) und der nichtgeistlichen, sogenannten weltlichen Kantaten. Der Vf. folgt damit der Bandeinteilung der Serie I der Neuen Bach-Ausgabe. Im An­hang finden sich die Anmerkungen, Übersichten und Verzeichnisse (Literatur, Namen, Kantatentitel alphabetisch, eine Konkordanz BWV-BC). Es handelt sich um eine sorgfältige und ge­brauchs­freundliche Edition, die in dem beschriebenen Rahmen zuverlässig orientiert.
An Druckfehlern sind mir bisher nur zwei aufgefallen: Überschrift »Gelobet seist du, Jesu Christ« (29); »in der Gegend des Toten Meeres« (167, Z. 1 v. u.).