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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

967 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Falletta, Martina, Mehlhorn, Annette, u. Ulrich Siegele [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Georg Philipp Telemanns Passionsoratorium »Seliges Erwägen« zwischen lutherischer Orthodoxie und Aufklärung. Theologie und Musikwissenschaften im Gespräch.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Haag + Herchen 2005. 282 S. m. Abb. u. IX S. Anhang m. Notenbeisp. 8° = Arnoldshainer Texte, 127. Kart. EUR 32,89. ISBN 3-89846-311-7.

Rezensent:

Meinrad Walter

Dass wir heute allesamt »Spätzeithörer« sind, bemerkt der Philosoph Hans Blumenberg in seinem großen Essay über Johann Sebas­tian Bachs Matthäuspassion. Und das gilt, unter anderen Vorzeichen freilich, auch für die Passionsmusik »Seliges Erwägen« in neun Betrachtungen von Georg Philipp Telemann (1681–1767). Im Unterschied zu Bach ist das 1722 erstmals aufgeführte, lange Zeit hochberühmte und weit verbreitete Werk, zu dem es eine neue wissenschaftliche Edition (TWV 5:2, in der Magdeburger Telemann-Auswahlausgabe im Verlag Bärenreiter als Bd. XXXIII hrsg. von Ute Poetzsch) und eine CD-Einspielung (Label »Amati«; Leitung: Wolfgang Schäfer) gibt, allerdings nicht nur in seinen theologischen Prämissen kaum noch vertraut; es hat auch keine mit Bach vergleichbare ästhetische Gegenwart. Umso reizvoller sind die Fragen, die an ein solches Werk zu stellen sind: Welche theologischen Auffassungen der Passion spiegeln sich darin in Wort und Ton? Und welche neuen theologischen Einsichten ergeben sich durch das Einbeziehen eines solchen »musik-sprachlichen« Werkes im Kontext der Passionstheologie? Selbst aktualisierende Perspektiven sind denkbar, etwa im Blick auf den Antijudaismus dieser Passionsmusik in Sätzen wie »Des Bundes wird nicht mehr gedacht, den Moses durch das Blut in Sinai gemacht« oder »Ihr Gottesmörder, wollt ihr euch noch nicht um Jesu Tod bekümmern?«
Die Referate einer Tagung der Evangelischen Akademie Ar­nolds­hain vom 9. bis 11. Januar 2004 bieten einen instruktiven Einblick in die musico-theologische Werkstatt Telemanns. Eingeleitet wird der Sammelband mit Überlegungen zum interdisziplinären Dialog zwischen Theologie und Musik(wissenschaft) von Annette Mehlhorn. Unmittelbar mit dem Passionsoratorium »Seliges Erwägen« befassen sich die Beiträge von Ulrich Siegele (Aufbau des Werkes), Ute Poetzsch-Seban (Aufführungsgeschichte) und Renate Steiger (Musikalisch-theologische Werkinterpretation). Das Passionsverständnis zwischen lutherischer Orthodoxie und beginnender Aufklärung wird thematisiert von Paul-Gerhard Nohl sowie von Wolfgang Hirschmann im Blick auf Telemanns frühe Passionen. Weitere Werke Telemanns sind einbezogen durch die Beiträge von Carsten Lange (geistliche Werke im Überblick), Wolfgang Robscheit (Kantate »Danket dem Herrn, denn er ist freundlich«) und Harald Schultze (»Donnerode« und »Der Tod Jesu«).
Offen bleibt letztlich, ob Telemanns Passion ihren »geschichtlichen Ort« eher noch in der lutherischen Orthodoxie hat oder bereits in der als »gläubiger Rationalismus« zu verstehenden Aufklärung. Während Wolfgang Hirschmann das Passionsoratorium mit seiner konzertanten Zielrichtung und dem typischen Verzicht auf das originale Bibelwort als »aufklärerischen Gegenentwurf zur liturgisch-bibelgebundenen oratorischen Passion« (23) wertet, deutet Renate Steiger das Werk noch ganz im Kontext der lutherisch-orthodoxen Tradition. Diese Divergenz könnte nicht zuletzt daraus resultieren, dass das »Selige Erwägen« eben auf der Grenze zwischen beiden Passionsverständnissen steht. Im Übrigen vernachlässigt Hirschmanns These »Passionsoratorien sind keine ›klingende Theologie‹, sondern autonome Gebilde eigenen Rechts und Anspruchs« (23) das hermeneutische Gewicht der Rezipienten. Ob ein Werk zur »klingenden Theologie« wird, hängt ja nicht zuletzt von der Intention der Interpreten und Hörer sowie vom Raum und von vielen weiteren – noch kaum erforschten! – Aspekten ab. Die Alternative künstlerische Autonomie oder kirchenmusikalische Heteronomie greift hier nur bedingt.
Der Sammelband zeigt überzeugend, dass der Dialog zwischen Musik(wissenschaft) und Theologie nicht auf Bach und Mozart zu beschränken ist. Ebenso wird deutlich, dass biographische Über­legungen zwar immer beizuziehen sind, das eigentlich ergiebige und spannende Feld jedoch die Interpretation von Werken ist. Die Musikwissenschaft gewinnt einen weiteren Horizont und größere Nähe zu den Werken, wenn in der Analyse kirchenmusikalisch-geistlicher Kompositionen auch deren spirituelle Aspekte einbezogen werden. Die Theologie wiederum profitiert davon, wenn sie ihren Blick, gerade bei Themen wie Passion oder Inkarnation, weitet und auf Werke der Kunst richtet. Methodisch zu leisten ist das nur in interdisziplinären Gesprächen mit Offenheit und Dialogbereitschaft. Auch dafür ist der vorliegende Band ein gutes Beispiel.