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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

945 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Scott, Ian W.

Titel/Untertitel:

Implicit Epistemology in the Letters of Paul. Story, Experience and the Spirit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XVII, 341 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 205. Kart. EUR 59,00. ISBN 3-16-148779-6.

Rezensent:

Stefan Alkier

Die Dissertation von Ian W. Scott arbeitet die These aus, die paulinische Theologie sei rational strukturiert. Dabei handele es sich um eine narrative Rationalität, die um die Angewiesenheit des Glaubens auf den Heiligen Geist weiß und die eigene Erfahrung in die Gesamtdeutung der Welt einzubinden in der Lage ist.
Die These wird in drei Teilen ausgearbeitet. Teil 1, Human Reason in Paul’s Letters (13–85), zeigt zunächst ausgehend von Röm 1,18–32 auf, dass Paulus dem menschlichen Erkenntnisvermögen durchaus Gotteserkenntnis und damit auch Welt- und Selbsterkenntnis zutraut. Allerdings sei dieses Erkenntnisvermögen verkehrt worden durch die moralische Verfehlung, Gott, dem Schöpfer, nicht die Ehre zu geben, sondern an seiner Stelle Geschaffenes zu vergöttern. Die Interpretation von 1Kor 1,17–2,16 vertieft und expliziert die These, indem die paulinische Kritik an der Weisheit der Welt nicht als grundsätzliche Verwerfung eines auf rationalem Wege geschlussfolgerten Wissens verstanden wird, sondern als Kritik solchen Wissens, das sich ohne Bezug auf den Schöpfergott eigenmächtig zu etablieren sucht. Als Fazit lehnt Teil 1 die Dichotomie von Glaube und Wissen ab und hebt stattdessen die grundsätzlich positive Haltung des Paulus zu menschlicher Erkenntnisfähigkeit und zu durch rationale Argumentation erworbenem Wissen hervor.
Der zweite Teil der Untersuchung, The Structure of Paul’s Knowl­edge (87–156), unterscheidet vier Wissensbereiche in den paulinischen Briefen: Mundane Knowledge (89–94), Theological Knowledge (95–118), Ethical Knowledge (119–141) und Beyond Conceptual Knowl­edge (143–154). Dem alltäglichen Weltwissen widmet S. nur wenig Aufmerksamkeit, da es zum spezifischen theologischen Denken des Paulus kaum etwas beitrage. Das theologische Wissen hingegen stellt das Zentrum der Argumentation S.s dar. Im Anschluss an Richard Hays u. a. vertritt S. die These, das theologische Wissen des Paulus sei durch eine große, kohärente Erzählung strukturiert, die von der Schöpfung der Welt bis hin zur Neuschöpfung am Ende der Zeiten reiche. Den hermeneutischen Angelpunkt dieser Geschichte bilde die Erzählung von Kreuz und Auferweckung Jesu Christi. Diese große Geschichte bildet für Paulus den hermeneutischen Rahmen zur Deutung der Welt, zur Deutung der Geschichte und jedes einzelnen Ereignisses in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Die paulinische Rationalität sei also nicht die der griechischen Logik, sondern eine hermeneutisch-narrative Rationalität, deren Kriterium die Kohärenz der großen Erzählung darstelle. Auch das ethische Wissen füge sich in diese narrative Theologik ein. Die Glaubenden befinden sich in dieser Geschichte, und die konkreten ethischen Probleme bzw. Anweisungen werden mit Blick darauf formuliert, wie man seine Rolle in dieser Geschichte gut, d. h. der Rolle entsprechend, ausfüllen soll. Es ist aber eine Frage des Wirkens des Heiligen Geistes, welche Rolle man in dieser Geschichte einzunehmen in der Lage ist. Die rationale Entfaltung der Geschichte, als die S. die paulinische Theologie und ihre konkrete Argumentation in den authen­tischen Briefen versteht, lässt verstehbar machen, wofür und mit welcher Konsequenz man sich entscheidet, wenn man sich in diese Ge­schichte als wahre Geschichte hineinbegibt. Den Sprung selbst aber, die Entscheidung für die Wahrheit der Geschichte, be­wirkt notwendigerweise der unverfügbare Geist Gottes. Ist dieser Sprung durch die Motivation des Geistes und durch das Wissen um die große wahre Geschichte geschafft, so bildet sich für die Glaubenden eine erfahrungsgesättigte vertrauensvolle Beziehung zu Gott und zu Jesus Christus aus: zu Gott durch seine ihm allein gebührende Verehrung und zu Jesus Christus durch ein ihn nachahmendes Leben. Dabei zentriert die Erzählung von Kreuz und Auferweckung das eigene Handeln und Selbstverständnis. Der Glaubende lebt in der großen Geschichte in der Gewissheit, durch die Teilhabe am Todesgeschick Jesu am Ende der Zeiten auferweckt zu werden und das ewige Leben zu erhalten.
Der dritte Teil der Untersuchung, Coming to Knowledge in Paul’s Letter to the Galatians (157–276), führt den Ertrag einer Paulusexegese vor, die von der Voraussetzung der in Teil 1 und 2 entwi­ckelten narrativen Hermeneutik des Paulus ausgeht. S. interpretiert den Galaterbrief als Schrift des Juden Paulus, der in der Geschichte Israels lebte, aber durch sein Damaskuserlebnis gezwungen war, in diese Geschichte den Ereigniszusammenhang von Kreuz und Auferweckung einzutragen und von da aus die ganze Geschichte Israels neu zu konfigurieren. Das pragmatische Anliegen des Galaterbriefes sei es, die Galater von der Wahrheit der paulinischen Version der großen Erzählung erneut zu überzeugen und sie darin wieder einzubetten. Die von den im Hintergrund stehenden Gegnern des Paulus erzählte Version der Geschichte Israels hingegen werde als dem Kreuzesgeschehen und der eigenen Erfahrung der Galater unangemessene Version abgewiesen. Gal 3,1–5 zeige deutlich, dass es der Geist sei, der die Galater befähigt habe, Teil der Geschichte des er­wählten Gottesvolkes zu werden, wie sie Paulus erzählt. Die in den Kapiteln 5 und 6 proklamierte Ethik formuliere die dieser heilvollen Rolle der Galater angemessene und vom Geist ermöglichte Verhaltensweise für die Gegenwart.
S. bietet mit seiner narrativen Hermeneutik paulinischer Theologie einen produktiven Rahmen für die Interpretation der authentischen Paulusbriefe an. Er erarbeitet zudem eine bedenkenswerte These zum Zusammenspiel des Geistes mit der menschlichen Rationalität, die den Primat des Geistes und damit den Glauben als unverdientes Geschenk wahrt, zugleich aber den sich an die Denkfähigkeit der Adressaten richtenden Argumentationsstrategien des Paulus angemessene Berücksichtigung einräumt.
Kritisch sei angemerkt, dass S. die deutschsprachige Paulusexegese der letzten zehn Jahre kaum wahrgenommen hat und sich dadurch auch viele seinem Ansatz förderliche Anregungen hat entgehen lassen. Ferner wird die produktive Kraft der Schriften Israels für die paulinische Theologie nicht klar genug herausgestellt. Es wäre für den Ansatz, den S. vorschlägt, weiterführend, nicht nur mit Hays u. a. die narrative Fundierung paulinischer Theologie zu bedenken, sondern auch ihre intertextuelle Gestaltung.
Trotz dieser Kritik handelt es sich um einen die Paulusexegese bereichernden Ansatz, der nicht weniger als einen bedenkenswerten Gesamtrahmen des Verständnisses paulinischer Theologie an­bietet. Dieses Buch verdient viele Leserinnen und Leser.