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Ausgabe:

September/2007

Spalte:

925 f

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Leuchter, Mark

Titel/Untertitel:

Josiah’s Reform and Jeremiah’s Scroll. Histor­ical Calamity and Prophetic Response.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Phoenix Press 2006. X, 206 S. gr.8°. Geb. £ 50,00. ISBN 1-90504-831-9.

Rezensent:

Georg Fischer

Diese Studie stellt die überarbeitete Fassung einer 2003 in Toronto eingereichten Dissertation dar. Ihr Ziel ist, die politischen und geschichtlichen Umstände für die Entstehung der jeremianischen Urrolle zu erheben (17). In der Einführung bezieht L. Position; gegen die neuere Literarkritik stellt er sich auf die Seite einer Re­daktionskritik, wie er sie selbst auch im Prozess des Schreibens erfahren hat (VII). Er sieht ein gemeinsames Erbe bei dtr und jer Texten (9), das auch mit der Verbindung von Jeremia mit Kreisen joschijanischer Schreiber (13) zusammenhängt.
Eine Schlüsselrolle spielen für L. die »Zophim« (Kapitel 1), eine Gruppe nicht ekstatischer, an Mose und Samuel ausgerichteter Propheten; ihre in Schilo und anderswo erfolgende Rechtsprechung findet Eingang ins Deuteronomium (besonders Dtn 17 f.). Sie wiederum bilde den Hintergrund für Joschijas Engagement im Nordreich (Kapitel 3), das von Jeremia mit Worten von Jer 30 f.* unterstützt wird (Kapitel 4 – man erinnere sich an N. Lohfinks These von 1981), jedoch auf Ablehnung bei den »Shilonite priests of Anathoth« trifft (86). Die Zurückweisung wiederhole sich nach den Drohsprüchen von Jer 2–4 (97).
Mit Joschijas Tod vollziehe Jeremia eine Wende, insofern er Jerusalems Rolle überdenken muss (110). Er wandelt sich vom Advokaten dtr Theologie zum »Deuteronomic Mosaic prophet and generator of new policy« (112), was in der Tempelrede von Jer 7 als archimedischem Punkt jer Verkündigung, als »first parenetic declaration« (125), seinen Ausdruck findet. Zusammen mit Teilen von Jer 8–10, welche die Konfrontation mit dem Jerusalemer Establishment spiegeln (Kapitel 7), geht sie ein in die auf 605 v. Chr. anzusetzende Urrolle (145).
Mit ihr beschäftigt sich L. in Kapitel 8, insofern sie eine Reihe von Erweiterungen früherer Texte bringt (z. B. der Berufung Jer 1, der Drohsprüche Jer 2–4, …). Eine entscheidende Funktion kommt Jer 11 zu, das eine »rhetorische Antwort« auf Elemente des Buchanfangs biete (163) und zugleich ein Kolophon Jeremias darstelle (166 f.). Insgesamt erscheint der frühe Jeremia als »Self-Proclaimed Deuteronomist« (169), der wegen seiner guten Beziehungen zu den Schreibern am Tempel auch Zugang zu seinen im dortigen Archiv aufbewahrten früheren Textmaterialien hat (171, z. B. zu Jer 30 f.*, aus der ersten Phase seines Auftretens: 78).
L.s Rekonstruktion der Entstehung von Jer und der geistigen Entwicklung Jeremias ist beeindruckend. Auf kleinen Indizien baut er mit großem Vertrauen weiter und errichtet ein großes Gebäude. Doch stellt sich die Frage nach der Tragfähigkeit seiner Argumentationen unter mehreren Hinsichten.
L. neigt zu Identifizierungen, die ganz schwierig zu beweisen sind (etwa 86 oben die schilonitischen Priester in Anatot; zudem soll dies in 11,21.23 erst sekundär erfolgt sein: 162 f., mit Anm. 51). Aus Jer 6,17 »und ich richtete über euch Späher (hebr. zofim) auf: Gebt acht auf die Stimme des Schofar!« leitet er ab, Jeremia habe sich mit den Zophim identifiziert (159). Zofim/»Späher« steht jedoch ohne Artikel (vgl. im Singular ebenso Ez 3,17 für Ezechiels Aufgabe als Prophet). Der mo­saische Bezug von »Stimme des Schofar« (26, mit Anm. 40, als Verweis auf Ex 19) dürfte in Jer angesichts der Verwendung in 4,19.21, wo es herannahenden Krieg andeutet, auch nicht so stark sein.
Eine andere Anfrage betrifft die Begründungen. Sicherlich gibt es eine Fülle von Übereinstimmungen zwischen dtn/dtr Sprache und jer Texten; insofern hat L. Recht mit den Gemeinsamkeiten (9). Doch ist dies nur eine Seite – ebenso zu erklären wären die Differenzen, etwa die grundlegend verschiedene Position von Jer 3,1–5 und Dtn 24,1–4, um nur ein Beispiel zu nennen. In gleicher Weise würde man sich für Behauptungen wie Jeremias Zugehörigkeit zu Kreisen joschijanischer oder Tempel-Schreiber (13.171) starke Argumente wünschen, die aber fehlen. Letzteres ist zudem angesichts der auch von L. gesehenen Distanz von Jer zum Tempel (181 f.) eher unwahrscheinlich.
L.s Textdeutungen werfen öfter Fragen auf. Er erstellt eine Parallele von 31,17 mit Hos 8,5 f. (81), doch würde Hos 10,11 wesentlich näher liegen. Für Jer 11,18–23 nimmt er an, dass es von Dtn 13,7–10 inspiriert sei (100), ohne dass sich dafür exakte Bezüge zwischen beiden Texten anführen lassen. 2Kön 23,15.19 f. erklärt er als sekundäre Zufügung (101); die Erwähnung des »Altars von Bethel« in V. 17 setzt jedoch die Vorbereitung durch V. 15 voraus. Die für die Deutung von Jer 11 als »Antwort« und als »Kolophon« Jeremias angeführten Gründe (163 f. und 166 f.) sind allesamt schwach; 11,14 bringt nicht das Ende für das Motiv der Fürbitte (s. Jer 14,11 und 15,1), und von Jeremia als »Schreiber« ist in Jer 11 nie die Rede, um gerade zwei Punkte zu erwähnen. Außerdem ist die Behandlung von Texten häufig sprunghaft: Von Jer 8,12 geht L. zu 9,1 über (134 f.) – was ist mit 8,13–23? Wie ist zu rechtfertigen, dass die weiteren Stellen über »Weise« in 9,16–23; 18,18 nicht berücksichtigt werden? Der Hinweis, dort sei von weisen Frauen die Rede (145, mit Anm. 67), ist kaum stichhaltig – warum sollten sie ausgenommen sein? Außerdem trifft das auf 9,16, nicht aber auf 9,22 und 18,18 zu. – Schade ist gleichfalls, dass wichtige Literatur fehlt. Dass es Schwierigkeiten mit deutschen Büchern gibt (s. »Shroter«, statt Schröter, u. a.), ist verständlich. Doch dass zu Jer 30 f. die Monographie von B. Bozak (Life ›anew‹, Rom 1991) nicht verwendet wird oder zur Verbindung von Poesie und Prosa das Werk von L. Stulman, Order amid Chaos (1998) usw. nicht angeführt ist, deutet Defizite an.
Auch wenn die These von L. insgesamt so nicht zu überzeugen vermag, gibt es doch interessante Beobachtungen. Dazu zählen etwa die Hinweise auf die Aufnahmen von sogenannten »P«-Texten in Jer (84 und 110) sowie die zwei abschließenden Seiten (181 f.), welche die Verschiebung vom Tempel hin zur Schrift und die Kritik des Jeremiabuches am königlichen und kultischen Schwerpunkt der Jerusalemer Kultur benennen.