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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

870 f

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Gangl, Peter

Titel/Untertitel:

Franz Ehrle (1845–1934) und die Erneuerung der Scholastik nach der Enzyklika »Aeterni Patris«.

Verlag:

Re­gensburg: Pustet 2006. 212 S. gr.8° = Quellen und Studien zur neueren Theologiegeschichte, 7. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7917-2032-6.

Rezensent:

Klaus Unterburger

Die in Wien eingereichte kirchenhistorische Dissertation hat zum Ziel, anhand des schriftlichen Werks und archivalischer Quellen die Rezeption der theologiepolitisch bedeutsamen Enzyklika Aeterni patris im Lebenswerk des Jesuiten, Handschriftenforschers und (1922) Kurienkardinals Franz Ehrle zu untersuchen (16). Dem päpstlichen Lehrschreiben war bekanntlich vor allem an den rö­mischen Universitäten und den Ordenshochschulen eine Säuberungswelle gegen nicht neuscholastisch bzw. neuthomistisch denkende Dozenten gefolgt, was zur Uniformierung der katholischen Theologie besonders in Italien im Sinne eines restaurativ am Mit­telalter orientierten Programms beigetragen hat.
Nach einem knappen und etwas klischeehaft-schematischen Überblick über die katholische Theologie im 19. Jh. (die Schlagworte werden den Strömungen nicht immer gerecht, 17–23: Geschichtlichkeit in Tübingen, Rationalismus bei Hermes und Günther, französischer Traditionalismus) interpretiert der Vf. die aufkommende Neuscholastik zunächst als restaurative, weitgehend ungeschichtlich denkende Dialogverweigerung mit der Moderne (27–30). Die En­zyklika von 1879 gehörte zu den zentralen Anliegen Papst Leos XIII. und reihte sich in eine ganze Reihe von Maßnahmen ein, die dieser als überzeugter Thomist zur Erneuerung des scholastischen Denkens einleitete; an ihr wirkten wohl der päpstliche Bruder, Kardinal Giuseppe Pecci, Salvatore Talamo OP und als Endredakteur der Vertraute aus Perugia, Gabriele Boccali, mit. Mit der richtigen Philosophie und dem Aquinaten als »Fürst und Meister« der Scholastik wollte der Papst nicht nur Priesterausbildung und Kirche, sondern die gesamte Gesellschaft erneuern und von Grund auf heilen, nachdem falsche Philosophien die neuzeitlichen Menschen fehlgeleitet hätten. Freilich wurde darin auch zu einer Fruchtbarmachung, Erweiterung und Vervollkommnung des Alten aufgerufen, dem nicht in jedem Detail zu folgen sei und das man historisch noch tiefer erforschen solle (38–46).
Ehrle wurde von seinem Orden 1880 zu Forschungen im vatikanischen Geheimarchiv freigestellt, dessen Präfekt er 1890 als Nachfolger Hergenröthers und unter der Protektion Kardinal Rampollas wurde. Die ihm 1895 übertragene Leitung, Neuordnung und Mo­dernisierung der Vatikanischen Bibliothek beanspruchte je­doch bald so viel Kraft, dass sein wissenschaftliches Lebenswerk ein Torso blieb. Ehrles Klage gegenüber dem unter dem neuen Papst kaltgestellten Rampolla aus dem Jahre 1910, wie wenig Pius X. und Merry del Val seine Arbeit schätzten (64), wirft auf deren wissenschaftliche Interessen ein bezeichnendes Licht; 1912/1914 folgte Ehrles Entbindung zu Gunsten Achille Rattis. Als dieser 1922 Papst wurde, konnte die Kardinalskreation seines Vorgängers in der Präfektur der Bibliothek so auch als späte Anerkennung interpretiert werden.
Ehrles Ordensausbildung und seine Prägung durch das ultramontane Milieu des Kulturkampfes ließen ihn Aeterni patris als das wichtigste Dokument für die Theologie nach dem päpstlichen Syllabus feiern, da mit der Missachtung des Aquinaten der Verfall aller Wissenschaft begonnen habe. Freilich plädiert er bereits in seinem frühen Kommentar zu diesem Lehrschreiben für eine historische Erforschung und einen aktualisierenden Weiterbau auf den Fundamenten des hl. Thomas (80–87). Sein weiteres Lebenswerk steht nun im Dienste dieser beiden Zielsetzungen, was der Vf. an seinem Schrifttum immer wieder deutlich macht: Nur der Weg über die Historie ermöglichte in seinen Augen eine Aktualisierung der Anliegen der Scholastik und konnte die modernen Vorurteile gegen dieselben abbauen helfen: Das Aufgreifen des arabischen und jüdischen Wissens und der Naturforschung des Albertus Magnus, die Einbettung des Aquinaten in eine historische Problemkonstellation mit all den Schwierigkeiten einer lehramtlichen Rezeption des Aristotelismus, das Aufzeigen des Ideenpluralismus und -reichtums des Mittelalters durch kritische Handschrifteneditionen und die Scholastikrezeption und -interpretation in Salamanca im 16. Jh. könnten so zum Beispiel für die Gegenwart werden, in der auf dem Boden der Scholastik ein produktives Aufgreifen und Weiterdenken der modernen Probleme erst noch zu leisten sei. Der Thomis­mus wird so nicht nur als wahr statuiert, sondern gerade seine Dialog- und Integrationsfähigkeit und sein intellektuelles Kritikpotential gegenüber der Tradition werden hervorgehoben. So kann der Vf. die These, dass gerade die historische Erforschung der Scholastik zur Überwindung einer starren Systematik implizit und nichtintentional beigetragen habe, durchaus plausibel machen. In der Modernismuskrise blieb Ehrle der Kirchenleitung loyal und hatte für die eigentlichen Anliegen der Modernisten wohl auch kein Verständnis; dennoch stand er den päpstlich-kurialen Ex­trem­positionen distanziert gegenüber und versuchte vereinzelt als römischer Verbindungsmann deutscher Professoren zu vermitteln. Bei der Gründung des repressiv-reaktionären Päpstlichen Bi­belinstituts in Rom (1909) kam es zwischen der intransigenten und vom Papst unter stützten Gruppe um L. Pastor, A. M. Weiß, E. Michael S. J. und Bischof Keppler auf der einen, Rampolla und Ehrle auf der anderen Seite zu schweren Zerwürfnissen.
Ist diesen Grundeinsichten der Arbeit nur beizupflichten, so hätte man sich zu einem nuancierten Bild von Ehrles Scholastik-Rezeption eine breitere und umfänglichere Einbettung in die historische Erforschung der mittelalterlichen Theologie im 19. Jh. gewünscht, so singulär »wissenschaftliches Neuland« (182) scheint er eben doch nicht betreten zu haben. Ein breiter angelegter theologiegeschichtlicher Vergleich und eine weniger schematische Einbettung hätten unser Wissen mehr erweitert als ein biographischer Rahmen, zu dem viel Unbekanntes nicht zuzufügen war. Dennoch: Ein solider Überblick über das wissenschaftliche Lebenswerk Ehrles ist dem Vf. jedenfalls gelungen.