Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

839–841

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hohmann, Rainer

Titel/Untertitel:

Was heißt in der Geschichte stehen? Eine Studie zum Verhältnis von Geschichte und Menschsein.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2005. 421 S. gr.8° = Münchener philosophische Studien. Neue Folge, 25. Kart. EUR 35,00. ISBN 3-17-018796-1.

Rezensent:

Wilfried Eckey

Das lesenswerte Buch ist die überarbeitete Fassung einer 2002 mit gleichem Titel von der Münchener »Hochschule für Philosophie – Philosophische Fakultät SJ« angenommenen Dissertation. Eingangs fragt H., ob mit dem »im Leben stehen« und »in der Geschichte stehen« dasselbe gemeint ist oder ob das Stehen in der Geschichte nicht eher rückblickend erzählerisch reproduktiv vergegenwärtigende Nachbildung von früher Durchlebtem sei. Gibt es nur die Alternative zwischen dem Verstricktsein in Geschichte, die ge­schieht und deren Ausgang offen ist, als Grundform menschlicher Existenz und dem rückschauenden Stehen vor einer vergangenen, also von der Gegenwart getrennten Geschichte, die als »story« erzählend gegenwärtig gehalten und dabei auch durchschaut werden kann?
Im ersten Teil (35–105) geht es um die vom antiken, zu Historie eingedeutschten Begriff der historia als Wissensart einerseits und dem zuerst im von Notger dem Deutschen aus dem Wortfeld von casus und eventus gelösten »geskiht« als dem unter Gottes Vorsehung stehenden Geschehnis im Weltgeschehen andererseits ausgehende Un­ter­su­chung des Werdens eines spezifisch neuzeitlichen Ge­schichts­begriffs. H. zeigt auf, wie mit dem Aufkommen der Ge­schichts­philosophie im 18. Jh. und kulminierend im Deutschen Idealismus ein neuer Ge­schichtsbegriff entsteht, in dem »die Geschichte«, wiewohl vom Menschen gemacht, als transpersonales »eigentätiges Subjekt« fungiert. »›In der Geschichte stehen‹ heißt … zu dieser Zeit, im eigenen Handeln überein zu kommen mit der Bewegungsrichtung der selbständigen Geschichte« (61). Ge­schichts­philosophie wird zur »Fundamentalphilosophie, wo der Ort des Menschen die ›Welt als Geschichte‹ ist und man auf diesem, sich permanent verändernden Terrain Stand gewinnen muß« (63). Man befasst sich mit der Geschichte, weil man mit Geschichtswissen zur Klarheit über das Werden der eigenen Gegenwart und so zur Ausprägung eines geschichtlichen Selbstbewusstseins kommen will. Mit der Durchsetzung des Historismus und der Auflösung der Metaphysik im 19. Jh. erweisen sich auch die Annahmen einer allgemeinen Menschennatur und überzeitlichen Vernunft als hinfällig. Die Philosophie verliert ihren Fundierungsanspruch für die Fachwissenschaften.
Da Geschichte als Geschehen aus dem Wechselspiel menschlicher Handlungen, ihrer Folgen und unvorhersehbarer Widerfahrnisse, die der Handelnde nicht in der Hand hat, sondern die ihm als Schicksalsschlag oder als glückliche Fügung in die Quere kommen, besteht, skizziert H. eine Handlungstheorie (86–95). Als Wesensmerkmal menschlichen Handelns konstatiert er »das Auseinandertreten von Voraussicht und Durchführung« (89). Zudem unterscheiden sich die tatsächlichen Folgen menschlichen Verhaltens von den beabsichtigten oder in Kauf genommenen, so dass man die Absichten handelnder Personen nicht verlässlich aus den Konsequenzen ableiten kann (93 f.). »Kontingentes läßt sich nur erzählen, nicht jedoch ableiten oder erklären« (94), stellt H. mit H. Lübbe fest. »Spezifische historische Erklärungen sind … vorrangig narrativ …« (95), betont er im Anschluss an J. Rüsen. Erzählt werden besonders Ereignisse, während längerfristige, zum Dauerhaften tendierende natürliche und kulturelle Zustände – letztere nennt man gewöhnlich Tradition –, innerhalb derer Ereignisse spielen, als Geschichtsstrukturen beschrieben werden (100–105).
Im zweiten Teil (107–386) untersucht H., wie seine Leitfrage von Denkern des 20. Jh.s beantwortet wird. Ausführlich gewürdigt werden philosophische Bemühungen des Umgangs mit dem Ge­schichts­problem bei W. Dilthey (109–186) und M. Heidegger (187–281), O. Marquard (282–318), H. M. Baumgartner (319–344) und J. Rüsen (345–372). H. begründet seine Auswahl nicht. So ist es nicht einsichtig, weshalb E. Troeltsch mit seinem in der Krise des Historismus unternommenen und in vielem über seine Zeit hinaus noch gegenwärtig bedeutsamen geschichtsphilosophischen Versuch zur Kultursynthese des Europäismus nur im Kontext des Historismus kurz Erwähnung findet (73.75.77). Doch gelingt H. eine angemessene Darstellung und Beurteilung der Tragweite und Grenze des Diltheyschen Geschichtsdenkens, besonders seiner Programmidee einer ›Kritik der historischen Vernunft‹. Gelungen ist auch die Interpretation und Würdigung des Heideggerschen Denkweges von ›Sein und Zeit‹ hin zu ›Zeit und Sein‹ oder seines Ansatzes bei der »Geschichtlichkeit als Ursprung aller Geschichte« (221 ff.), deren Gründung in der existentialen Zeitlichkeit erfolgt (231 ff.), und der »existenzialen Interpretation der Historie als Wissenschaft« (246 ff.) hin zum »Rückgriff auf ein transsubjektives Sein, das sich wechselnd entbirgt, seinen Reichtum in unterschiedlichen Welten ausprägt, sich selbst dabei aber stets zurück­hält« (273). Menschen haben sich je in der Welt zu bewähren, in die gestellt zu sein ihr geschichtliches Geschick ist.
Da Marquards Philosophieren immer mehr auf den Abschied von der Geschichtsphilosophie und auf »eher zeitlose anthropologische Weisheiten im Umgang mit Erbe und Kritik« (317) zugelaufen ist, stellt sich die Frage, ob man nicht auf dessen Behandlung hätte verzichten können. Vermutlich wäre ein vertieftes Eingehen auf den ähnlich wie Marquard von Joach. Ritter ausgegangenen H. Lübbe mit seinen wichtigen Werken zum Geschichtsdenken, von denen ›Ge­schichtsbegriff und Geschichtsinteresse‹ (1977) erwähnt und zu­stim­mend zitiert wird (90 f.94.367.370 f.), ertragreicher gewesen.
Im Umkreis transzendentalphilosophischer Konstitutionslogik bewegt sich der »metaphysikkritische geschichtstheoretische Narrativismus, der Geschichte nur als Erzählung von ihr kennt, bewegt sich Baumgartners Geschichtsdenken« (319–344). Dessen Grenze sieht H. zu Recht darin, dass »die Angst heraufziehender Geschichtsmetaphysik« Baumgartner blind macht für die (im Text steht irrtümlich »den«) »mit jeder faktischen Existenz immer schon gegebene geschichtliche Lebenswelt, welcher sie sich zugehörig weiß und mit ihrem ›Konstituieren‹ von Partikulargeschichten vo­raus liegt« (342). Dennoch kommt auch seine metaphysikkritische Geschichtsphilosophie »nicht ohne den Rückgriff auf das Me­taphysicum schlechthin – das neuzeitliche Subiectum der Theorie aus« (343).
Schließlich geht H. auf die Geschichtstheorie J. Rüsens ein (345–386). Ihm geht es nicht nur um eine Historik, sondern auch um »die lebensweltlichen Ursprünge des historischen Denkens« und um seine »lebenspraktischen Funktionen kultureller Orientierung« (345). Sie kommen dadurch zu Stande, dass anfängliches Ge­schichts­bewusstsein in der Lebenspraxis der Umwandlung erfahrener oder erlittener Veränderung zu konkreten, künftig zu realisierenden Handlungsabsichten einerseits und zu einer in die Vergangenheit reichenden Identitätsbildung andererseits gründet, in der eine gemeinsame Erfahrungswelt durch Geschichtenerzählen aufgebaut und erhalten wird (346 f.). Das Geschichtenerzählen ist für Menschen unumgänglich, um in der Erfahrung der Veränderlichkeit zur Reife und Stabilität seiner selbst zu gelangen. Sie konstituieren und reproduzieren ihre individuelle und gemeinsame Welt durch das Erzählen von Geschichten, um sich im Wechsel der Zeit zu orientieren. Geschichtswissenschaft ist die »methodisch geregelte Aufarbeitung und Kritik lebensweltlich schon gegebener historischer Orientierungsmuster« (361). Das wird näher entfaltet. Eine Grenze dieser Geschichtstheorie sieht H. in ihrer rein be­wusst­seinstheoretischen Orientierung (371 f.).
Die letzte Antwort auf seine Leitfrage findet H. im Rückgang auf die Glaubenstradition der Juden und Christen, in der sich die Einsicht durchsetzte, das Menschsein müsse als »Unterwegssein zu einem Ziel« gelebt und verstanden werden (387). H. zeigt dies an E. Auerbachs Deutung von Gen 22 auf und sieht eine formale Ähnlichkeit den »geschichtlichen Schickungen« Gottes, von denen die biblische Tradition erzählt, mit den von Heidegger betonten »Stößen des Seins«. Die Erzählgemeinschaft, in der ein Mensch sich befindet, ist konstitutiv für sein Stehen in der Geschichte.