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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

828–830

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Zager, Werner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzer und das freie Chris­tentum. Impulse für heutiges Christsein. M. Beiträgen v. M. Aellig, C. Günzler, H. Langel, W. E. Müller, A. Rössler u. W. Zager.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2005. VIII, 188 S. 8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 3-7887-2133-2.

Rezensent:

Frank Jehle

Albert Schweitzer gehört zu den großen Außenseitern in der Theologie- und Kirchengeschichte des 20. Jh.s. Unvergessen, wenn auch in den letzten Jahren als zu patriarchalisch kritisiert, ist sein Wirken als »Urwalddoktor«. Ergreifend waren die Aufrufe des Hochbetagten gegen das atomare Wettrüsten. Seine Formel »Ehrfurcht vor dem Leben« und der Satz »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will« sind im Zeichen sich anbahnender Um­weltkatastrophen von hoher Aktualität. Theologiegeschichtlich gilt er (zusammen mit Johannes Weiss) als Überwinder des liberalen Jesusbildes. Anders als die ihm vorangegangene Generation zeigte er einen fremden und befremdenden Jesus. Insofern wurde er Wegbereiter der Neuorientierung der Theologie während und nach dem Ersten Weltkrieg.
Der »Bund für Freies Christentum« sorgt dafür, dass Schweitzer nicht vergessen wird. Im Rahmen seiner Jahrestagung im September 2004 in Frankfurt am Main wurden Vorträge über ihn gehalten, die der hier anzuzeigende Band einer weiteren Öffentlichkeit – er­gänzt durch einige andere Texte – vorlegt. Zwei Beiträge stammen vom Stuttgarter Pfarrer Andreas Rössler: »Albert Schweitzer und das freie Christentum« und »Der Gottesgedanke bei Albert Schweitzer«, zwei weitere vom Frankfurter Neutestamentler Werner Zager: »Albert Schweitzer als liberaler Bibelausleger« und »Die Rede vom heiligen Geist in Albert Schweitzers Predigten«. Claus Günzler, bis vor kurzem Vorstandsvorsitzender des Albert Schweitzer-Zentrums in Frankfurt am Main und Altmeister der Schweitzer-Forschung, handelt anhand von dessen Hibbort- und Gifford-Lectures von »Albert Schweitzer als liberale[m] Theologe[n]«. Wolfgang Erich Müller, Oldenburg, stellt »Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben« als »Schweitzers Ansatz einer dogmatisch wenig vorgeprägten Ethik« vor, während der in Bremen tätige Helmut Langel »Albert Schweitzer als liberale[n] Prediger« darstellt. Ergänzt wird der Band durch einen Aufsatz des Berner Pfarrers Markus Aellig über »Jesus von Nazareth und der christliche Glaube in der Theologie Martin Werners«.
Für alle, die Schweitzer nur wenig kennen, ist der Band ein guter Einstieg. Wertvoll sind die Zitate – bis hin zu einer Pfingstpredigt Schweitzers von 1905, als er – neben seiner wissenschaftlichen Tä­tigkeit – Hilfsprediger an St. Nicolai in Straßburg war. »Warum ist heute Pfingsten?« Schweitzer antwortet: »Da geht der Geist Jesu um und sucht bei den Menschen heilige Entschlüsse. Und wenn sie in Wahrhaftigkeit und Freudigkeit gefasst sind und sich ihm nur das Herz mit Jubel öffnet, zieht er ein und fängt seine Arbeit von neuem an, denn er verzagt nicht an uns.« Schon in einem früheren Abschnitt brachte der damals gut Dreißigjährige zum Ausdruck: »Alles erstickende und qualmende Feuer in den Menschenherzen ringsum wartet auf eine einzige hell lodernde Flamme, um selbst zum Brennen zu kommen; und wenn der heilige Geist in einem Menschen Kraft gewinnt, so weckt er, rein durch sich selbst, schlum­mernden Geist zum Leben.«
Nicht alle Beiträge sind gleich gelungen. Wenig ergiebig ist Wolfgang Erich Müllers Vergleich der Ethik Schweitzers mit derjenigen Emil Brunners, dessen im Jahr 1932 epochemachendes großes Buch »Das Gebot und die Ordnungen« unter anderem Karl Barth ausgerechnet zu wenig »dogmatisch« bzw. auf Gott bezogen war, da es dem menschlichen Verstand zu viel zutraute. Brunner übernahm früh Schweitzers Formel »Ehrfurcht vor dem Leben« – welche Barth 1951 in KD III, 4 dann ebenfalls rezipierte!
Andreas Rössler räumt mit dem Gerücht auf, das u. a. vom Philosophen Helmut Groos in die Welt gesetzt wurde, wonach Schweitzer nicht nur »die Grenze des alt- oder strenggläubigen Christentums« überschritten, sondern auch »ein sogenanntes ›freisinniges‹ oder ›Freies Christentum‹ … offensichtlich hinter sich gelassen« habe. Rössler zeigt, dass man Schweitzer das Christsein nur absprechen kann, wenn man von einer zu engen Definition des Christentums ausgeht.
Aus einer tiefen Scheu vor dem Geheimnis Gottes verzichtete Schweitzer bewusst auf eine ausgeführte »Theologie« im engeren Sinne dieses Wortes. Offen räumte er ein, dass es ihm nicht möglich sei, den Konflikt zwischen – plakativ gesagt – Pantheismus und Theismus begrifflich aufzulösen. Gott, wie Schweitzer ihn erfuhr, ist einerseits die unpersönliche Kraft der Natur und andererseits unbedingter sittlicher Wille – und damit personal: »In der Natur tritt uns der unendliche Geist als rätselhaft schöpferische Kraft entgegen. In unserem Willen zum Leben erlebt er sich in uns als welt- und lebensbejahendes und als ethisches Wollen.« »›Unser Wissen ist Stückwerk‹, sagt der Apostel Paulus. Damit ist viel zu wenig gesagt. Noch schwerer ist, dass unser Wissen eine Einsicht in unlösbare Gegensätze bedeutet – alle zurückgehend auf den einen, dass das Gesetz, nach dem sich das Geschehen in der Welt vollzieht, nichts von dem an sich hat, was wir als sittlich erkennen und empfinden.«
Schweitzer ist ein bescheidener Denker und verzichtet bewusst auf »logisch geschlossene Erkenntnis«. Seine Äußerungen sind von einer tiefen Frömmigkeit geprägt: »Ich bin Liebe, sagt er [Gott], und meine Liebe soll durch euch getan werden.« »Ist wirklich erkannt, dass Gott die Liebe ist, zehrt diese Vorstellung von Gott alle andern auf, dass sie wie durchsichtige Hüllen darum herum sind – leuchtet von innen durch. Alle andern Vorstellungen von Gott [sind] etwas Relatives und Nebensächliches.« »Bei Jesus werden sie [die Menschen] von dem Liebeswillen Gottes ergriffen und müssen helfen, ihn in dieser Welt zu verwirklichen, im Kleinen wie im Großen, im Retten wie im Verzeihen. Schon in dieser unvollkommenen Welt frohe Werkzeuge der Liebe Gottes zu sein, ist ihr Beruf und die Vorstufe zur Seligkeit, die ihnen in der vollendeten Welt des Reiches Gottes beschieden ist.« Es besteht kein Zweifel, dass Schweitzer das wirklich ernst gemeint hat.
Zum Schluss eine kritische Bemerkung – weniger an die Adresse Albert Schweitzers (ein wenig auch), vor allem aber an diejenige der heutigen Vertreter eines »freien Christentums«: Stellen sich diese ihre Gegenpartei – die »dogmengebundenen« Theologen – nicht etwas zu finster vor? Gibt es abgesehen von fundamentalistischen Kreisen wirklich dieses traditionsbestimmte Christentum, das »der nicht hinterfragten Autorität von Bibel, Bekenntnis und Kirche« verpflichtet ist und dem »ein freies, ganz der intellektuellen Redlichkeit und damit dem Zusammenklang von Vernunft und Erfahrung« ergebenes gegenübersteht? Der alt gewordene Karl Barth sagte einmal, auch er sei »liberal«, er nehme sich bloß die Freiheit, auch die alten orthodoxen Theologen zu lesen. Barths Lebenswerk bezeugt, wie unbefangen er mit dem Trinitätsdogma und der calvinistischen Prädestinations lehre umging. Umgekehrt: War Albert Schweitzer völlig frei von Dogmen – und hätte er völlig frei davon sein sollen? Verhält es sich nicht so, dass seine innige Jesusfrömmigkeit von einer unausgesprochenen, aber doch vorhandenen »dogmatischen« Vorentscheidung getragen wurde? – Umso mehr macht das hier angezeigte Buch Lust, Schweitzer selbst zu lesen.