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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

823–826

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dörfler-Dierken, Angelika

Titel/Untertitel:

Luthertum und Demokratie. Deutsche und amerikanische Theologen des 19. Jahrhunderts zu Staat, Gesellschaft und Kirche.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 448 S. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 75. Geb. EUR 72,00. ISBN 978-3-525-55183-7.

Rezensent:

Markus Wriedt

Dieses Buch ist in vielfacher Hinsicht von Bedeutung. Zunächst nimmt die in Heidelberg 1998 als kirchengeschichtliche Habilitationsschrift angenommene Studie das große Thema des Verhältnisses von Theologie und Politik an markanter Stelle auf. Werden doch im 19. Jh. entscheidende Weichen für die im 20. Jh. teilweise tragische Verwicklung der Theologie, insbesondere die des Luthertums, in das politische Tagesgeschehen gestellt. Des Weiteren wird der lange überfällige Transformationsprozess europäischer, speziell deutscher Theologie auf dem nordamerikanischen Kontinent thematisiert und einem Vergleich unterzogen. So sehr für die Frühzeit der Entwicklung in den nordamerikanischen Kolonien das europäische Erbe betont wurde, so wenig ist die weitere und durchaus selbständige theologische Entwicklung seit der politischen Unabhängigkeit und unter den Bedingungen der Industrialisierung, der Westdrift der europäischen Kultur und ihrer dominierenden Kulturauswirkung auf andere Kulturformen sowie schließlich der sich im Einwanderungsland stellenden Problematik des Kulturaustausches und -transfers historisch aufgegriffen worden. Dies alles geschieht im Fokus der insbesondere für deutsche Augen und Ohren hochvirulenten Frage nach der politisch-ethischen Bedeutung des Luthertums für die theoretische Grundlegung der Demokratie und dessen weiterer Unterstützung dieser Gesellschaftsform. Dass diese Fragenkreise insbesondere aus dem Blickwinkel der späteren Entwicklung, eben der das Luthertum schwer belastenden jüngeren deutschen Vergangenheit, ihre be­sondere Bedeutung erhalten, ist D.-D. bewusst, muss aber die me­thodisch-hermeneutische Ausrichtung der Untersuchung nicht belasten.
D.-D. geht in ihrer Arbeit von der grundsätzlichen Hypothese aus, »dass die angebliche Demokratieunfähigkeit von Theologen aus der lutherischen Tradition ihre Wurzeln nicht in der Theologie Luthers hat, sondern im jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Kontext der Lutheraner« (17). Aus diesen Gründen untersucht sie zunächst den sozialen, gesellschaftlichen und politischen Kontext von jeweils zwei Vertretern der in der Kirchengeschichte des 19. Jh.s unterschiedenen zwei Hauptströmungen evangelischer Soziallehre: Für die liberale politische Ethik wählt sie Richard Rothe (1799–1867) und Samuel Simon Schmucker (1799–1873), für die konservative Ausrichtung Christoph Ernst Luthardt (1823–1902) und Carl Ferdinand Wilhelm Walther (1811–1887). Bereits die theologiegeschichtlichen Klassifizierungen der einzelnen Theologen als Vermittlungstheologen (Rothe), aufgeklärten Pietisten (Schmucker), Erlangener Neulutheraner (Luthardt) und Repristinationstheologen (Walther; 15 f.) macht das Wagnis des Vergleiches deutlich. So berechtigt diese Etikettierungen auch sein mögen, so sehr deuten sie auch auf die inhaltlichen Inkompatibilitäten, welche die Zuschreibung als Vertreter des deutschen bzw. amerikanischen Luthertums einschränken. Dazu treten die im Interesse der Kontextualisierung zu berücksichtigenden lebensgeschichtlichen Un­terschiede, wie sie beispielsweise das Œuvre Schmuckers als eines auf dem nordamerikanischen Kontinent geborenen und ausgebildeten Lutheraners von dem Walthers als eines Einwanderers aus Sachsen prägen (vgl. den Anhang, 363–371). Schon im Vorwort weist D.-D. darauf hin, dass die Zuweisung Rothes zum Luthertum umstritten ist. Sie begründet ihre Auswahl auch »weniger entsprechend ihrer Bedeutung für die Geschichte der lutherischen beziehungsweise evangelischen Ethik als einer akademischen Disziplin als entsprechend ihrer Bedeutung für die Lutheraner des 19. Jahrhunderts. Dabei ist der Begriff von Lutheraner und Luthertum, dessen sich die vorliegende Studie bedient, nicht normativ-dogmatisch bestimmt; es wird also nicht untersucht, ob einer der ausge wählten Theologen mit Recht oder zu Unrecht als Lutheraner bezeichnet wird beziehungsweise sich selbst als einen solchen bezeichnet hat.« (20) Die Diskussionswürdigkeit des gewählten methodischen Ansatzes wird verstärkt durch die Tatsache, dass die Theologen untereinander kaum oder keinen Kontakt hatten bzw. von den jeweiligen Entwürfen Kenntnis nahmen, sowie den im­merhin eine Generation betreffenden Altersunterschied zwischen Rothe und Schmucker einerseits und Luthardt und Walther andererseits. Es spricht für die methodische Redlichkeit, dass D.-D. dies alles in ihren einleitenden Bemerkungen thematisiert und sowohl in heuristischer wie in analytischer Perspektive ein hohes Problembewusstsein dokumentiert.
Der Ansatz verdankt sich in mancher Hinsicht den fast schon als klassisch geltenden religionssoziologischen Entwürfen von Ernst Troeltsch und Max Weber. Trotz dieser methodisch-hermeneutischen Verwandtschaft bewahrt die Studie ihre Eigenständigkeit, und D.-D. betont völlig zu Recht, dass sowohl die einzelnen Protagonisten der Studie in der jüngeren kirchenhistorischen Forschung kaum einer intensiveren Beschäftigung unterzogen wurden noch der Vergleich über den Atlantik hinweg bisher thematisiert wurde. Dies kann sie in einem denkbar knappen Bericht zur wenig ausgeprägten Forschung zu diesem Thema (29–32) be­legen.
Die Arbeit ist sodann in vier Teile gegliedert. Jeder Teil stellt zunächst die Grundzüge des jeweiligen sozialethischen Systems im Blick auf dessen Verhältnis zur Heiligen Schrift, zum theologischen Erbe Luthers und zu der lutherischen Tradition sowie zur Vernunft dar. Anschließend werden die systematischen Topoi Staat, Gesellschaft und Kirche systemimmanent erarbeitet. In starker Verkürzung kommt D.-D. zu dem Ergebnis, dass bei Rothe der Staat zur Kirche wird, während Walther die Kirche als einen Staat im Staate skizziert. Schmucker und Luthardt betonen demgegenüber stärker die Notwendigkeit sowohl des Staates wie der Kirche als auch ihre Unterschiedenheit. Während bei Schmucker die Kirche dem Staat gegenüber im Amt des Wächters zu denken ist, sieht Luthardt die harmonische Zusammenarbeit beider Größen (33).
Diese sehr knappe Zusammenfassung wird im Folgenden auf Grund einer sorgfältigen Analyse des Schrifttums der vier Theologen belegt. Die jeweils knapp 70–80 Seiten starken Zusammenfassungen des gedruckten Werkes im Blick auf die Leitthemen der Untersuchung sind nicht frei von Verkürzungen und Fokussierungen. Das freilich liegt im Stil der Untersuchung. Über sie im Einzelnen zu rechten, wäre unbillig. Entscheidend ist vielmehr, dass der historische Kontext nur teilweise zur Sprache kommt, stattdessen aber ein statistischer und historisch-religionssoziologischer Vergleich der Kirchen in Deutschland und in den USA der Detailanalyse vorangestellt wird. Das ist sicherlich im Sinne der Kontextualisierung ein möglicher Weg, doch an mancher Stelle wäre wohl eine tiefer gehende Berücksichtigung des jeweiligen historischen Kon textes zu wünschen gewesen. Freilich wäre dies zu Lasten von Umfang und Übersichtlichkeit der Studie gegangen und muss im Kontext einer Studie des oben skizzierten methodischen Zu­schnitts – deskriptiv-genetisch (6) – nicht erwartet werden.
Den Abschluss bildet ein in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht hochaktuell zugespitzt formuliertes Kapitel unter der Überschrift »Luther als Argument für Demokratie und Demokratisierung?« (335–361) Darin fasst D.-D. ihre Untersuchung unter den genannten Leitthemen zusammen und sucht eine Verständnishilfe für ihre These zu geben, »warum einerseits das deutsche Luthertum in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu jenen gesellschaftlichen Kräften gehörte, die den Institutionen der parlamentarischen Demokratie von Weimar die Legitimität absprachen, und warum andererseits das amerikanische Luthertum bis heute eine marginale Stellung und Bedeutung im öffentlichen Leben der Vereinigten Staaten von Amerika innehat« (33).
Ohne Zweifel macht diese Zielsetzung den Reiz – und in ihrer Durchführung auch gewiss den Wert – der Untersuchung aus. Freilich birgt diese aktualisierende Zuspitzung auch ihre Probleme, muss doch in rezeptionstheoretischer Perspektive zunächst gefragt werden, worin das erkenntnisleitende Interesse der Fragestellung und anschließenden textbezogenen Analyse besteht und wieweit es das Untersuchungsergebnis beeinflusst. Mit dieser hermeneutischen Frage ist nicht die Legitimität des Verfahrens in Frage ge­stellt, sondern vielmehr die Notwendigkeit der hermeneutischen Rechenschaft angemahnt. Die Voraussetzungen, von denen her D.-D. ihre Arbeit beginnt, werden vielerorts geteilt. Dennoch ist zu fragen, ob diese so richtig sind.
Kann man von einer antidemokratischen Tradition der deutschen evangelischen Kirche(n) – gemeint ist hierbei vor allem deren lutherischer Zweig – sprechen und darf man die möglicherweise marginalisierten demokratischen Tendenzen so ganz vernachlässigen? Das im letzten Kapitel problematisierte Erbe Luthers im Blick auf seine Verwendbarkeit im sozialethischen Diskurs über die politisch-gesellschaftliche Verfassung moderner Staaten hin zu befragen, ist legitim. Freilich muss mit größter Vorsicht zwischen Luther, seinen jeweiligen Erben und deren gesellschaftlicher Verwurzelung geschieden werden. Das tut D.-D. – freilich mit unterschiedlicher Intensität.
Ihre erkenntnisleitenden Voraussetzungen sind zumindest teilweise zu hinterfragen. Die o. g. These von der marginalen Bedeutung des Luthertums bedarf beispielsweise einer differenzierten Kritik. Vor dem Hintergrund einer religionssoziologisch intendierten, statistischen Erhebung kann das Urteil be­stehen. Im Blick auf die faktische Einflussnahme insbesondere der Vertreter des konservativen Luthertums – nicht zu sprechen von jenen Lutheranern, auf die der Begriff des Fundamentalismus zweifelsfrei angewendet werden kann – auf die jüngere amerikanische Politik kann von einer marginalen Bedeutung kaum mehr geredet werden. Vielmehr ist zu fragen, warum eine zahlenmäßig marginale Gruppe einen so hohen Stellenwert im politischen Diskurs beanspruchen kann. Ob dazu der Rekurs auf das zu Recht oder Unrecht beanspruchte Erbe Luthers als Erklärungshilfe ausreicht, mag füglich bezweifelt werden.

Dieser Einwand kann das bleibende kirchenhistorische Verdienst der Studie nicht schmälern. Vielmehr mag er deutlich ma­chen, wie wichtig auch das methodenorientierte Gespräch über die histo­rischen Themen ist, dessen Ergebnisse für den aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs von immenser Bedeutung sein können. Dass dabei stets die Gefahr positioneller Vereinnahmung und anachronistischer Systematisierung droht, ist nicht zuletzt D.-D. stets bewusst gewesen und darf ihr nicht angelastet werden. Umso mehr bleibt zu wünschen, dass das Buch und seine Ergebnisse sowie Anregungen – gerade auch im Blick auf die sich aktuell ab­zeichnende Veränderung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses – intensiv gelesen und diskutiert wird.