Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

813–815

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Klueting, Harm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss. Säkularisation, Mediatisierung und Modernisierung zwischen Altem Reich und neuer Staatlichkeit. Tagung der Historischen Kommission für Westfalen vom 3.–5. April 2003 in Corvey.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2005. IV, 432 S. gr.8° = Schriften der Historischen Kommission für Westfalen, 19. Geb. EUR 32,00. ISBN 3-402-05616-X.

Rezensent:

Detlef Döring

Noch vor wenigen Jahren konnten selbst historisch Interessierte wohl nur wenig mit dem etwas sperrigen Begriff Reichsdeputationshauptschluss anfangen, der die Gebietsentschädigungen für diejenigen Reichsstände festlegte, die ihre linksrheinischen Territorien an Frankreich verloren hatten. Zugleich bedeutete er die letzte Reform des Reiches vor dessen Untergang. Das Jahr 2003, in dem sich jenes Ereignis zum 200. Male jährte, hat eine gewisse Änderung der Bewusstseinslage herbeigeführt, denn in Ausstellungen, Tagungen und Vorträgen, die von entsprechenden Publikationen begleitet waren, ist an jenes Ereignis erinnert worden. Tatsächlich bildet der am 25. Februar 1803 in Regensburg deklarierte Hauptschluss der vom Reichstag eingesetzten Deputation das vorweggenommene Ende des Reiches, das in förmlicher Weise bekanntlich drei Jahre später erfolgte. Zumindest in der protestantisch beeinflussten Historiographie sind jene Beschlüsse, auch wenn die äußeren Umstände ihres Zustandekommens (Druck Napoleons) beklagt wurden, als ein entscheidender Schritt in Richtung der Modernisierung Deutschlands gefeiert worden. Ein frühes Zeugnis bildet Friedrich Christoph Schlossers immer wieder aufgelegte Weltgeschichte: »Freilich hatte Deutschland ... den Vorteil, daß die zur lächerlichen und zugleich grundverderblichen Karikatur gewordene Vielherrschaft vermindert wurde, daß die Pfaffen ihre weltliche Macht verloren, daß ... das Kleinliche der Duodezstaaten und mancher verjährter Mißbrauch, den man sonst noch bis ans Ende der Welt würde haben fortbestehen lassen, auf immer verschwanden.«
In Verbindung mit der Aufwertung, die das Alte Reich der Frühen Neuzeit seit einigen Jahrzehnten erfährt, differenziert sich auch der Blick auf den Reichsdeputationshauptschluss, d. h. man versucht seine Vorteile und seine Nachteile im Prozess der Herausbildung der Moderne abzuwägen, oder es wird darüber nachgedacht, ob das Reich in seiner 1803 reformierten Verfassung nicht doch eine Überlebenschance besessen hätte. In diesem Kontext ist der hier anzuzeigende Sammelband zu sehen, der auf eine Tagung zurückgeht, die 2003 von der Historischen Kommission in Westfalen in Corvey gehalten worden ist. 18 Vorträge beleuchten das Thema unter grundsätzlichen Perspektiven und anhand von Fall­beispielen. Die drei Grundsatzreferate konzentrieren sich auf das Problem der Säkularisation. Hartmut Lehmann untersucht den Wandel der Definitionen von Säkularisation und Säkularisierung in den Lexika des 18. bis 20. Jh.s. Eine klare Trennung der Begriffe, wonach Erstere die Überführung kirchlichen Eigentums in weltliche Hände bezeichnet, Letztere aber die allgemeine Entchristlichung der Gesellschaft meint, ist überraschenderweise erst im letzten Drittel des vergangenen Jh.s erfolgt. Noch heute kann man in der Publizistik auf die Verwechslung beider Termini stoßen. In den meisten Beiträgen des Bandes wird unterstrichen, dass die Säkularisation von 1803 kein Ereignis war, das aus dem Ungefähren über die katholische Kirche hereinbrach, sondern eine lange Vorgeschichte hinter sich hatte. Insbesondere war es das Zeitalter der Aufklärung, das unter den Gesichtspunkten des Utilitarismus und der Staatsräson die Existenzberechtigung von Klöstern und geistlichen Fürstentümern zunehmend in Frage stellte, und zwar nicht nur auf protestantischer Seite, sondern durchaus auch im katholischen Lager.
Dezidiert findet sich diese Betrachtung im zweiten einführenden Referat, das aus der Feder des Herausgebers stammt und im weiten Überblick die Beziehung von Staat und Kirche zueinander betrachtet: Der »Griff des Staates nach der Kirche« lässt sich weit zurückverfolgen. Klueting setzt seine Darstellung in der Zeit von Bonifaz VIII. ein und führt sie bis auf die Gegenwart. In seiner didaktischen Anlage, vor allem in der eindrucksvollen Auflis­tung ganzer Bibliotheken an Literatur, weist der Beitrag allerdings eher den Charakter eines Handbuchartikels auf. Ganz im Bereich der Historie bleibt Winfried Müller, der den Umgang der weltlichen Gewalten mit dem Kirchengut seit der Zeit der Reformation untersucht. Dabei unterstreicht er die immer deutlicher werdenden Parallelen zwischen dem Vorgehen der protestantischen und der katholischen Obrigkeiten. 1803 gab es eigentlich keinen Unterschied mehr, beide Konfessionsparteien suchten den größtmöglichen Vorteil aus der Säkularisation der Kirchengüter zu erlangen.
Die Fallbeispiele sind angesichts der Veranstalterin der Tagung geographisch verständlicherweise hauptsächlich in Westfalen an­gesiedelt (u. a. Münster, Paderborn, Königreich Westfalen, Großherzogtum Berg), was allerdings auch aus übergreifenden Ge­sichtspunkten als legitim erscheint, denn Westfalen zählte zu den Gebieten, die vom Reichsdeputationshauptschluss am stärksten betroffen wurden. Jedoch finden sich im Band auch zwei Aufsätze zu den Auswirkungen der Regensburger Beschlüsse auf Bayern und Schwaben. Behandelten die drei Grundsatzreferate hauptsächlich den Aspekt der Säkularisation, so berücksichtigen nicht wenige der folgenden Texte auch andere Fragen, vor allem die Folgen des Reichsdeputationshauptschlusses für die einzelnen säkularisierten und mediatisierten Territorien. Die Antworten sind nicht mehr so eindeutig, wie sie einstmals der oben zitierte Historiker Schlosser gegeben hat. Häufig wird auf die weitgreifende Vernichtung kultureller Überlieferungen (Bibliotheken, Archive, Kunstwerke) hingewiesen, was mitunter auf den Widerstand der Bevölkerung stieß (vgl. den Beitrag von Jutta Prieur über die Aufhebung der Männerklöster im Hochstift Paderborn). Wenn man das Alte Reich nicht nur als Verfallsepoche wertet, sondern als Modell, das Alternativen zur Entwick­lung des 19. Jh.s hätte zeigen können, wird der Reichsdeputationshauptschluss als ambivalentes Geschehen betrachtet, so bei Joachim Schmiedl in seinem Referat zur »Mentalitätsgeschichte der Säkularisation in Westfalen«, der u. a. in den Formen des kirchlichen Lebens vor der Säkularisation eine Alternative zur pfarrlichen Struktur der Gegenwart erkennen will. Ähnlich argumentiert Marcel Albert (Die westfälischen Benediktinerklöster am Vorabend der Säkularisation), für den der Zusammenbruch der überlieferten Form des kirchlichen Lebens das Ende von Vielfalt und Differenzierung bedeutet. Die Bevölkerung sei der kulturellen Ausstrahlung der Klöster und deren Sozialfürsorge beraubt worden.
Unstrittig ist es andererseits, dass viele der säkularisierten Territorien nachhaltige Modernisierungsimpulse (vor allem auf den Gebieten der Gesetzgebung und der Administration) empfingen, die die alte ständische Gesellschaft in ihrer Struktur zumindest aufbrachen. Rudolfine Freiin von Oer belegt dies am Beispiel der Bistümer Münster und Paderborn, die in preußische Hand gerieten, Klaus Rob am berühmt-berüchtigten Königreich Westphalen des Napoleon-Bruders Jérôme (störend das fast völlige Fehlen von Quellennachweisen). Gleiches gilt für den Aufsatz von Jörg Engelbrecht über das Großherzogtum Berg als napoleonischer Modellstaat. Konterkariert wurde dieser Prozess freilich durch die militärischen Ambitionen Frankreichs, für das die beherrschten deutschen Länder doch in der Hauptsache unter den Gesichtspunkten der Kontributionen und der Rekrutenaushebung Bedeutung be­saßen.
Sehr ausführliche Biogramme der Autoren, die bis zur Angabe von Abiturnoten gehen, beschließen den Band, der als anregender Beitrag zu der seit Jahren intensiv betriebenen Diskussion über das Ende des Alten Reiches zu werten ist.