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Ausgabe:

Juli/August/2007

Spalte:

800–803

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ratzinger, Joseph/Benedikt XVI.

Titel/Untertitel:

Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung.

Verlag:

Freiburg- Basel-Wien: Herder 2007. 447 S. 8°. Geb. EUR 24,00. ISBN 978-3-451-29861-5.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Das Jesus-Buch des Papstes verdient und findet Beachtung bei Bi­bel­wissenschaftlern ebenso wie bei Dogmatikern, bei Intellektuellen wie bei Gemeindegliedern, bei Katholiken, Protestanten und Konfessionslosen. Dem Leserkreis der ThLZ soll es hier lediglich un­ter dem Aspekt seines Beitrags zur wissenschaftlichen Theo­logie kurz vorgestellt werden. Ausführlichere Würdigungen, u. a. auch durch den Rezensenten, finden sich z. B. bei T. Söding (Hrsg.), Das Jesus-Buch des Papstes. Die Antwort der Neutestamentler, Freiburg 2007.
Im Vorwort gibt der Vf. Auskunft über seine theologischen und methodisch-hermeneutischen Prämissen. Die historische Methode betrachtet er als »unverzichtbare Dimension der exegetischen Arbeit«, weil »Geschichte, Faktizität« im Sinne des et incarnatus est, des »tatsächlichen Hereintreten[s] Gottes in die reale Geschichte« »wesentlich zum christlichen Glauben gehört« (14). Die historisch-kritische Exegese muss aber in ihren Grenzen erkannt und zu einer theologischen Erfassung des Gesamtsinnes der Heiligen Schrift hin überschritten werden, wofür die »kanonische Exegese« in den vergangenen drei Jahrzehnten wesentliche Weichenstellungen vorgenommen hat. Ziel solcher Überschreitung der historischen Analyse ist die Vergegenwärtigung des Schriftzeugnisses, das über sich selbst hinausweist: »Im vergangenen Wort wird die Frage nach seinem Heute vernehmbar; im Menschenwort klingt Größeres auf« (16 f.). Daraus folgt für seine Darstellung Jesu, dass der Vf. auf der Grundlage historisch-exegetischer Erkenntnisse der modernen Jesus-Forschung »den Versuch machen (will), einmal den Jesus der Evangelien als den wirklichen Jesus, als den ›historischen Jesus‹ im eigentlichen Sinn darzustellen« (20), eine Intention, die an den berühmten Vortrag »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus« von Martin Kähler aus dem Jahr 1892 erinnert, auf den der Vf. allerdings keinen Bezug nimmt.
Die Darstellung selbst ist biblisch-chronologisch aufgebaut, d.h., sie folgt in Grundzügen der Jesus-Erzählung der Evangelien, im Besonderen nach Matthäus, freilich ohne die Geburts- und Kindheitsgeschichten, die für den zweiten Band aufgespart werden. Somit wird ein großer Bogen geschlagen von der Taufe und der Versuchung Jesu über die Reich-Gottes-Verkündigung, die Bergpredigt (mit einem eigenen Kapitel zum Vaterunser), einen Ab­schnitt zu den Jüngern, zwei ausführliche Kapitel zu den synoptischen Gleichnissen und den johanneischen Bildreden bis hin zum Petrus-Be­kenntnis und zur Verklärung. Am Ende steht ein Kapitel zu den Selbstaussagen Jesu. Passions- und Ostergeschehen sind zwar gelegentlich schon als Horizont im Blick, sollen aber zusam­menhän­gend erst im zweiten Band dargestellt werden, was eine Gesamtwürdigung des Werkes naturgemäß unter Vorbehalt stellen muss.
Für dessen Beurteilung entscheidend ist es, seine Intention und seinen methodischen Ansatz in Rechnung zu stellen, wie sie oben skizziert wurden. Immer geht es dem Vf. darum, nicht bei einer historischen Analyse und Rekonstruktion von Einzelphänomenen stehen zu bleiben, sondern jeweils in den einzelnen Ereignissen, Worten, Momenten der Verkündigung und des Handelns Jesu das Ganze seines Wirkens zu entdecken. Ein solcher Zugang zur Jesus-Überlieferung setzt den Blickwinkel des Passions- und Ostergeschehens, letztlich die Perspektive des Glaubens der Kirche voraus. Genau diesen Blickwinkel benennt der Vf. ausdrücklich als den von ihm gewählten, und aus dieser Perspektive gelangt er zu seinen eindrucksvollen Textauslegungen. In bemerkenswerter Dichte und Differenziertheit, die erkennbar gesättigt ist von intensiver Be­schäftigung mit der Fachexegese, werden Grundzüge des Wirkens Jesu plastisch herausgearbeitet und immer wieder auch mit ak­tuellen Fragen des Glaubens, der Kirche und der gesellschaftlichen Gegenwart in Beziehung gesetzt, eine gelungene Vergegenwärtigung des Wortes der Heiligen Schrift, die nur voller Hochachtung zur Kenntnis genommen werden kann.
Exemplarisch sei der Auslegungsweg des Vf.s an der Behandlung der Taufe Jesu aufgezeigt (36–51). Einsetzend bei der Verknüpfung der Taufszene mit den »Vorgeschichten« bei Mt und Lk und ihren je eigenen Akzenten, werden zunächst die zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Auftretens des Täufers benannt. Sie werden in Beziehung gesetzt mit der Situation Israels zur Zeit Jesu im Licht der Verheißungen der Schrift. Das Auftreten des Täufers erscheint in diesem Licht als neues Handeln Gottes in der Geschichte, an dem die von Johannes Getauften durch Buße und Vergebung ihrer Sünden Anteil bekommen. Den entscheidend neuen Aspekt an der Taufe Jesu entwickelt der Vf. anhand des Dialogs zwischen Jesus und dem Täufer nach Mt 3,14 f. Jesus will sich von Johannes taufen lassen, um »die ganze Gerechtigkeit zu erfüllen«. Ausgehend von dem Sinngehalt des Wortes Gerechtigkeit im biblischen Kontext als Antwort des Menschen auf die Tora, als Annehmen von Gottes ganzem Willen, liegt im Hinabsteigen Jesu in die Taufe, »in diesem Ja zum ganzen Willen Gottes in einer von der Sünde gekennzeichneten Welt auch ein Ausdruck der Solidarität mit den Menschen, die schuldig geworden sind, sich aber nach der Gerechtigkeit ausstrecken« (44). Die ganze Bedeutung dieses Vorgangs kann freilich erst von Kreuz und Auferstehung Jesu her erkennbar werden, also in der Glaubensperspektive der Christenheit. Sie bekennt: »Jesus hatte die Last der Schuld der ganzen Menschheit auf seine Schultern geladen; er trug sie den Jordan hinunter. Er eröffnet sein Wirken damit, dass er an den Platz der Sünder tritt … Die Taufe ist Todesannahme für die Sünden der Menschheit, und die Taufstimme – ›Dies ist mein geliebter Sohn‹ – ist Vorverweis auf die Auferstehung.« (44 f.)
Von dem Gedanken der Antizipation des Kreuzes- und Ostergeschehens her kann dann auch die christliche Taufe in der Taufe Jesu durch Johannes theologisch verankert werden, wie es in der liturgischen und ikonographischen Tradition der Kirche getan wird. »Die Taufe, die die Jünger Jesu seitdem spenden, ist Eintreten in die Taufe Jesu – in die Wirklichkeit, die er damit vorweggenommen hat. So wird man Christ.« (50) Aber auch andere biblische Motive wie die Bezeichnung Jesu als Lamm Gottes in Joh 1,29 können dazu dienen, den kreuzestheologischen Charakter von Jesu Taufe zu erschließen. Und in den Taufszenen der Evangelien deutet sich in der je unterschiedlich formulierten Proklamation Jesu als Sohn des Vaters durch den Geist »das Geheimnis des trinitarischen Gottes« an, »das sich freilich erst im Ganzen von Jesu Weg in seiner Tiefe enthüllen kann« (50). So lassen die Evangelientexte zur Taufe Jesu durch Johannes »uns die innere Einheit seines Weges vom ersten Augenblick seines Lebens bis hin zu Kreuz und Auferstehung erkennen« (51).
Ist somit in der christologischen Interpretation aller Einzelzüge der Jesus-Geschichte aus der Perspektive des Osterglaubens ein charakteristischer Zug der Jesus-Darstellung des Vf.s aufgewiesen, so liegt ein weiterer in der betonten Herausstellung der Geschichtlichkeit Jesu. Sie sei, wiederum exemplarisch, an seiner Behandlung der johanneischen Frage illustriert (260–280). Ausgehend von der in der Johannes-Forschung inzwischen vollzogenen Abkehr von der gnostischen Interpretation durch Rudolf Bultmann, lässt der Vf. sich von Martin Hengel, Rudolf Pesch, Peter Stuhlmacher, Henri Cazelles u. a. zu einer Sicht führen, die den Verfasser des vierten Evangeliums ganz in den Überlieferungen und der Lebenswelt des Judentums in Palästina im 1. Jh. n. Chr. verwurzelt sieht. Ein Stück über sie hinausgehend, stellt er die Möglichkeit vor Augen, »im Zebedaiden Johannes jenen Zeugen zu sehen, der feierlich für seine Augenzeugenschaft eintritt (19,35) und sich damit als der wahre Autor des Evangeliums identifiziert«, freilich nicht ohne sogleich »die Komplexität in der Redaktion des Evangeliums« in Rechnung zu stellen, die »doch weitere Fragen auf[gebe]« (267).
Wichtiger als solche Identifizierungen von Traditionsträgern ist ihm aber die Geschichtlichkeit der Darstellung, »die besondere Art von Historizität, um die es im vierten Evangelium geht« (271). Sie wird im kritischen Dialog mit Martin Hengel durch die Zuordnung von fünf Faktoren bei der Textgestaltung herausgearbeitet: der theologische Gestaltungswille des Autors, seine persönliche Erinnerung, die kirchliche Tradition, die geschichtliche Wirklichkeit und das deutende Zeugnis des Geist-Parakleten. Entscheidende Bedeutung kommt dabei dem Element des Erinnerns zu.
Es ist »nie bloß privates Erinnern, sondern es ist Erinnern in und mit dem Wir der Kirche … Weil das Erinnern, das die Grundlage des Evangeliums bildet, durch die Einfügung in das Gedächtnis der Kirche gereinigt und vertieft wird, ist darin in der Tat das bloß banale Tatsachengedächtnis überschritten.« (273) Damit ist wiederum die Osterperspektive der Zeugen, in diesem Fall des Verfassers und der Tradenten des johanneischen Christuszeugnisses, maßgeblich für das Erkennen des wahren Inhalts der Jesus-Geschichte. »Die Auferstehung lehrt ein neues Sehen; sie deckt den Zusammenhang zwischen den Worten der Propheten und dem Schicksal Jesu auf. Sie weckt die ›Erinnerung‹, das heißt, sie ermöglicht das Eintreten in die innere Seite der Geschehnisse, in den Zusammenhang von Gottes Reden und Handeln.« (275)
Damit ist bereits ein drittes charakteristisches Merkmal der Jesus-Interpretation des Vf.s berührt, ihre Verankerung im biblischen Zeugnis des Alten Testaments. Der kanonische Zusammenhang, in dem er das Ganze des Jesus-Geschehens wahrnimmt, umfasst ausdrücklich und immer wieder auch im Einzelnen Tora und Propheten, insbesondere die Verheißung eines Propheten wie Mose für die Endzeit nach Dtn 18,15 (vgl. dazu gleich am Beginn 26–33). Jesus wird von daher als »neuer Mose« gesehen, der nicht nur, wie der Mose des alten Bundes, die vor allen Völkern und Religionen einzigartige Gottesbeziehung Israels, des erwählten Gottesvolkes, re­präsentiert, sondern darüber hinaus auch erlangt, was jenem verwehrt blieb: Gott von Angesicht zu sehen. In dieser Interpretation, die anhand der biblisch-theologischen Bezüge zwischen Ex 33,18–23 und Joh 1,18 entfaltet wird, liegt das Herzstück der Jesus-Darstellung des Vf.s. »In Jesus ist die Verheißung des neuen Propheten erfüllt … Er lebt vor dem Angesicht Gottes, nicht nur als Freund, sondern als Sohn; er lebt in innerster Einheit mit dem Vater … Wenn man diese eigentliche Mitte auslässt, geht man am Eigentlichen der Gestalt Jesu vorbei« (31).
Das Eigentliche der Gestalt Jesu in den Mittelpunkt der Ver­kündigung zu stellen, ist nach evangelischem Verständnis jedem Chris­ten und natürlich auch jedem christlichen Theologen aufgegeben. Das Jesusbuch des Papstes kann dazu helfen, diese Mitte des Neuen Testaments zu finden und zur Geltung zu bringen.