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Ausgabe:

Februar/2007

Spalte:

223-224

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Marré, Heiner, Schümmelfelder, Dieter, u. Burkhard Kämper [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche. Bd. 38: Säkularisation und Säkularisierung 1803­2003. M. Beiträgen von H. Maier, H. de Wall u. F.-X. Kaufmann.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2004. VIII, 165 S. gr.8°. Kart. EUR 32,80. ISBN 3-402-04369-6.

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Kämper, Burkhard, u. Hans-Werner Thönnes [Hrsg.]: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche. Bd. 39: Religionen in Deutschland und das Staatskirchenrecht. M. Beiträgen v. K. Gabriel, E. Jüngel u. P. Kirchhof. Münster: Aschendorff 2005. VIII, 164 S. gr.8°. Kart. EUR 32,80. ISBN 3-402-04370-X.


Der Band 38 der »Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche« behandelt auf der Basis von Vorträgen, die Hans Maier, Heinrich de Wall und Franz-Xaver Kaufmann hielten, den Reichsdeputationshauptschluss des Jahres 1803, die damalige Säkularisation von Kirchengut sowie damit zusammenhängende weitere Säkularisierungsschübe. Rechtsgeschichtlich wirkte sich der damalige Einschnitt letztlich zu Gunsten der individuellen Religionsfreiheit aus (59). Für die katholische Kirche bewirkte die Säkularisation einen Entwick­lungssprung; sie führte zur Entfeudalisierung, zur Verbürgerlichung des Episkopats und erzeugte Bildungsimpulse. Während es 1803 in Deutschland praktisch nur adlige Bischöfe gab, tendierte die Zahl im Jahr 1848 gegen null (38.41.46). Noch heute stellt sich die Frage, ob die Zahlungen, die der Staat als Entschädigung für die Enteignung von Kirchengut 1803 oder auf Grund sonstiger Rechtstitel nach wie vor regelmäßig an die Kirchen entrichtet, nicht doch einmal abgelöst werden sollten. Dies war ja eigentlich die Intention des Art. 138 der Weimarer Reichsverfassung, der inzwischen aber geradezu zur Bestandsgarantie dieser Zahlungen transformiert worden ist (vgl. 83.90). Aus Paritätsgründen werden in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig freilich nicht nur an die christlichen Kirchen Zuschüsse gezahlt (z. B. zur Pfarrerbesoldung), sondern durchaus auch an sonstige religiöse oder weltanschauliche Gruppen (68 f. 71 f.). Anders die Niederlande: Dort erfolgte 1983 eine endgültige Ablösung der Staatsleistungen. ­ Heutige kulturelle Folgen der Säkularisierung sind eine Verkirchlichung vor allem des katholischen Christentums (113) sowie eine Selbstsäkularisation besonders des Protestantismus (122 f.). Beachtung verdient der Hinweis von F.-X. Kaufmann, dass die derzeitige Pluralisierung von Konfessionen und Religionen und der Wettbewerb zwischen ihnen zugleich ihre Exis tenz stabilisiert (125). Dies trifft sicherlich zu. Die Kehrseite dürfte darin bestehen, dass hierdurch Versäulungen, neue Abschottungen und Verhärtungen im jeweiligen Binnenbereich gefördert werden. Solche Entwicklungen bedürfen einer weiteren Aufarbeitung, zu der der vorliegende Band in hohem Maß anregt.

Der Band 39 der »Essener Gespräche«, die vom katholischen Ruhrbistum veranstaltet werden, enthält drei Vorträge zum Verhältnis von Staat und Kirchen. Soziologisch zeigt Karl Gabriel die derzeitige religiöse Pluralisierung, die gewandelte Situation der Kirchen als »(ab)wählbarer Sekundärinstitution« an Stelle einer »ðzwingendenÐ Primärinstitution« sowie die Entkirchlichung gerade bei Jugendlichen auf (18 f.). Die von ihm erwähnten Trends der Shell-Studie »Jugend 2000« haben sich in der Shell-Studie 2006 bestätigt. Eberhard Jüngel grenzt unter Berufung auf Luther und Melanchthon Evangelium und Politik voneinander ab und akzeptiert den Pluralismus (66). Ganz andere Akzente setzt hingegen der frühere Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof: Er betont die Rolle der Kirchen als kultureller Garanten des Staates ­ und zwar vor dem Hintergrund, dass der moderne Staat an Akzeptanzschwund und Delegitimierung leidet (110 ff.). Um seine kulturellen und religiösen Voraussetzungen zu sichern, dürfe, ja solle sich der postsäkulare Staat der besonderen Nähe der Kirchen versichern, damit die Gesellschaft künftig wieder »in kirchlicher Lehre Š eine kulturelle Mitte findet« (118). ­ Dieser Denkansatz steht in Kontrast zu geltenden sozialethischen und rechtlichen Leitbildern. In der Diskussion, die auf den Vortrag folgte, wurde zu Recht Skepsis laut (z. B. bei H. Maier 123 f., H. Weber, 125 f., W. Heun, 133 f., Chr. Walther, 134 f.). Kirchhof liegt mehr an der korporativen Religionsfreiheit als an der individuellen Religionsfreiheit. Die Kirchen werden für staatliche Zwecke geradezu in die Pflicht ge nommen ­ auf die Gefahr hin, sie hierdurch zu überfordern. Es wird ausgeblendet, dass die von der katholischen Kirche vertretene Lehre ­ darunter die Ablehnung von In-vitro-Fertilisation, hormoneller Empfängnisverhütung oder nichtehelicher Lebensgemeinschaften u. a. ­ mit dem heutigen Alltagsethos sogar von Katholiken nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Offen bleibt, an welchen Kriterien sich die von Kirchhof empfohlene Bevorzugung von Kirchen vor anderen Religionen oder Institutionen durch den Staat (116) eigentlich bemessen lassen soll oder welche christlichen Konfessionen er präzis meint (z. B. auch die altkatholische Kirche?). Zudem ist unklar, wie sich sein Vorschlag mit der staatlichen Neutralität und mit der Integrationspflicht des Staates zu Gunsten aller Religionen vereinbaren lässt. Von einer Weiterentwicklung des Staatskirchenrechts zu einem umfassenderen Religionsrecht distanziert er sich (113). Durchdenkt man dieses retardierende oder ­ mit H. Weber gesagt (126) ­ den status quo petrifizierende Denkmodell, zeigt sich, dass es weder zeitgemäße konstruktive Entwicklungsperspektiven für Kirchen und Religionen eröffnet noch den in der Tat sehr hohen Anspruch einlöst, die Legitimationsprobleme von Politik und Staat wirksam aufzufangen.