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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

67-70

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Brechenmacher, Thomas:

Titel/Untertitel:

Der Vatikan und die Juden. Geschichte einer unheiligen Beziehung vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Verlag:

München: Beck 2005. 326 S. m. 9 Abb. 8°. Geb. EUR 24,90. ISBN 3-406-52903-8.

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Brechenmacher, Thomas: Das Ende der doppelten Schutzherrschaft. Der Heilige Stuhl und die Juden am Übergang zur Moderne (1775­1870). Stuttgart: Hiersemann 2004. VIII, 513 S. m. 1 Abb. gr.8° = Päpste und Papsttum, 32. Lw. EUR 138,00. ISBN 3-7772-0405-6.

Die beiden Publikationen gelten der Behandlung der jüdischen Minorität im Kirchenstaat während des Übergangs von der Neuzeit zur Moderne. Im umfangreicheren Band vom Jahr 2004 wird das Thema zeitlich begrenzter, intensiver und mit ausführlicheren Quellennachweisen versehen behandelt. Das Buch vom Jahr 2005 hingegen fügt die Problematik und die Befunde in einen größeren Rahmen ein und berücksichtigt auch die aktuelle Diskussion und Situation. Für die Kapitel 3­5 (61­113) kann man fallweise auf die detailliertere Darstellung aus dem Jahr 2004 zurückgreifen.

B. bietet im Band von 2004 im Kapitel I (1­58: Der Heilige Stuhl und die Juden zwischen Aufklärung und Zweitem Vatikanischen Konzil ­ Ein universalhistorischer Problemaufriß) zunächst eine präzise und instruktive Darstellung der historischen Voraussetzungen und der kirchlichen Theorie und Praxis zwischen theologischen Vorgaben und bedingter Toleranz in dieser für die päpstliche Autorität so irritierenden Übergangsperiode. Es wird auf gut nachvollziehbare Weise dargelegt, wie sich eine in sich widersprüchliche Konzeption unter den Bedingungen der Moderne im 19. Jh. und dann in der Konfrontation mit den extremistischen Ideologien des 20. Jh.s als unzureichend erwies und erst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil durch eine tragfähigere theoretische Grundlage und eine konsequentere praktische Einstellung ersetzt werden konnte. Die traditionelle Basis des Verhältnisses zur jüdischen Minorität beschreibt B. im Kapitel II (59­95) als »Das Konzept der doppelten Schutzherrschaft im letzten Jahrhundert des Kirchenstaates«. Die Doppelaufgabe des Schutzes der eigenen Gruppe vor dem Einfluss der nichtgläubigen jüdischen Minderheit und des Schutzes der bedingt tolerierten Minorität vor Übergriffen der christlichen Mehrheit entspricht nicht einfach dem sonst im christlichen Herrschaftsbereich entwickelten Konzept einer schließlich als »Kammerknechtschaft« bezeichneten Position der Juden. Die dafür maßgebliche Untersuchung von F. Battenberg (Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheitengruppe in der nichtjüdischen Umwelt Europas. I. Von den Anfängen bis 1656, II. Von 1650 bis 1945, Darmstadt 2002) wird zwar im Literaturverzeichnis des Bandes von 2004 (nicht aber in dem von 2005) erwähnt, aber ohne eine Verknüpfung mit den Befunden in der Darstellung selbst. Dabei wäre es zum Verständnis der Situation im Kirchenstaat wohl nützlich gewesen, kurz darzulegen, wie sich das Konzept der Kammerknechtschaft unter kirchlicher Einflussnahme von den ausgesprochen pragmatisch und vorzugsweise an den Bedürfnissen der Schützlinge orientierten Privilegierungen durch einzelne Herrscher zu einer auch christlich-theologisch begründeten Theorie entwickelt hat und wie sie sich von der »doppelten Schutzherrschaft« im Kirchenstaat unterscheidet. Die theologischen Voraussetzungen der kirchlichen Haltung zum Judentum sind freilich nicht Gegenstand der Untersuchung, sie werden da und dort erwähnt ­ in erster Linie hinsichtlich ihrer Auswirkungen ­, doch nicht grundsätzlich hinterfragt.

So kommt die eklatante Intoleranz gegenüber anderen Religionen (und Häretikern), insbesondere gegenüber dem Islam, dem Leser vielleicht zu wenig zu Bewusstsein, und eben auch nicht der grundsätzliche Unterschied zur islamischen Definition und Praxis bedingter Toleranz gegenüber den »Buchbesitzern« (ahl al-kit¯ab) als Vertragsschützlingen (dhimmi) im Sinne des sog. Omar-Vertrages. Das Phänomen der Kirchenspaltung und die mit dem Augsburger Religionsfrieden und dem Westfälischen Frieden geschaffene neue Situation wird nur kurz gestreift, und das Verhalten des Kirchenstaates zu Protestanten und Waldensern kommt nicht zur Sprache, daher wird dem Leser die günstigere Position der Juden nicht bewusst. Hingegen wird »die Zäsur des Holocaust« und die interne Entwicklung hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil im Kontext der Forschungsgeschichte (27­43) betont hervorgehoben und gewürdigt.

In Kapitel III (97­121: Der Heilige Stuhl und die Emanzipationspolitik der Mächte) werden Reaktionen auf die josephinische und danach napoleonisch inspirierte Toleranz-, Emanzipations- und Kirchenpolitik beschrieben. In dieser Zeit wurden italienische Gebiete zum Zankapfel zwischen den Mächten und die Politik des Vatikans blieb davon nicht unberührt. Daher wäre ein kurzer Ausblick auf die weitere, sehr problematische Entwicklung des Verhältnisses zwischen Habsburgerdynastie und Heiligem Stuhl nützlich gewesen, um die in den Kapiteln V­VII beschriebenen Ereignisse noch besser verstehen zu können.

Denn trotz aller Nachwirkungen des Josephinismus sah sich der österreichische Kaiser in seiner Eigenschaft als »apostolische Majestät« als Sachwalter der Interessen des Heiligen Stuhls und stand von daher in den italienischen Gebieten der kirchlichen Reaktion näher als es der paternalistisch-liberalen habsburgischen Kultur- und Schulpolitik entsprach.

Die Schulen in den habsburgischen Gebieten haben mit ihrer Sprach- und Literaturpflege für das italienische Nationalbewusstsein mehr geleistet als später zugegeben wurde; politisch und kirchenpolitisch freilich stand Habsburg mit dem Heiligen Stuhl (und mit dem höheren Klerus) der demokratisch-liberalen italienischen Einigungsbewegung, die u. a. für die Gleichberechtigung der Juden eintrat, feindselig ­ und auf verlorenem Posten ­ gegenüber. Die verhängnisvolle, blutige Tragödie dieser Konfrontation, die u. a. zur Gründung des Roten Kreuzes Anlass gegeben hat, hätte kirchlicherseits eigentlich früher zu einem Überdenken ihrer Positionen führen müssen. Doch das blieb aus, und so kam es schließlich, und nicht zuletzt in Frontstellung gegenüber der »bolschewistischen Gefahr«, zu den Konkordaten mit der Mussolini-Diktatur und mit dem Deutschen Reich ­ eine Fehlentwicklung, über die in B.s Band von 2005 ein gesondertes Kapitel am Platz gewesen wäre, denn in dieser Sackgasse war trotz päpstlicher Verurteilungen des Rassismus ein Neuansatz im Verhältnis zum Judentum kaum zu erwarten.

Die Glanzstücke des Buches bilden die beiden folgenden Kapitel: IV. »Status judaicus ­ Grundlagen der politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Stellung der Juden im Kirchenstaat« (123­266) beschreibt anschaulich und eindrucksvoll die faktische Situation der Juden im Kirchenstaat unter juristischen und ökonomisch-politischen Aspekten. Kapitel V (267­415) beschreibt die innere Judenpolitik des Heiligen Stuhls vom Vorabend der Französischen Revolution bis zum Ende des Kirchenstaates und zeigt die kirchlich-theologischen Aspekte der päpstlichen Judenpolitik und ihre Aporie auf. Diese wird im Kapitel VI (417­435: Die Aporie der Schutzherrschaft) noch einmal thematisiert und vor allem anhand der Mortara-Affäre illustriert, wobei bezweifelt werden darf, ob das Verhalten der kirchlichen Stellen theologisch tatsächlich zu begründen war.

Das Schlusskapitel (VII., 437­466: Am Wendepunkt ­ Das Ende der Schutzherrschaft) zeichnet die Linien über das Ende des Kirchenstaates hinaus in Fortsetzung der Aporie weiter. Verzeichnisse der Quellen, der Fachliteratur, Tabellen und Abkürzungen sowie ein Personen- und Sachregister schließen diesen gewichtigen und eindrucksvollen, insgesamt auch ausgewogenen Beitrag zur Forschung aus dem Jahr 2004 ab.

Für das Literaturverzeichnis wären wegen der jüdischen Perspektive vielleicht noch zu ergänzen: Katz, J., Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations, in Medieval and Modern Times, London 1961; Katz, J., Out of the Ghetto. The Social Background of Emancipation, 1770­1870, New York 1978.

Der für ein breiteres Publikum bestimmte Band von 2005 beschreibt in den ersten fünf Kapiteln den im Band von 2004 erarbeiteten Sachverhalt: 1. (16­26): Die Christen vor den Juden schützen ­ die Juden vor den Christen schützen; 2. (27­60): Jüdisches Leben unter päpstlicher Herrschaft (16. bis 18. Jh.); 3. (61­90): Politische Konzepte für den Umgang mit Juden (18. und 19. Jh.); 4. (91­102): Verweigerte Emanzipation. Die reale Politik gegenüber den Juden (19. Jh.); 5. (103­121): Konversionen, Zwangstaufen und ein entführtes Kind (d. h.: Mortara-Affäre). Kapitel 6 (122­142) behandelt und definiert in umsichtiger Weise die Phänomene Antijudaismus und Antisemitismus und Kapitel 7 (143­201: »Geistlich sind wir Semiten«) stellt die Herausforderung durch den Rassenantisemitismus der Zwischenkriegszeit dar, teils als erkannte und verurteilte Gefahr, aber teils auch als Versuchung einer ideologischen Unterwanderung der Theologie. Die vieldiskutierte und mit Polemiken belastete Frage nach dem Verhalten des Papstes Pius XII. während der Kriegszeit wird in Kapitel 8 (202­227) auf ausgewogene Weise erörtert. Zu einer neuen theologischen Einstellung zum Judentum kam es aber auch nach 1945 nur zögerlich und gegen erhebliche Widerstände, die noch im Vorfeld der Konzilserklärung Nostra aetate massiv zur Geltung kamen. B. schildert die frühen Initiativen in Kapitel 9 (228­234: Kleine Schritte. Anfänge des christlich-jüdischen Dialogs nach 1945) und in Kapitel 10 (235­256: Päpste, Zionismus, Israel: Schlaglichter 1904­1964) kommt er auf den Punkt, der in unseren Tagen im Brennpunkt liegt: das Verhältnis von Judentum und Zionismus/ Staat Israel und Christentum.

B.s Darstellung vermittelt den Eindruck, dass dieses Verhältnis auf jüdischer Seite unproblematisch war und ist und somit die Kirche ein jüdisches Anliegen so lange negativ eingestuft hat. Hier wäre die Lage auf der jüdischen Seite zumindest skizzenhaft darzustellen gewesen, denn die maßgeblichsten orthodoxen wie liberalen jüdischen Richtungen waren noch nach 1945 durchwegs anti- oder nichtzionistisch eingestellt und erst nach dem Sechstagekrieg vom Juni 1967 hat sich das Blatt deutlich zu Gunsten des Zionismus gewendet. Erst danach konnte es der zionistischen Politik allmählich gelingen, die Anerkennung des Staates Israel im Namen des Judentums zu verlangen. Die Problematik der jüdischen Staatsreligion im Staat Israel mit der damit verbundenen Benachteiligung anderer Religionsgemeinschaften (und sogar innerjüdischer Richtungen), wird inzwischen bemerkenswerterweise kaum mehr thematisiert, und so nehmen die Kirchen in diesem konkreten Fall so gut wie kritiklos ein Verhältnis von Religion und Politik hin, das sie für sich selbst als anachronistisch und mit demokratischen Grundsätzen unvereinbar beurteilen. Der christlich-jüdische Dialog findet derzeit nicht in erster Linie als Auseinandersetzung der christlichen Kirchen mit jüdischen Religionsgemeinschaften statt, er erweist sich vielmehr als politische Positionierung im Nahostkonflikt. Dieses Dilemma wird bei B. allerdings nicht thematisiert, der daher im Schlusskapitel (257­269) die theologische Neubewertung Israels bzw. der Juden als »ältere Brüder« und die Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils nur als positive Schritte präsentiert. Unter der Überschrift »Rückblick und Ausblick« (270­276) erhält der Leser noch eine vortreffliche Zusammenfassung des Geschilderten und der Ergebnisse ­ aber eben mit der aufgezeigten Ausklammerung des eigentlichen akuten jüdischen Problems des Verhältnisses von Religion und Politik und der Frage der Respektierung der Menschenrechte.

Denn die Frage, ob die Behandlung der Palästinenser durch die israelischen Regierungen jener entspricht, die jüdische Menschen in anderen Ländern für sich erwarten dürfen und zu Recht in Anspruch nehmen, lässt sich durch Verweise auf den Holocaust nicht wegzaubern, bleibt somit auch im christlich-jüdischen Dialog ein theologisch-ethisches Thema, ob man es wahrnehmen will oder nicht. B. kann auf S. 276 recht optimistisch schließen, weil er diese Problematik nicht thematisiert. Aber eigentlich ist kaum zu übersehen, dass die Beweggründe, die so lange Zeit für die reservierte Haltung des Vatikans zum zionistischen Staat ausschlaggebend waren, nicht nur religiös-theologischer Art waren, sondern auch konkret-politischer und rechtlicher Art, gerade auch im Sinne des Völkerrechts und der Menschenrechte. Diese Beweggründe sind nach wie vor Teil der Realität. Sie jetzt zu Gunsten einer unkritischen Gleichsetzung von Zionismus und Judentum zu ignorieren, wird der Kirche noch einigen Kummer bereiten, sobald innerhalb des Judentums die religiösen Anliegen gegenüber den politischen wieder mehr Gewicht erhalten, ganz zu schweigen vom Geschick jener Christen, die von der Politik Israels direkt betroffen sind und das nicht unbegründete Gefühl haben, auf dem Altar einer nicht in allen Teilen durchdachten Bereinigung des christlich-jüdischen Verhältnisses geopfert zu werden. Auch dieser Band enthält im Anhang Anmerkungen, Bildnachweis, Quellenangaben, (begrenzte) Literaturhinweise und ein Personenregister.

Beide Publikationen leisten einen wertvollen und besonnenen Beitrag zur Kenntnis und zum Verständnis der neueren Geschichte. Der umfangreiche Band von 2004 wird wohl mehr im Kreis der Spezialisten gelesen werden, jener von 2005 aber sollte verdientermaßen und im Interesse einer nach wie vor notwendigen Neubesinnung eine geziemende Beachtung in breiteren Leserkreisen finden.