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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

647–650

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

[Lichtenberger, Hermann]

Titel/Untertitel:

Der Mensch vor Gott. Forschungen zum Menschenbild in Bibel, antikem Judentum und Koran. Festschrift f. Hermann Lichtenberger zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. U. Mittmann-Richert, F. Avemarie u. G. S. Oegema.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2003. XIV, 242 S. m. 1 Porträt. 8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 3-7887-2000-X.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Lichtenberger, Hermann: Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7. Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XIII, 315 S. gr.8° = Studien zum Neuen Testament, 164. Lw. EUR 79,00. ISBN 3-16-148276-X.


Dass eine Habilitationsschrift ungefähr zum gleichen Zeitpunkt erscheint wie die Festschrift für ihren Autor, ist selbst in Zeiten, da die durch dieses literarische Genus Geehrten immer jünger werden, noch nicht die Regel. Hermann Lichtenbergers Tübinger Habilitationsschrift von 1985 hat längst in die Spezialforschung zum Römerbrief und zur neutestamentlichen Anthropologie Eingang gefunden und braucht deshalb hier nicht mehr detailliert vorgestellt zu werden, war aber, da bisher unveröffentlicht, noch immer schwer zugänglich. Der Überzeugungsarbeit von Weggenossen und der Mitwirkung von Friedrich Avemarie und Stefan Krauter ist es zu danken (s. das Vorwort), dass sie nun doch noch in überarbeiteter Fassung und gewohnt solider Gestalt bei Mohr erschienen ist.
Die Arbeit war noch im Bann der Diskussionen um Theologie und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s entstanden, führte aber, wie schon die Vorgängerarbeit L.s (Studien zum Menschenbild in Texten der Qumrangemeinde, Göttingen 1980), vor allem in religionsgeschichtlicher Hinsicht erheblich über sie hinaus, indem sie den Quellen des antiken Judentums das ihnen gebührende theologische Gewicht zukommen ließ. Gerade auf der Grundlage dieser Berücksichtigung und Würdigung der zeitgenössischen jüdischen Zeugnisse konnte L. umso sachgemäßer und überzeugender herausarbeiten, worin das unterscheidend Neue der paulinischen Sicht des Menschen bestand: »Paulus zeigt an Adams Begegnung mit dem Gebot im Paradies – die ihm die Grundstruktur adamitischen Seins erkennbar macht, nämlich zu ›begehren‹ –, am Aufleben der Sünde durch das Gebot und an dem aus der Sünde resultierenden Todesverhängnis auf, was für alles Adamitische und damit für die ganze Menschheit gilt: Aufgrund der nicht durch das Gesetz begrenzbaren – und hier steht Paulus gegen die gesamte jüdische Überlieferung! –, sondern durch dieses vielmehr potenzierten Sündenmacht steht sie unter dem Todesverhängnis, genauer: dem Todesfluch.« (266)
In einem ersten, forschungsgeschichtlichen Teil, der auch in der nun vorliegenden Druckfassung nicht weiter als bis zum Römerbriefkommentar von Ulrich Wilckens (1978–1982) führt, hatte L. die Auslegungsgeschichte von Röm 7 von der Alten Kirche an nachgezeichnet und seine eigene Interpretation im Wesentlichen mit derjenigen von Rudolf Bultmann und Werner Georg Kümmel identifiziert, »daß in Röm 7 aus der Sicht des in Christus Erlösten auf die unerlöste Existenz (zurück-)geblickt wird« (267).
Daran schloss sich eine fortlaufende Textexegese von Röm 7,1–8,17 an, mit welcher die These begründet werden sollte, »daß in Röm 7,7–25 grundsätzlich vom Menschen ohne Christus gesprochen wird, in Röm 8,1 ff. vom Menschen in Christus. … Insofern wird von Röm 8,1 ff. auf Röm 7,7 ff. ›zurück‹ geblickt.« (266) Aus dem exegetisch aufgewiesenen Verhältnis von Röm 8 zu Röm 7 leitete L. seine Stellungnahme zu Luthers Interpretation des paulinischen Textes ab: »Römer 7 und 8 zeigen die beiden grundlegenden, aber nicht gleichwertigen Möglichkeiten des Seins auf, wobei Römer 7 die ›unmögliche Möglichkeit‹ auch des Christen bleibt. … So handelt es sich in Römer 7 und 8 weder um ein zeitliches Nacheinander in dem Sinne, daß der Erlöste zurückblickte auf seine ferne Vergangenheit, noch handelt es sich um Gleichzeitigkeit, entsprechend einem zuständlich verstandenen – und damit miß­verstandenen – ›simul iustus et peccator‹. Sondern es geht um die beiden Möglichkeiten menschlicher Existenz: unter der Herrschaft der Sünde oder des Geistes Christi zu leben.« (268)
Die Einzelauslegung von Röm 7 f. weist auch noch in der Druckfassung eine gewisse Unausgewogenheit auf. Manche Abschnitte und Textteile werden sehr ausführlich in Diskussion abweichender exegetischer Meinungen und unter Heranziehung religionsgeschichtlicher Parallelen behandelt (so Röm 7,1–4.7a.14.25b; 8,1–4), andere eher kursorisch erläutert (so Röm 7,5 f.7b–13.15–25a; 8,5–17). Eine zusammenfassende Interpretation des Textzusammenhangs mit Blick auf das Thema der Untersuchung findet sich nur zu dem »Ich« in Röm 7,14 ff. (160–166). Röm 7,7–25 als Ganzes wird lediglich mit Blick auf die Gattung der Klage diskutiert (166–176 in Auseinandersetzung mit älteren gnostischen Herleitungen und unter Verweis auf die »Qumrantexte … als die nächsten Parallelen zu Röm 7« [a. a. O., 176]), und die Aussagen über das Wollen des Guten und das Tun des Bösen in 7,15.19 werden vor allem unter Berück­sichtigung religionsgeschichtlicher Parallelen aus der paganen griechischen und lateinischen Literatur und Philosophie interpretiert (176–186).
Der dritte Teil der Untersuchung bot »Motivgeschichtliche Exkurse zu Römer 7« (203), wobei auch hier nur ausgewählte Themen und Texte behandelt worden waren, nämlich vor allem die Rezeption des »Paradiesgebotes« an Adam (Gen 2,16 f.), das Verbot des Begehrens und die Unterweisung im Gesetz im Frühjudentum. »Von Interesse sind hier vornehmlich solche Texte, die von einer Mehrzahl der Gebote sprechen oder nach denen in dem einen Gebot andere oder alle Gebote der Tora enthalten sind.« (205)
Auch in diesem Teil sind Unausgewogenheiten nicht zu übersehen, die auch in der Druckfassung nicht ausgeglichen worden sind. So wäre unter der Fragestellung nach den religionsgeschichtlichen Voraussetzungen für das Menschenbild, das den paulinischen Aussagen in Röm 7 zu Grunde liegt, zu be­gründen gewesen, warum nun, anders als in Teilen der vorangehenden Exegese, ausschließlich jüdische Vergleichstexte herangezogen wurden. Die einzige Ausnahme, das Motiv vom Baum der Erkenntnis im Philippusevangelium aus NHC II (240 f.), steht in diesem Rahmen denkbar isoliert. Eher als die »armenischen Adamschriften« nach der Ausgabe von E. Preuschen (208 f.) hätte unter anthropologischem Blickwinkel wohl das griechisch und lateinisch überlieferte »Leben Adams und Evas« Berücksichtigung verdient. Die einschlägige, freilich ebenfalls bis heute unpublizierte Untersuchung von Berndt Schaller zur Rezeption von Gen 1 f. im Frühjudentum (Gen 1.2 im antiken Judentum, Diss. Göttingen 1961), die gerade auch zum Thema der frühjüdischen Anthropologie manches beizutragen hat, blieb unberücksichtigt.
Der Forschungsstand zu Paulus und zum Frühjudentum, der sich in der nun vorliegenden Druckfassung spiegelt, bleibt im Wesentlichen derjenige bei Einreichung der Habilitationsschrift. Nur marginal sind Verweise auf neuere Literatur nachgetragen (so z. B. auf U. Schnelle, Paulus, 2003: 109.129.148; T. K. Heckel, Der innere Mensch, 1993: 148; F. Avemarie, Tora und Leben, 1996: 235.239; K. Haacker, Röm, 1999: 9.154). Von J. D. G. Dunn wird nur ein Aufsatz zu Röm 7 von 1975 erkennbar rezipiert, obwohl seine Theology of Paul the Apostle von 1998 und die Aufsatzsammlung Paul and the Mosaic Law von 1996 sowie der Römerbrief-Kommentar von 1988 im Literaturverzeichnis erscheinen und aus Letzterem eine Bemerkung zu Röm 7,25b zitiert wird (150, Anm. 72). Ähnlich beiläufig ist die Erwähnung der Arbeiten von H. Räisänen und E. P. Sanders (dem noch dazu im Autorenregister die Edition von DJD IV untergeschoben wird). Das bedeutet: Die gesamte Debatte um die »New Perspective on Paul« findet nicht statt.
Auch mit Blick auf die herangezogenen frühjüdischen Quellen und ihre Interpretation wurde offenbar keine Anpassung an die gegenwärtige Forschungslage angestrebt. Neuere Textausgaben und Übersetzungen sind zwar partiell im Literaturverzeichnis nachgetragen, werden aber selten in den Textbestand der Untersuchung erkennbar eingearbeitet (so z. B. die Übersetzungen von C.Böttrich zu 2Hen: 207 f., und von H.-J. Klauck zu 4Makk: 244). Neuere Sekundärliteratur aus der inzwischen breiten Forschung zum Frühjudentum, zu der L. selbst ja wesentlich beigetragen hat, findet sich, soweit ich sehe, überhaupt nicht berücksichtigt. Na­türlich kann nicht erwartet werden, dass in einer vor mehr als 20 Jahren geschriebenen Untersuchung der gegenwärtige Stand der Spezialforschung rezipiert wird. Bei dem hier eingeschlagenen Weg der Publikation einer überarbeiteten Fassung ergibt sich aber für den Benutzer die Schwierigkeit, den Grad der Überarbeitung nur mühsam feststellen zu können und damit über die Aktualität der vorgelegten Forschungen im Ungewissen gelassen zu werden. Vielleicht wäre angesichts dieses Befundes ein unveränderter Abdruck der Fassung von 1985 ehrlicher gewesen. In jedem Fall aber ist zu begrüßen, dass die für die Forschung zur Anthropologie des Paulus und zu seiner Verwurzelung im Frühjudentum gleichermaßen wichtigen Ergebnisse der Habilitationsschrift von L. nun leicht zugänglich sind.
Die Beiträge der Festschrift zeugen je für sich genommen vom Fortgang der Forschung zu Paulus, zum Frühjudentum und zur historischen Anthropologie. Etwas künstlich unter dogmatisch klingenden lateinischen Überschriften zusammengeordnet (Imago Dei, Condicio humana, Oeconomia salutis, Iustificatus et doctor iustitiae, Homo interpres), lässt sich nicht verkennen, dass sie frisch aus der jeweils aktuellen Forschungswerkstatt der Autoren kommen, zum Teil skizzenhaft weit reichend angelegt, zum Teil detailversessen auf exegetische Klärung von Einzelstellen gerichtet, zum Teil thesenhaft mit erheblichem theologischen Anspruch versehen.
Beiträge zum antiken Judentum überwiegen (von F. Siegert und E. Tov zur LXX, G. W. E. Nickelsburg zu 1Hen, P. W. van der Horst zur talmudischen Literatur, D. R. Schwartz zu 2Makk, J. C. VanderKam zu Jub, B. Ego und A. Lange sowie J. H. Charlesworth zu Qumran-Texten). Dazu kommen zwei alttestamentliche (von H.-P. Müller zur biblischen Anthropologie heute und von B. Janowski zu den Psalmen), eine die beiden Testamente übergreifende (von J. D. G. Dunn zur Idolatrie) und vier neutestamentliche Studien (von R. Bergmeier zu Gal 4,3.9, O. Hofius zu Gal 5,17, W. Klaiber zur paulinischen Rechtfertigungslehre und P. Stuhlmacher zur Vergebung bei Mt) sowie ein Beitrag zum Koran (von S. Schreiner zur Gott­ebenbildlichkeit). Eine Verbindung der Einzelstudien untereinander ist, abgesehen davon, dass sie sich alle irgendwie »den vielfältigen Licht- und Schattenseiten menschlicher Geschöpflichkeit (widmen)« (so die Herausgeber im Vorwort, VIII), nicht erkennbar, ebenso wenig sind es Bezugnahmen auf Arbeiten des Geehrten, nicht einmal in der Studie von Hofius zu Paulustexten, mit denen sich auch L. explizit in seiner Habilitationsschrift auseinandergesetzt hatte.