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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

463-465

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Karl, u. Hermann-Josef Große Kracht [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Franz Hitze (1851–1921): Sozialpolitik und Sozialreform. »Be­gin­nen wir einmal praktisch …«.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2006. 281 S. gr.8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-506-72920-0.

Rezensent:

Traugott Jähnichen

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Gabriel, Karl, u. Hermann-Josef Große Kracht [Hrsg.]: Joseph Höffner (1906–1987): Soziallehre und Sozialpolitik. »Der personale Faktor …«. Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2006. 255 S. gr.8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-506-72954-5.


Das Institut für christliche Sozialwissenschaften der Katholisch-Theologischen Fakultät der Wilhelms-Universität Münster hat in Kooperation mit dem Franz Hitze-Haus, der Katholisch-Sozialen Akademie des Bistums Münster, in den Jahren 2001 und 2003 jeweils Fachtagungen zu Leben und Werk von Franz Hitze und Joseph Höffner durchgeführt. Die Referate der beiden Fachtagungen werden in den hier anzuzeigenden Bänden dokumentiert, ergänzt durch grundlegende Originalbeiträge von Hitze und Höffner, die jeweils einen instruktiven Überblick über das sozialethische Werk der beiden Theologen vermitteln.
In einer Zeit weitgehenden Traditionsverlustes, in der selbst – wie Karl Gabriel in seinem Beitrag zum Verhältnis von Caritas und Sozialpolitik bei Hitze anmerkt – innerhalb der römisch-katholischen Kirche die Traditionslinien des eigenen Sozialstaatsdenkens an den Rand gedrängt werden (88), kommt der Erinnerung an die prägenden Gestalten dieser Tradition eine in hohem Maße orientierende Bedeutung zu. Indem Karl Gabriel als Direktor des Instituts für christliche Sozialwissenschaften und sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Hermann-J. Große Kracht Person und Werk von Franz Hitze – er übernahm 1893 die neugeschaffene außerordentliche Professur für christliche Gesellschaftslehre in Münster – und Joseph Höffner – er wurde im Jahre 1951 auf den Lehrstuhl für christliche Sozialwissenschaften berufen und es gelang ihm im Rahmen seiner Berufungsverhandlungen, ein Institut für christliche Sozialwissenschaften einzurichten – erneut einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen, geht es ihnen nicht um eine nostalgische Traditionspflege, sondern um den Nachweis, dass beide Klassiker des Sozialkatholizismus »wertvolle Ansprüche und Erinnerungen für die heutigen politisch-moralischen Grundsatzdebatten um die Funktionalität und Legitimität des bundesrepublikanischen Sozialstaatsarrangements parat halten« (Vorwort des Bandes zu Höffner, 10).
Die Gestaltung beider Bände ist einheitlich: Eingeleitet werden sie jeweils durch fünf Beiträge zu Leben und Werk, wobei sich neben biographischen Skizzen grundlegende Interpretationen finden. Der umfangreichere zweite Teil bietet Originaltexte, wobei von Hitze kurze Auszüge aus seinen theoretischen Schriften sowie Reden, Ansprachen und Aufrufe abgedruckt werden, während von Höffner die wichtigsten Aufsätze und Vorträge aus seiner Zeit als Sozialethiker zunächst in Trier und dann in Münster publiziert werden. Die Texte sind jeweils durch kurze Fußnoten zum besseren Verständnis ergänzt, im Anhang zu dem Hitze-Band ist des Weiteren ein Personenverzeichnis abgedruckt, das die von Hitze Genannten kurz vorstellt und somit eine historische Kontextualisierung ermöglicht. Mit Hilfe dieser behutsamen editorischen Ergänzungen lassen sich die in den Texten jeweils geschilderten Bezüge und Kontroversen gut rekonstruieren.
Der Titel des Bandes über Hitze »Sozialpolitik und Sozialreform« mit dem Untertitel »Beginnen wir einmal praktisch …« deutet an, dass bei Hitze weniger die theoretischen Beiträge, sondern vielmehr sein jahrzehntelanges parlamentarisches Wirken sowie die unermüdliche Tätigkeit in sozialkatholischen Vereinigungen und Verbänden das Profil des Wirkens kennzeichnen. Während die theoretischen Arbeiten durchaus kritisch im Blick auf eine unzureichende ökonomische Durchdringung seiner Thesen in den Blick genommen werden – so insbesondere in dem Beitrag von Wilhelm Damberg –, sind es die vielfältigen Felder der praktischen Sozialpolitik, auf denen sich Hitze profiliert und sehr schnell zum sozialpolitischen Experten der Zentrumsfraktion im Reichstag geworden ist. In besonderer Weise hat Hitze die Mitwirkung und wichtige Rolle der katholischen Kirche und ihrer Verbände – beispielhaft in einem offenen Brief an den protestantischen Kathedersozialisten Adolph Wagner von 1883 (247 ff.) – herausgestellt, worin Karl Gab­riel die Begründung der »subsidiären Vielfalt der Strukturen« der Wohlfahrtspflege in Deutschland angelegt sieht, die er »zu den unverzichtbaren Elementen der katholischen Tradition des Sozialstaates« zählt, auf die »in den künftigen Auseinandersetzungen um die Re­form des Sozialstaates … nicht verzichtet werden« (9) sollte.
Allerdings hat Hitze diesen Grundgedanken wohl doch eher rückwärtsgewandt in Anlehnung an die ständischen Strukturen der mittelalterlichen Gesellschaft zu begründen versucht, wenn er etwa gegen den Etatismus Wagners eine »Organisation der Stände« im Sinne einer Reorganisation der Berufsstände mit dem Ziel eines »ständischen Sozialismus bzw. korporativen Sozialismus« (251) herausstellte. In diesem Sinn kämpfte Hitze im Blick auf die Sozialgesetzgebung für ein von Arbeitgebern und Arbeitnehmern beitragsfinanziertes System mit interner Selbstverwaltung und war gegenüber jedem Staatszuschuss – besonders deutlich in den Dis­kussionen um die Begründung der Renten- und Invalidenversicherung – strikt ablehnend. Obwohl das Engagement Hitzes für eine Einbindung des sozialstaatlichen Arrangements in kirchliche – heute würde man darüber hinausgehend sagen: zivilgesellschaftliche – Strukturen einleuchtet, ist andererseits die strikte Ablehnung einer steuerfinanzierten Sozialpolitik zu problematisieren.
Immerhin zeigen diese Anfragen, wie sehr es sich lohnt, sich angesichts der gegenwärtigen Umbrüche des Sozialstaates mit den katholischen Klassikern und Begründern dieses Politikfeldes auseinanderzusetzen. – Dies gilt sicherlich weit mehr für eine erneute Beschäftigung mit dem Werk Joseph Höffners, dessen sozialethisches Werk die Ent­wick­lung der Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik kritisch begleitet und mitgeprägt hat. Zudem lässt sich bei Höffner im Un­terschied zu Hitze ein konziser Entwurf christlicher Soziallehre nachzeichnen. Christliche Gesellschaftslehre ist nach Höffner ein System verschiedener, einander zugeordneter wissenschaftlicher Fä­cher, wo­bei er grundlegend zwischen »seinswissenschaftlichen« und »normativen Disziplinen« unterschied. Höffner legte stets großen Wert auf eine möglichst genaue, empirisch gesättigte Kenntnis der Wirklichkeit, was sich z. B. auch in kirchensoziologischen Studien niedergeschlagen hat, die sein Institut durchführte. Insgesamt ging es ihm im Blick auf die »Seinswissenschaften« um ein genaues Verständnis der verschiedenen Kulturgebiete. Die normative Di­mension untergliederte er in Sozial- und Wirtschaftsethik, den Bereich von Sozial- und Berufspädagogik sowie das Feld des politischen Ge­staltens. Theologisch erarbeitete Höffner über das Naturrecht hinaus spezifisch theologische Kategorien, indem er ein biblisch be­stimmtes Menschenverständnis sowie die gesellschaftlich re­levanten Implikationen von Sünde und Erlösung aufzuzeigen versuchte.
Im Sinn von solchen theologischen Kategorien hielt er es für eine unausweichliche Aufgabe der christlichen Gesellschaftslehre, vor dem »Traumland Utopia« (142) zu warnen. Gesellschaftspolitisch setzte er sich für eine breite Eigentumsstreuung als Basis von Selbst- und Eigenverantwortung ein und bezeichnete im Sinne des Subsidiaritätsprinzips die Selbsthilfe von Familien und anderen kleinen Einheiten als Grundlage jeder Sozialpolitik. Demgegenüber äußerte er gegenüber allen wohlfahrtsstaatlichen Tendenzen, die auf dem Versorgungsprinzip, d. h. nach Höffner einer steuerfinanzierten so­zialen Sicherung, beruhten, eine scharfe Ab­lehnung. Ge­gen den Versorgungsstaat, den er nicht allein im Ostblock, sondern zumindest ansatzweise auch in Skandinavien und in England verwirklicht sah, plädierte Höffner mit Nachdruck für das deutsche Sozialversicherungssystem. Wer also heute im Streit um die Reformen der Sozialsysteme nach Argumenten für die bestehende Systematik des Sozialstaates sucht, ist bei Hitze wie bei Höffner gut beraten.
Das wirtschaftspolitische und sozialethische Denken Höffners lässt sich gut im Vergleich zum protestantisch geprägten Ordoliberalismus profilieren, zumal Höffner seine ökonomischen Studien und seine Promotion bei Constantin von Dietze und Walter Eucken in Freiburg absolviert hat. Höffner gestand dem Neo- bzw. Ordoliberalismus zu, sich von den Fehlentwicklungen des klassischen Liberalismus distanziert zu haben, hielt allerdings die sich bei Röpke oder auch Rüstow findende Identifizierung der Konzeption der sozialen Marktwirtschaft mit dem ordoliberalen Programm für problematisch. Sein eigenes Verständnis von »Sozialer Marktwirtschaft« und seine entsprechende Kritik am Ordoliberalismus zielten insbesondere auf die Maxime, dass der Staat nur »marktkonform« in die Wirtschaft eingreifen sollte. Höffner kritisierte diesen Begriff als wissenschaftlich unpräzise und verwies auf zahlreiche nicht-marktkonforme Eingriffe in den Wirtschaftsprozess, um zu dem Urteil zu gelangen: »Vom Gemeinwohl her muss entschieden werden, welche Mittel wirtschaftspolitisch erforderlich sind, und das Gemeinwohl kann und wird auch in Zukunft nicht-marktkon forme Eingriffe in den Wirtschaftsprozess fordern. Eine solche Wirtschaft nennen wir mit Recht ›soziale Marktwirtschaft‹« (193). Zwar stimmte Höffner dem Grundsatz zu, dem freien Wettbewerb so viel Raum zu geben wie möglich, sah aber in der Gemeinwohlverpflichtung ein übergeordnetes, ggf. gegen die Marktprinzipien durchzusetzendes Regulativ. Höffners Verständnis sozialer Marktwirtschaft steht somit in einer Spannung zu der ordoliberalen Konzeption, nach welcher der Staat den Leistungswettbewerb sichern und durch seine konstituierenden und regulierenden Eingriffe den Preismechanismus und die dadurch bewirkte Selbststeuerung des Marktes nicht aufheben dürfe. Die hier angedeutete Kontroverse bezeichnet eine Kernfrage des Verständnisses sozialer Marktwirtschaft, um das auch heute noch gestritten wird. Durch die historischen Verweise können die Debatten an Profil gewinnen, wodurch einmal mehr die Notwendigkeit einer Vergegenwärtigung und Aneignung der Traditionen christlicher Sozialethik deutlich wird.
Für den Bereich des Sozialkatholizismus liegen mit den Bänden über Hitze und Höffner wichtige Grundlagen einer solchen Traditionsvergewisserung vor. Aus protestantischer Perspektive ist es interessant, wie stark sich sowohl Hitze wie auch Höffner durch Abgrenzungen von protestantischen Sozialtheoretikern profiliert haben. Dies sollte nicht zuletzt für den sozialen Protestantismus Ansporn sein, sich in ähnlicher Weise auf die eigenen historischen Traditionslinien zu besinnen.