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Ausgabe:

April/2007

Spalte:

475-476

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eyselein, Christian

Titel/Untertitel:

Russlanddeutsche Aussiedler verstehen. Praktisch-theologische Zugänge.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 3.Aufl. 2006. 488 S. gr.8°. Geb. EUR 58,00. ISBN 3-374-02379-7.

Rezensent:

Eberhard Winkler

In der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Bayerns sind etwa 8% der Mitglieder sogenannte Russlanddeutsche. Das entspricht annähernd der Mitgliederzahl der gesamten mecklenburgischen Landeskirche. Aus der Gemeindepraxis erwuchs Eyseleins Absicht, zu einer für die Praxis hilfreichen Verstehenslehre beizutragen. Daraus entstand diese Erlanger Habilitationsschrift, die bereits im Erscheinungsjahr in dritter Auflage vorliegt.
Den Hauptteil des Werkes bilden zwei umfangreiche Kapitel, in denen die Herkunft der Russlanddeutschen und ihre Ankunft in Deutschland beschrieben wird. Eindrücklich schildert E. die Siedlungsgeschichte und die Katastrophe der Verfolgungen und De­por­tationen, die harten Arbeits- und Lebensbedingungen nach 1945, dieUnterdrückung deutscher Kultur, die mühsamen Neuanfänge evangelischen Gemeindelebens. Die unter Verarbeitung einer im­mensen Menge von Literatur (das Literaturverzeichnis umfasst 39S.) gebotene Darstellung zeigt einerseits, dass der Drang zur Auswanderung notwendig aus der Leidensgeschichte der Deutschen folgte, andererseits aber unrealistische Hoffnungen zwangsläufig zu Enttäuschungen führten. Deutlich wird, dass die überwiegend negativen, aber auch die positiven Erfahrungen und Prägungen in den Herkunftsländern das Heimisch- und Verstandenwerden in Deutschland stark erschweren. Als roter Faden zieht sich durch das Buch die weitgehend unerfüllte Sehnsucht der Menschen nach Heimat, wobei Deutschland vor der Ausreise oft als idealisierte Heimat gesehen wird.
Besonders konfliktreich erleben die Jugendlichen den Widerspruch zwischen Hoffnungen und Realität. Sie empfinden zumeist das Land ihrer Kindheit als Heimat und fühlen sich in Deutschland fremd. Die Kriminalitätsrate russlanddeutscher Jugendlicher liegt nicht über dem Durchschnitt, wenn sie mit der bei einheimischen Jugendlichen in ähnlichen psychosozialen Problemlagen vergli­chen wird. Ausführlich geht E. auf das Sprachproblem ein. Ungenügende Deutschkenntnisse erschweren die Beheimatung in allen Altersstufen und verringern die beruflichen Chancen. Verbreitet ist die Klage, in Russland als Deutscher diffamiert worden zu sein und hier als Russe beschimpft zu werden. Auch den Kirchgemeinden fällt es schwer, Heimat zu bieten. »In der Kirche friere ich«, so beschreibt eine Aussiedlerin die distanzierte Atmosphäre. Nach E.s Urteil fehlt seitens der Gemeinden weithin das Interesse an der Situation der Aussiedler und die Fähigkeit, ihrer Besonderheit ge­recht zu werden.
Im Schlussteil entwirft E. im Anschluss an Ps 121 und das Motiv des Unterwegsseins als Wahrnehmungs- und Deutungskategorie gemeindetheologische Perspektiven. Den Kontainerbegriff »Integration« präzisiert er als interkulturelle »Akkulturation«, die ein wechselseitiges Lernen und Akzeptieren darstellt. Praktisch heißt das zum Beispiel, »Momente authentischer Glaubensäußerung aus rußlanddeutscher Spiritualität aufzunehmen« (436). Die gegenseitigen Verstehens- und Akzeptanzschwierigkeiten stellen die einheimische Kirche vor die Frage, ob sie bereit ist, sich als Herberge für Menschen auf dem Weg zu öffnen. Es ist zu hoffen, dass das sachlich informierende und mit persönlicher Beteiligung geschriebene Buch dazu beiträgt, Mitglaubende und -suchende zu begleiten »auf dem Weg zu der erst kommenden Heimat« (448).