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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

731–734

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Jahnel, Christoph

Titel/Untertitel:

Die Lutherische Kirche in El Salvador. Kirchwerdung im Kontext von US-amerikanischer Mission, denominationellem Pluralismus, sozialer Anomie und politischer Unterdrückung.

Verlag:

Neuendettelsau: Erlanger Verlag für Mission und Ökumene 2005. 467 S. m. Abb. 8° = Missionswissenschaftliche Forschungen. Neue Folge, 21. Kart. EUR 30,00. ISBN 3-87214-351-4.

Rezensent:

Hermann Brandt

Diese Dissertation ist unter der Betreuung von Joachim Track an der Augustana Hochschule in Neuendettelsau entstanden. Jahnel, seit 2006 Referent für ökumenische Grundsatzfragen und interkonfessionelle Dialoge im Lutherischen Kirchenamt der VELKD in Hannover, war zuvor Studienleiter des Collegium Oecumenicum in München und hat nach seinem Theologiestudium als Dozent an der Lutherischen Universität in El Salvador und als Gemeindepfarrer der Lutherischen Kirche in El Salvador gearbeitet. Insofern kennt J. den Gegenstand seiner zeitgeschichtlichen Untersuchung auch aus eigener Anschauung und Erfahrung.
Wie im Titel und Untertitel stichwortartig angekündigt, handelt die Dissertation von der Entwicklung einer Kirche, deren Anfänge bis in die 40er Jahre des vorigen Jh.s zurückreichen, als die Missionsarbeit der Lutheran Church-Missouri Synod (USA) in Zentralamerika begann. (Der Untertitel lässt nicht erkennen, dass die »US-amerikanische Mission« eine lutherische ist, es also auch um einen transnationalen innerlutherischen Konflikt geht.) Die Arbeit analysiert die Umstände, die im Jahr 1970 zur Loslösung von der Missouri Synod und zur Gründung einer eigenständigen Lutherischen Kirche in El Salvador (= ILS) führten, beschreibt deren wechselvolle Beziehungen zu anderen protestantischen Kirchen und »Sekten«, ihre Allianzen und ihr Wachstum in den Wirren des Bürgerkriegs – ihren lebensbedrohlichen Weg zwischen den Pressionen der USA-gesteuerten wirtschaftlichen und politischen Oligarchie des Landes einerseits und der Guerilla andererseits. J. sieht das Ziel seiner Untersuchung darin, »den historischen Prozeß der lutherischen Kirchwerdung sowie die Entstehung einer kontextuellen lutherischen Theologie in El Salvador nachzuzeichnen und zu analysieren« (17). Damit wird in der Tat eine Forschungslücke hinsichtlich der Eigenart und Bedeutung des Protestantismus in Zentralamerika geschlossen.
Es mag für die Leserschaft in Europa der Hinweis angebracht sein, dass diese Untersuchung einen mikroskopischen Charakter hat: Sehr Kleines erscheint groß. Das Land El Salvador an der Pazifikküste Zentralamerikas hat die Fläche des deutschen Bundeslandes Hessen und knapp 7 Millionen Einwohner. Von diesen sind über 80 % römische Katholiken (etwa 5,6 Millionen). Die Zahl aller Protestanten (unterschiedlichster Prägung) liegt bei einer Million, und die Zahl der registrierten Mitglieder der ILS belief sich 1990 auf etwa 7000, vgl. die statistischen Angaben in den Anhängen der Arbeit. Die Konzentration auf die Geschichte und Gegenwart dieser sehr kleinen Kirche lässt die große römisch-katholische Kirche nur gelegentlich vorkommen (vgl. hierzu die Rezension der Arbeit von Diethelm Meißner, Die »Kirche der Armen« in El Salvador, in: ThLZ 131 [2006], 1083–1086).
J.s Arbeit ist fehlerlos, vorzüglich geschrieben und klar gegliedert, sowohl in den großen Linien wie in den Unterabschnitten. Teil I – »Protestantismus in El Salvador: Eine typologische, soziologische, historische und theologische Untersuchung« – behandelt auf knapp 100 Seiten die Voraussetzungen der ILS und ihre Etablierung als eigenständige Kirche, d. h. den Zeitraum von 1896–1992, und Teil II schildert auf 200 Seiten die eigentliche Geschichte der Lutherischen Kirche in El Salvador bis in die Gegenwart (2003). Der letzte Teil III wechselt von der historischen zur theologischen Perspektive und erörtert auf 50 Seiten unter der Überschrift »Theologie im Kontext der Lutherischen Kirche in El Salvador« die »Theologie des Lebens« ihres Bischofs Medardo Gómez.
Instruktiv ist im I. Teil die soziologische Typisierung der verschiedenen Gruppen, Missionen, Bewegungen und Kirchen, die J. unter kritischem Bezug auf die Forschungen von William Sims Bainbridge/Rodney Stark und von Heinrich Schäfer vornimmt. Diese religionssoziologischen Analysen ermitteln verschiedene Stufen der Spannung zwischen einer religiösen Gruppe und der sie umgebenden Gesellschaft, von »low« über »high« bis »extreme«. Zu Recht kritisiert J. die Einstufung der erstgenannten Autoren als zu statisch, da sie die historischen Modifikationen des Verhältnisses zur Umwelt – etwa der Mutterkirche der ILS (vgl. 96 f.) oder das Phänomen der »Verpfingstlichung« des Protestantismus in Zentralamerika (90–93) – unberücksichtigt lässt.
Vor dem Hintergrund der aufgewiesenen historischen, gesellschaftlichen und religiösen Rahmenbedingungen behandelt J. dann im umfänglichsten II. Teil die Geschichte der ILS. Die Komplexität dieser Entstehungsgeschichte wird äußerlich schon daran deutlich, dass J. erst auf S. 240 auf die eigentliche Gründung dieser Kirche zu sprechen kommt. Detailgenau werden die heterogenen Phasen der Entstehungsgeschichte nachgezeichnet: Die missionarischen Aktivitäten der Lutheran Church-Missouri Synod in Zentralamerika, zunächst in Guatemala; deren Umbildung und Kon textualisierung in El Salvador (unter Beteiligung baptistischer Bibelkolporteure, einer Pfingstgemeinde und evangelikaler Pfarrer!); die Biographie von Ciro Mejía, dem ersten lutherischen Pfarrer in Zentralamerika; den Einfluss US-amerikanischer und in­di­gener Akteure; das starke Laienelement; das spannungsvolle Verhält­nis zur evangelisch-lutherischen Deutschen Auslandsgemeinde in San Salvador; die durch das »liberale« Theologische Seminar in Mexiko ausgelösten Konflikte.
Gründungsdatum der späteren ILS ist der 22.09.1970, an dem die zunächst noch so genannte »Sínodo de las Iglesias de Confesión Luteranos« als juristische Person staatlich anerkannt wurde. Zur endgültigen Trennung von der Zentrale der Lutheran Church-Missouri Synod kam es erst 1988, nachdem diese ihre ursprüngliche, auf Selbstbestimmung, ökumenische Öffnung und soziales Engagement ausgerichtete Kirchenpolitik zurückgefahren hatte. Insofern ist die ILS von ihrer »Mutter« in ihre Unabhängigkeit gestoßen worden.
Eines der Konfliktfelder betraf auch das Verständnis und vor allem die Praktizierung des kirchlichen Amtes. War die Lutheran Church-Missouri Synod kongregationalistisch-synodal strukturiert, so betrieb Pfarrer Gómez die (seine!) Einsetzung eines Bischofs. Dabei hat sicher auch das indigene salvadorianische Ideal einer starken Führungspersönlichkeit eine Rolle gespielt (das »Bischofsamt als Auszeichnung«, 290 f.). J. verweist aber auf weitere Motive, die mit der Situation El Salvadors in den 80er Jahren (Bürgerkrieg, Ermordung Romeros) zusammenhängen (vgl. 291–305): das Bischofsamt als »Schutzamt« und als »ökumenisches Amt«. Gómez wurde 1986 als Bischof unter massiver ökumenischer und internationaler Präsenz vom schwedischen Bischof Kastlund (nach dem schwedischen Formular für die Bischofsweihe) eingeführt. J. berichtet, es habe auf der bischöflichen Ebene während des Bürgerkriegs nicht nur Kontakte zwischen römisch-katholischen Bischöfen und Bischof Gómez gegeben, sondern sogar »gegenseitige Anerkennung des Bischofsamtes«. Diese Formulierung ist wohl zu hoch gegriffen, handelte es sich doch um keinen auf Lehrübereinkünften ba­sierenden Konsens, sondern um eine gemeinsame, regional und zeitlich begrenzte Parteinahme zu Gunsten der unter dem Bürgerkrieg besonders Leidenden, also um »Ökumene als einvernehmliche Praxis ohne Theorie und Diskurs« (389; symptomatisch ist, dass zwei neugegründete lutherische Gemeinden die Namen eines katholischen bzw. eines lutherischen Bischofs erhielten: Mon­signore Oscar Arnulfo Romero bzw. Bischof Medardo Ernesto Gómez, 263).
Der III. Teil ist der »Theologie des Lebens« von Medardo Gómez gewidmet; eines seiner Bücher trägt diesen Titel. Sie ist allmählich und eher intuitiv aus der Praxis heraus entstanden und in diesem Sinne eine zeitbedingte »kontextuelle« Theologie. »Lutherisch« ist diese Theologie insofern, als Medardo Gómez und die ILS »unerwartet bzw. nicht aufgrund systematischer Überlegungen, sondern aufgrund ihrer Erfahrungsoffenheit auf die Relevanz lutherischer Traditionsbestände« für die lutherische Kirche in El Salvador gestoßen sind (393 f.). Vor allem ist hier die Verknüpfung der lutherischen Lehre vom Allgemeinen Priestertum aller Gläubigen mit dem salvadorianischen Kontext zu nennen. J. zeigt auch, dass die Wahl des inklusiven Begriffs »Leben« (statt »Befreiung«) einer Abgrenzung gegen die befreiungstheologische »Option für die Armen« und gegen ideologische Festlegungen geschuldet ist, fragt aber kritisch, ob die Befreiungstheologie so nicht »entschärft« und ihr prophetischer Impuls ausgeblendet werde (vgl. 366–369). Einen beachtenswerten Schwerpunkt in den abschließenden Überlegungen »Lutherische Identität in El Salvador im ökumenischen Dialog« bilden die Perspektiven für einen Dialog der lutherischen Kirche mit den Pfingstkirchen (396 ff.).
In dem ca. 400 Titel umfassenden Literaturverzeichnis fehlt En­rique Dussels Geschichte der Kirche in Lateinamerika – zu Recht, denn in dieser kommen die Lutheraner in El Salvador gar nicht vor. Diesen Mangel hat J. in seiner souveränen, keineswegs unkritischen Arbeit nun behoben. Sie lässt sich auch als eine große missionswissenschaftliche Fallstudie über die Problematik zwischenkirchlicher Partnerschaften lesen, über ihre ursprünglichen Intentionen und deren Umformungen, und über die Überforderungen einer sehr kleinen Kirche: Während des Bürgerkriegs, als Bischof Gómez und seine lutherische Kirche ins Zentrum der ökumenischen und internationalen Öffentlichkeit rückten, hatten 35 salvadorianische Gemeinden insgesamt 67 Partnergemeinden im Ausland (274).