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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

714 f

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Mühlsteiger, Johannes

Titel/Untertitel:

Kirchenordnungen. Anfänge kirchlicher Rechtsbildung.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2006. XIX, 298 S. gr.8° = Kanonistische Studien und Texte, 50. Kart. EUR 58,00. ISBN 3-428-12117-1.

Rezensent:

Winrich Löhr

Dieser offenbar aus der eigenen akademischen Lehrtätigkeit hervorgegangene Band des Innsbrucker Kirchenrechtlers Johannes Mühlsteiger SJ will als Einführung in das christliche Kirchenrecht der ersten Jahrhunderte dienen. Freilich behandelt M. nicht das gesamte Kirchenrecht, sondern beschränkt sich auf die »Schriftgattung« (15) der Kirchenordnung. Seiner etwas vagen Definition zu­folge enthält eine Kirchenordnung charakteristischerweise die Weisungen, die sich »auf die verschiedenen Lebensbereiche innerhalb der christlichen Gemeinde beziehen« (15), wie etwa die Kirchenverfassung, die Wahl der Ämter, die Liturgie etc. Der präzisen Frage, ob eine literarische Gattung ›Kirchenordnung‹ in plausibler Weise definiert werden kann (hier ist besonders auf die einschlägige Monographie von Bruno Steimer, Vertex Traditionis, BZNW 63, Berlin-New York 1992, zu verweisen), hat sich M. nicht gestellt. Fragen nach der genauen Adressierung bestimmter Kirchenordnungen wie etwa der Didache hält er ebenfalls für müßig, da – wie er versichert (16) – »die Grundvollzüge einer Gemeinde immer auch jene einer anderen sind. Die Wesensstruktur der christlichen Gemeinde kann immer nur eine sein, ebenso wie ihr Erstanliegen jenes der Einheit bleibt«.
Im Anschluss geht M. dann in 13 Kapiteln die folgenden ›Kirchenordnungen‹ durch: Pastoralbriefe, Didache, Traditio Apostolica, Didascalia Apostolorum, Constitutio Ecclesiastica Apostolorum, Apostolische Konstitutionen, Canones Hippolyti, Canones Apostolorum, Fragmentum Veronense LV, Sinodus Alexandrinus, Epitome Libri VIII Constitutionum Apostolorum, Testamentum Domini Jesu Christi, Octateuchus Clementinus. Die Abfolge ist nicht strikt chronologisch. Zwar ist es offenbar die Absicht M.s, zu jedem der behandelten Texte die einschlägigen Einleitungsfragen zu klären, doch ist sein Vorgehen bei näherer Betrachtung recht uneinheitlich – was mit der Tatsache zusammenhängen könnte, dass – wie das Vorwort informiert – die verschiedenen Kapitel zu verschiedenen Zeiten entstanden sind. So wird z. B. bei den meisten Kapiteln mehr oder weniger ausführlich auf die handschriftliche Überlieferung eingegangen, nicht aber in den besonders wichtigen Fällen der Traditio Apostolica und der Apostolischen Konstitutionen. Das ausführliche Kapitel über die Canones Apostolorum (157–220) – eine frühere Fassung wurde bereits in der Festschrift M.s veröffentlicht – sprengt mit seiner gelehrten Präsentation der Testimonien entschieden den Rahmen einer Einleitung. Im Kapitel über die Pastoralbriefe nimmt die Behandlung der von M. korrekt festgestellten Pseudonymität einen sehr breiten Raum ein (19–34). Neben richtigen und sachlich zutreffenden Feststellungen wird der Leser hier mit folgender origineller Interpretation des Phänomens überrascht: »Nach dem Tode der Apostel, vor allem des Apos­tels Paulus, lösten sich die Gemeindestrukturen, deren einigendes Band Paulus war, weitgehend auf. … Paulus traf erneut, nun aber um Jahrzehnte zeitverschoben, die Aufgabe, seine Autorität zur Verfügung zu stellen, um auf der Basis der in den paulinischen Briefen enthaltenen Glaubensinhalte und unter Bedachtnahme der zeitbedingten Veränderungen und Neuheiten die Konsolidierung der Gemeinden zu entwerfen und durch die Träger seines Geistes in Angriff zu nehmen.« (28) Laut M. ist apostolische Pseud­epigraphie offenbar ein Fall postmortaler Dienstverpflichtung. Die Berücksichtigung der relevanten Forschung ist – selbst für eine Einführung – sehr sporadisch und zufällig: So fällt z. B. im Kapitel über das Testamentum Domini Jesu Christi (245–55) auf, dass der dazu einschlägige Artikel von Michael Kohlbacher (Wessen Kirche ordnete das Testamentum Domini Nostri Iesu Christi? Anmerkungen zum historischen Kontext von CPG 1743, in: M. Tamcke/A. Heinz, Zu Geschichte, Theologie, Liturgie und Gegenwartslage der syrischen Kirchen, Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 9, Hamburg 2000, 55–137) zwar im Literaturverzeichnis (285) aufgeführt wird (mit in ›Kohlhaber‹ verschriebenem Namen), im Text aber nicht ausgewertet wird. Auf S. 183–192 scheint M. über die Ge­schichte des Begriffs ›Kanon‹ informieren zu wollen, ohne die einschlägige Monographie von H. Ohme, Kanon ekklesiastikos. Die Bedeutung des altkirchlichen Kanonbegriffs, AKG 67, Berlin 1998, zu berücksichtigen. Hingegen ist die Diskussion um die von R. Hübner vorgeschlagene Spätdatierung der Briefe des Ignatius von Antiochien sorgfältig dokumentiert (75–79). Bei der Zeichnung des historischen Kontextes der verschiedenen Kirchenordnungen erweist sich M. gelegentlich schiefen und durch die neuere Forschung überholten Vorstellungen verhaftet.
So heißt es z. B. auf S. 138 im Hinblick auf das theologiegeschichtliche Umfeld des Redaktors der Apostolischen Konstitutionen: »In den Theologen Aetius und Eunomius waren der nachnicaenischen Kirche Führer einer theologischen Bewegung entstanden, in deren Absicht es lag, die genuin-arianische Lehre zu erneuern. Mit der von Kaiser Konstantius II. (337–361) auf den Synoden von Arles (353) und Mailand (355) erzwungenen Außerkraftsetzung des Nicaenums I (325) errang die neo-arianische Bewegung öffentliche Bedeutung.« Immerhin umstritten ist, ob die Synoden von Arles und Mailand sich überhaupt zum Nicaenum äußerten. Unbestritten aber ist, dass Aetius und Eunomius (zu ihm ist jetzt zu beachten: R. P. Vaggione, Eunomius of Cyzicus and the Nicene Revolution, Oxford 2000) nicht ›genuin-arianische Lehre‹ (was immer dies genau sein soll) erneuern wollten. Auch wurde diese theologische Fraktion von Kaiser Konstantius II nicht gefördert, sondern schließlich unterdrückt. Auf S. 167 heißt es: »Kaiser Julian Apostata (361–363) … fiel auch äußerlich vom Glauben ab und entzog dem Christentum sowie der Kirche [sic!] all jene Privilegien, die Konstantin ihr verliehen hatte. Geistig versuchte er sie dadurch in ihrer Substanz zu brechen, als er den christlichen Schulen gebot [sic!], die Bildungsschätze des Heidentums zu vermitteln. … Hinzu kam, dass die durch Irrlehren im Christentum entstandenen Spaltungen (Arianismus, Nestorianismus, Monophysitismus, Monotheletismus) sowohl dessen Kraft im Innern als auch dessen Ansehen nach außen minderten.« Vom krassen Anachronismus einmal abgesehen – ist es wirklich ausgemacht, dass die Fraktionierung der klerikalen Elite des Christentums negative Auswirkungen auf dessen Expansionskraft und missionarische Attraktivität hatten?
Man legt das Buch also etwas unbefriedigt aus der Hand. Für einen kompetenten Überblick über die antiken Kirchenordnungen ist weiterhin der erste Teil der schon erwähnten Monographie von Bruno Steimer empfehlenswert.