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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

712 f

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Heun, Werner, Honecker, Martin, Morlok, Martin, u. Joachim Wieland [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evangelisches Staatslexikon. Neuausgabe.

Verlag:

Stutt­gart: Kohlhammer 2006. XXV S, 2956 Sp. gr.8°. Geb. EUR 65,70. ISBN 978-3-17-018416-9.

Rezensent:

Christian Grethlein

40 Jahre nach der Erstauflage, die 1975 eine Zweitauflage und 1987 eine erheblich (auf zwei Bände) erweiterte dritte Auflage fand, erscheint die hier anzuzeigende Neuausgabe des renommierten Evangelischen Staatslexikons. Umfangmäßig ist man wieder zum Anfang zurückgekehrt, was zu einer erheblichen Straffung und damit unvermeidlich zu gewissen Lücken, zugleich aber zur Möglichkeit konzentrierter und schneller Information führte. Wie bisher fehlen Personenartikel, jetzt aber auch Länderartikel. Ziel des Lexikons ist es, »Juristen, Studierenden, kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie nach Orientierung suchenden Chris­ten und Mitbürgern sachliche Orientierung und Hilfe zur eigenen Urteilsbildung (zu) bieten« (VII). Insgesamt liegt der Reiz des Opus darin, dass gleichermaßen juristische und theologische Ge­sichts­punkte zur Sprache kommen, was sich häufig darin äußert, dass ein Lemma in doppelter Weise, versehen mit dem Kürzel (J) für juristisch und (Th) für theologisch, behandelt wird. So tritt die enge Verflochtenheit des Protestantismus mit staatlicher und ge­sell­schaftlicher Öffentlichkeit in Deutschland und den sie bewegenden Fragen und Problemen klar zu Tage, wobei auch der europäische (Rechts-)Kontext Beachtung findet – in Hinweisen, aber auch in eigenen gewichtigen Artikeln.
Die Aktualität des Lexikons zeigt sich in neuen Lemmata. Hier verdient die politische (Wieder-)Vereinigung Deutschlands besonderes Interesse – die dritte Auflage 1987 ging ja noch von der Teilung Deutschlands aus. Diese Entwicklung wird zum einen in den beiden sehr gelungenen, da informativen und das aktuelle politische Geschehen in größere Zusammenhänge stellenden Artikeln »Wiedervereinigung Deutschlands (J)« von Bernhard Kempen und »Wiedervereinigung Deutschlands (Th)« von Uwe-Peter Heidingsfeld thematisch dargestellt. Weiter finden sich in vielen anderen Artikeln Hinweise auf die dadurch gegebenen Veränderungen in staatlicher, kirchlicher und den Zusammenhang von Kirche und Staat betreffender Hinsicht. Ein weiteres Beispiel für die Aktualität ist das Stichwort »NGO« (Non-Governmental Organization), sorgfältig bearbeitet durch Gunnnar Folke Schuppert.
Die inhaltliche Weiterentwicklung bestehender Artikel seit der dritten Auflage ist exemplarisch beim Lemma »Islam« zu studieren: »Juristisch« – und d. h. hier vor allem auch historisch und gesellschaftstheoretisch hinsichtlich der Herausbildung des islamischen Staates und der Importversuche westlicher Einflüsse – wird dies ausgeführt von Tilman Nagel, »theologisch« von Adel Theodor Khoury. Beide sind hervorragende Kenner des Themas. Vor allem Nagel nutzt die komprimierte Form des Artikels dazu, große Entwicklungslinien zu entwerfen, die eine grundsätzliche Orientierung in den schwierigen und lange Zeit eher verdrängten Fragen des Verhältnisses von Islam und dem »Westen« ermöglichen.
Ebenfalls auf der Höhe der Zeit zeigt sich das Lexikon in einem dritten, schnellen Veränderungen unterliegenden Bereich, dem der Ethik. Auch hier werden zuverlässig die jeweilige Rechtssituation in Deutschland, teilweise mit Ausblicken in andere Länder, dargestellt sowie die sich stellenden ethischen Probleme in einer Weise theologisch entfaltet, dass deutlich die grundsätzlichen Fragen hervortreten und so auch Anschluss an die ethische Tradition ge­wonnen werden kann. Im besten Sinn wird hier eine Hilfe zur ethischen Urteilsbildung gegeben. Ein gutes Beispiel hierfür ist der theologische Artikel von Ulrich Körtner zu »Genetik, Gentechnologie«.
Darüber hinaus finden sich selbstverständlich auch die »klassischen« Lemmata zu ekklesiologischen, kirchenkundlichen, staatskirchenrechtlichen und diakonischen Fragen. Sie werden in der Regel von hervorragend ausgewiesenen Fachleuten informationsdicht und zugleich übersichtlich – erleichtert durch straffe Bin­nengliederung längerer Artikel – behandelt. So hat z. B. Wolfgang Huber den grundsätzlichen Artikel »Kirche und Politik« verfasst.
Natürlich tauchen an einzelnen Stellen auch Nachfragen auf, was aber angesichts des begrenzten Raums und der Vielzahl der Artikel wohl unvermeidlich ist. So sucht man z. B. beim Artikel »Religionsunterricht« vergeblich nach der Erwähnung kirchlicher Stellungnahmen, aber auch historischer Tiefenschärfe. Dafür wird hier mehrfach auf die grundsätzliche Problematik eines islamischen Re­ligionsunterrichts hingewiesen. Auch scheinen bisweilen die angegebenen Literaturangaben zu knapp, als dass sich etwa Studierende mit vertieftem Interesse daraufhin schon selbst weiter kundig machen könnten. Angesichts der Möglichkeiten von Internet-Re­cherchen ist dies aber wenig gravierend. Schließlich hat sich mir das Personen- und Sachregister nicht ganz erschlossen. Mehrfache Stichproben hinsichtlich von »Sachen« ergaben, dass diese Stellen nicht aufgenommen waren. Umgekehrt ist es gut verständlich, dass das Register dieses großen Werkes nicht zu sehr ausgedehnt werden sollte.
So liegt mit dieser vollkommen neu konzipierten vierten Auf­lage des Evangelischen Staatslexikons ein hervorragendes Instrument vor, um schnell und zuverlässig informiert in die grundsätzlichen Fragen und Probleme einzudringen, die sich im Umfeld von evangelischem Glauben und seinem Bezug zu öffentlichen Belangen stellen. Entsprechend der protestantischen Tradition stehen dabei Fragen der öffentlichen Verantwortung des Glaubens im Vordergrund. Von daher unterscheidet sich das Lexikon auch klar etwa von dem jüngst erschienenen (dreibändigen) Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, dessen Schwerpunkt aus der katholischen Tradition stammend eher auf innerkirchlichem (konkret: kanonischem) Recht liegt.
Gegenüber den beiden großen evangelischen Lexika, der RGG und der TRE, ist die Fokussierung auf die rechtlichen und politischen Gegebenheiten sowie die inhaltliche Konzentration hervorzuheben.