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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

709–712

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Weyel, Birgit, u. Wilhelm Gräb [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion in der modernen Lebenswelt. Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 363 S. 8°. Kart. EUR 39,90. ISBN 3-525-56960-2.

Rezensent:

Reiner Preul

Zum Thema »Religion in der modernen Gesellschaft« ist inzwischen so viel geforscht und veröffentlicht worden, dass der Leser gern nach einem Band greift, der Übersicht verspricht. Er wird auch aufs Ganze gesehen durch dieses von 18 Autoren geschriebene Buch nicht enttäuscht werden. Die Konzeption der Veröffentlichung ist auf Vollständigkeit und interdisziplinäre Bearbeitung (zehn Autoren sind aus anderen Fakultäten) bedacht und überzeugt mit ihrer Zweiteilung »Moderne Lebenswelt und Religion: Erscheinungsformen«/»Religion und die Bildung ihrer Theorie: Reflexionsperspektiven«, auch wenn diese Trennung in den einzelnen Beiträgen, wie nicht anders zu erwarten, oft übersprungen wird: Wer eine Erscheinungsform von Religion beschreibt, muss auch Auskunft über das methodisch-theoretische Instrumentarium geben, und wer einen wissenschaftlichen Zugang reflektiert, muss dessen Erschließungskraft am Phänomen bewähren.
Die Diversität der Erscheinungsformen wird unter den Begriffen »Individuum« (Volker Gerhardt), »Kirche« (Andreas Feige), »Me­dien« (Knut Hickethier), »Alltag« (Bernt Schnettler), »Kunst« (Volk­hard Krech), »Kultur« (Arnulf von Scheliha), »Sozialität« (Volker Drehsen) und »Zivilgesellschaft« (Rolf Schieder) erschlossen; für die verschiedenen Reflexionsformen stehen »Kulturtheorie« (Hartmut Böhme), »Hermeneutik« (Christof Landmesser), »Phänomenologie« (Thomas Macho), »Ästhetik« (Ernst Müller), »Soziologie« (Hubert Knoblauch), »Psychologie« (Michael Utsch), »Philosophie« (Thomas Rentsch) und »Theologie« (Dietrich Korsch). Der erste Teil wird von Birgit Weyel, der zweite von Wilhelm Gräb eingeleitet, wobei lo­benswerterweise auf Zusammenfassung oder Kommentierung der jeweils nachfolgenden Texte verzichtet wird.
An Stelle einer hier nicht möglichen Einzelbesprechung der Beiträge einige Beobachtungen als Ergebnis der Gesamtlektüre:
1. Bevor sie eine eigene Position skizzieren oder auch an deren Stelle, referieren die meisten Autoren die jeweilige Problem- oder Theoriegeschichte. Das ist in einigen Fällen ganz vorzüglich gelungen, so – um nur je ein Beispiel aus dem ersten und zweiten Teil zu nennen – bei A. v. Scheliha, der zum Verhältnis von Kultur und Religion die Linie von Schleiermacher über den Kulturprotestantismus, die Kulturkritik der dialektischen Theologie und die Kulturtheologie Tillichs bis zu gegenwärtigen Positionen und »Inkulturationen religiöser Sinnstrukturen« nachzeichnet, und bei E. Müller, dessen Referat zum Religionsbezug ästhetischer Theorien u. a. einen erhellenden Vergleich zwischen Kants Bestimmung des Erhabenen in der Kr. d. U. und dem Religionsverständnis in Schlei­ermachers »Reden« bietet.
2. Natürlich operieren die so unterschiedlichen Autoren nicht mit dem gleichen Religionsverständnis. Plädiert B. Weyel für einen weiten Religionsbegriff, »der auch die Erscheinungsformen von Religion in den Blick zu nehmen versteht, die sich selbst nicht explizit als religiös verstehen« (17), so läuft die an Platon anknüpfende, konzentrierte und m. E. auch stichhaltige Überlegung des Philosophen V. Gerhardt auf eine bewusste Wiedergewinnung des Gottesbegriffs gegenüber einer empirieverfallenen Moderne hinaus. Ebenfalls apologetisch im guten Sinne ist der philosophische Beitrag von Th. Rentsch: »Theologische Vorgriffe spielen in der modernen Philosophie eine viel größere Rolle als bisher wahrgenommen.« (329) So das Ergebnis seiner Durchsicht der Positionen von Heidegger, Wittgenstein, Adorno, Habermas, Derrida u. a., und er plädiert für eine neue »philosophische Theologie« als »kritische Theorie absoluter Transzendenz« (316), nach welcher Religion »als Aufklärung über lebenssinn-konstitutive Transzendenz, als Aufklärung über Gott bzw. das Göttliche« (334) zu bestimmen ist. Der Medienwissenschaftler K. Hickethier dagegen stellt die Frage nach dem Wesen von Religion überhaupt nicht, sondern begnügt sich mit einigen der Religion zugeschriebenen Leistungen, die nun durch das Leitmedium Fernsehen, zumal wenn man es so kritiklos betrachtet wie in diesem Artikel, besser erbracht werden könnten: »Sinnstiftung in einer an sich als sinnlos erlebten Umwelt, Orientierungsvermittlung in einer als unübersichtlich erfahrenen Welt und eine Ritualisierung des Alltagslebens durch die mediale Zeitstrukturierung. In dieser Rolle ist das Fernsehen umfassender …« (82). Also: Fernsehen als Religionsersatz. Etwa auch als Gottesersatz? W. Gräb definiert Religion auf der Linie Schleiermachers als »dasjenige Moment im Selbstverhältnis des Individuums, vermöge dessen ihm aufgeht, dass es von jenseits seiner selbst her sich in dieses Selbstverhältnis eingesetzt findet, es sich auf seine Gründung im Unbedingten hin durchsichtig wird« (192). Die Aufgabe, eine Theorie der Religion zu bilden, stellt sich, wenn es darum geht, Religion nicht nur zu leben, sondern sie auch zu kommunizieren, insbesondere mit Menschen, »die einen religiösen Glauben persönlich sich nicht zu­schreiben, einen anderen Glauben oder gar keinen haben« (ebd.), so dass heutzutage religiöse Kommunikation zugleich »Kommunikation über Religion« sein muss (197). Der Leser, der diesen klaren Ausführungen zuzustimmen geneigt ist und auf dieser Grundlage auch etliche nachfolgende Beiträge wie etwa C. Landmessers schöne Analyse des »hermeneutischen Potentials der Religion« als Konkretisierung liest, erfährt dann zu seiner nicht geringen Verblüffung im abschließenden Artikel des Bandes, dass man die Bemühung um einen kategorialen Religionsbegriff besser ganz aufgäbe, »auch noch bei Schleiermacher« herrsche »ein latenter theologischer Imperialismus« (341), wie überhaupt jede Konzeptionalisierung von Religion an der Partikularität der Position dessen, der sie entwirft, scheitere. Dass man diesem »Übel« dadurch begegnen kann, dass man eben die unhintergehbare Standpunktbedingtheit selber mitreflektiert und -kommuniziert, wird nicht erwogen.
3. Was den Erkenntnisgewinn der einzelnen Artikel betrifft, so möchte ich nur – höchst subjektiv – aus dem ersten Teil besonders den Beitrag von R. Schieder, aus dem zweiten den des Psychologen M. Utsch hervorheben. Das Problem der Zivilreligion kann nach Schieder »als die Frage nach der religiösen Zustimmungsbedürftigkeit und Zustimmungsfähigkeit des Gemeinwesens unter den Bedingungen von Religionsfreiheit und religiöser Pluralität ge­fasst werden«, wobei aber zugleich gilt, dass es eine »von den Konfessionen losgelöste Zivilreligion« nicht geben kann (182). Schieder plädiert auf dieser Grundlage gegen staatlich dirigierte und für eine »zivilgesellschaftliche Zivilreligion« und demonstriert deren Notwendigkeit und Leistungsfähigkeit unter gegenwärtigen ge­sellschaftlichen und institutionellen Bedingungen. – Auf breiter Literaturbasis (wobei leider die einschlägige Arbeit von Kirsten Huxel übersehen wird) stellt Utsch die hierzulande (im Unterschied zu den USA) defizitäre Debatte zwischen Psychologie und Theologie dar – einerseits reduktionistische Seelenmodelle, andererseits eine zu einseitige Orientierung an der Psychoanalyse –, arbeitet die theoretische und praktische Bedeutung des Menschenbildes für die Psychologie heraus und präsentiert die »idealtypische Modellskizze einer dialogischen Kooperation« (312), in der die beiden Disziplinen sich nicht mehr als »Rivalinnen der Lebensklugheit« (305) gegenüberstehen.
4. »Das leitende Interesse und zugleich der konzeptionelle An­satzpunkt dieses Bandes ist es, die Religion in der modernen Lebenswelt sowohl in der Vielfalt ihrer Phänomenbezüge wie in der Vielfalt ihrer theoretischen Reflexionsperspektiven in den Blick zu nehmen.« (Vorwort) Nachdem, wenn auch nur in exemplarischer Auswahl, verdeutlicht wurde, inwiefern dieses Programm eingelöst wird, darf zum Schluss bemerkt werden, was aus Sicht des Referenten noch fehlt bzw. zu kurz kommt.
Auf den Begriff der Lebenswelt und seine theoretische Fundierung wird zwar gelegentlich (z. B. 94) Bezug genommen, es fehlt aber eine zusammenhängende konkrete Beschreibung dessen, was für die moderne Lebenswelt charakteristisch ist, der Leser muss es sich aus Andeutungen in den einzelnen Beiträgen zusammensuchen. Wäre eine solche Skizze nicht Aufgabe der ersten Einleitung gewesen? Besser steht es mit dem immer wieder bemühten Ausdruck »Alltag«: »Gerade die zweckfreie Alltagskommunikation ist ein vorzüglicher moderner Ort, an dem ›Religion bei Gelegenheit‹ generiert wird.« (20) In leichter Spannung dazu – »zweckfrei« passt nicht – wird der Terminus in B. Schnettlers informativem Artikel definiert: »›Alltag‹ ist derjenige Bereich der Wirklichkeit, in dem Menschen miteinander handeln, interagieren und kommunizieren.« (93) Die Alltagswelt fungiert dann gegenüber den Sinnwelten der ästhetischen Erfahrung, der Phantasie und der Wissenschaft als »paramount reality« (ebd.). Phänomenologisch wäre aber eine noch konkretere und zugleich systematische Differenzierung von »Alltag« – vermöge welcher Gegenbegriffe gewinnt er selbst seine Konturen? – wünschenswert.
Dass Religion Sache des Individuums ist, dass sie in mannig­fachen Formen der Individualisierung, Privatisierung und Transformation in der Moderne je länger je mehr auch außerhalb des kirchlichen Christentums gelebt wird und dass die religiösen Großinstitutionen an persönlicher und gesellschaftlicher Prägekraft verloren haben, diese communis opinio ist cantus firmus der meisten Beiträge. Die »Religion außerhalb« wird dann auch facettenreich illustriert, auch unter Bezugnahme auf eindrucksvolle Beispiele aus moderner Literatur und Kunst (20 f., bes. 113 ff.). Nun ist aber das kirchliche Christentum wohl auch Religion in der modernen Lebenswelt, und man wüsste gern, wie sich die Strukturen der Moderne auch hier formgebend, und nicht nur erodierend, auswirken. Diese Lücke im Phänomenspektrum des Bandes wird leider weder durch A. Feiges unter dem Titel »Kirche und Religion« scharfsinnig vorgetragene Reflexionen zum Theoriedesign gegenwärtiger Religionssoziologie – die später in H. Knoblauchs Darstellung eine kompetente Fortsetzung finden – noch durch V. Drehsens Beitrag geschlossen, der unter der irreführenden Überschrift »Sozialität und Religion« vielmehr »protestantische Subjektivität« und »individualisierte Religion« am Beispiel Thomas Manns be­handelt. Entsprechend fehlt auch im methodologischen Teil ein kirchentheoretischer Beitrag.