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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

680–683

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Osthövener, Claus-Dieter

Titel/Untertitel:

Erlösung. Transformationen einer Idee im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. X, 323 S. gr.8° = Beiträge zur historischen Theologie, 128. Lw. EUR 84,00. ISBN 3-16-148272-7.

Rezensent:

Friederike Nüssel

Bei der angezeigten Studie zum »Erlösungsgedanken innerhalb der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts« (1) handelt es sich um die überarbeitete Fassung der im Jahr 2000 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommenen Habilitationsschrift von C.-D. Osthövener. O. geht aus von der Beobachtung, dass der Erlösungsbegriff gemessen »an der zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch relativ intakten und homogen geprägten christlichen Zu­ordnung« im weiteren Verlauf des Jh.s »eine grundlegende Neu­formation erfährt, in der wesentliche Elemente der christlichen Tra dition keine beherrschende Rolle mehr spielen« (1). Diese Ent­wicklung sei jedoch nicht einfach als Zurücktreten oder als Verfallsgeschichte des christlichen Erlösungsgedankens zu lesen, sondern als ein Kontinuität und Diskontinuität vereinigender Transformationsprozess (15). So lautet die These, die O. im Gang seiner Studie zu erweisen sucht. Den Ausgangspunkt dieses Prozesses markiert er, indem er im ersten Teil zunächst die Grundzüge des protestantischen Erlösungsgedankens anhand der theologischen Entfaltung bei Martin Luther und Friedrich Schleiermacher (20–101) rekonstruiert.
Luthers Beitrag »zu einer Ideengeschichte der Erlösungsvorstellung in der Neuzeit« (56) sieht O. in der »nachdrückliche[n] Fokussierung auf die Erlösungsbedürftigkeit«, durch die die Erlösungsidee »allererst eine systematische Funktion« (ebd.) gewinne. In Verbindung mit der radikalen Transzendierung der mundanen Sphäre habe dies zu einer »Neugestaltung der religiösen Vorstellungswelt« (57) im Blick auf den Gottesgedanken, die Funktion Jesu Christi und das religiöse Subjekt geführt. Bei Schleiermacher entfalte der Erlösungsgedanke erneut »organisierende Kraft« (100), gewinne aber überdies die »Funktion als christliches Wesensmerkmal« (ebd.) und diene zugleich der »in allen Bereichen notwendige[n] Transformation und Überführung [des Christentums] in die moderne Lebenswelt« (ebd.). Trotz des Abstandes »der nachaufklärerischen Gegenwart zur reformatorischen Erlösungsvorstellung« (102) werde in den Positionen von Luther und Schleiermacher »ein zumindest in Umrissen einheitlicher protestantischer Erlösungsgedanke artikuliert« (101). Als protestantisch kennzeichnet O. dabei die »stets multiperspektivische und vielschichtige Selbstvergewisserung der von der Reformation gestifteten oder be­einflußten Kirchentümer und religiösen Lagen« (ebd.).
Im zweiten Teil, dem Hauptteil des Buches, rekonstruiert O. die »Transformationen der Erlösung« (108) bei Arthur Schopenhauer, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Er wählt damit gezielt »solche Entwürfe, die sich des Erlösungsgedankens innerhalb philosophischer und ästhetischer Kontexte annehmen und dergestalt eine Aneignung oder Übernahme christlicher oder zumindest spezifisch religiöser Themen durch andere Kultursphären darstellen« (1). Schopenhauer sei in Europa wohl der Erste gewesen, »der die umfassende Entfaltung einer nicht-konfessionellen und außerhalb des verfaßten Christentums stehenden Erlösungsidee vorgenommen« (138) habe. Als deren »Aufbauelemente« (116) identifiziert O. das metaphysische Bedürfnis, die Selbstentzweiung des Willens, die ästhetische Kontemplation sowie die Selbstaufhebung des Willens (116–133). Trotz der »expliziten Abneigung gegen die Religion und vor allem gegen das zeitgenössische, kirchlich ge­prägte Christentum« (138) sei es Schopenhauer in seiner Philosophie der Erlösung gelungen, »eine religiöse Dimension« zu bewahren und »die durchweg pessimistische Lebens- und Weltsicht mit einer Perspektive zu versehen, die schon an sich eine innere Distanz zu allen Lebensvollzügen ermöglicht und in den wenngleich punktuellen Augenblicken des Kunstgenusses auch eine positive Teilhabe an der dem Willensstreben enthobenen Sphäre der in sich ruhenden Ideen erlaubt« (ebd.). Seine »Verbindung der Erlösungsidee mit dem Feld der Ästhetik« (138) weise dabei voraus auf Richard Wagners Umgang mit dem »Themenfeld der Religion und der Gesellschaft« (141) in seinem Kunstschaffen (vgl. 139–177).
In der Rekonstruktion von Wagners Transformation der Erlösungsidee zeigt O. zunächst, warum Wagner den Plan zu einem Drama über Jesus von Nazareth nicht realisiert hat (146; vgl. 141–150), wendet sich dann seiner ästhetischen Reflexion der Erlösung in den Zürcher Kunstschriften zu (150–162), um schließlich exemplarisch am ›Parsifal‹ die Funktion des Erlösungsgedankens in Wagners musikdramatischem Schaffen aufzuweisen (vgl. 162–176), mit dem er »geradezu die Nachfolge der institutionalisierten Religion [habe] antreten wollen« (176 f.). Den »isolierten Charakter« von Schopenhauers Erlösungsauffassung weiterführend habe Wagner die Erlösung »als Unterbrechung des Alltags – als Festspiel« (177) ausgestaltet und die Erlösungsidee »als Systembegriff in der Neuorganisation der Ästhetik« (176) zum Zuge gebracht. Wenngleich mit dem »Auseinandertreten von Erlösungsdarstellung und Erlösungserlebnis« (177) die für die protestantische Erlösungsidee konstitutive Integration in die Alltagswelt nicht mehr erreicht werde, bleibe bei Wagner doch »der Kulturgemeinschaft in einer ihr wesentlichen Sphäre – der ästhetischen – die Idee der Erlösung in ihrem formalen und inhaltlichen Reichtum erhalten« (177). Erst im Spätwerk Friedrich Nietzsches gerate die Erlösungsidee »in ihre tiefste Krise« (180). Die Studie zur Umformung der Erlösungsidee bei Nietzsche bildet den umfangreichsten Teil in O.s Untersuchung und bietet zugleich einen guten Einblick in die Entwicklung von Nietzsches Denken insgesamt.
In einem ersten Schritt verfolgt O. »die Entfaltung des Erlösungsgedankens bis an die Schwelle des Spätwerks« (180–203) und zeigt, wie Nietzsche ausgehend von der in der ›Geburt der Tragödie‹ geltend gemachten wissenschaftssystematischen Einsicht in »die leitende und integrierende Funktion der Ästhetik« (181) auf der Basis kulturkritischer Zeitdiagnosen (187–190) seine frühe Religionstheorie (190–195) entwickelt, die er schließlich in eine psychologische und metaphysische Kritik der Religion (195–203) überführt. Dabei bezieht O. in seine Interpretation auch den Abschnitt ›Das leichte Leben‹ aus dem Projekt ›Die Pflugschar‹ ein (vgl. 192–194), dessen von ihm rekonstruierte Textgestalt er im Anhang bietet (siehe den Anhang 295–300). In einem zweiten Schritt demonstriert O. Nietzsches poetischen Umgang mit dem »Problem des Erlösers« (203–228) im ›Zarathustra‹ und seine psychologische Darstellung Jesu in ›Der Antichrist‹ (203–228) und zeigt, dass Nietzsche mit seiner späten Jesusdeutung »auf seine Weise die von Zarathustra proklamierte Erlösung vom Erlöser erreicht« (228). Sehr erhellend ist überdies der Aufweis, dass »Nietzsches Sicht der Geschichte Israels und des Judentums … in weiten Teilen den Forschungen von Julius Wellhausen (1844–1919) verpflichtet« ist (217, vgl. 217–221). In einem letzten Schritt weist O. schließlich die Ambivalenzen des Erlösungsgedankens im Spätwerk Nietzsches auf (228–244). Ausgehend von Nietzsches zeitdiagnostischer Beschreibung seiner Gegenwart als »Auflösungs-Zeitalter« (229) führt er vor, wie Nietzsche in seiner Suche nach einem »neuen Zugang zur Religion« (236) in Entsprechung zu seiner »Grundanschauung von der Vielfalt konkurrierender Affekte« die Rolle der Religion in der Beförderung der »Bündelung und Konzentration dieses Affekthaushalts« (238) sehe. Das Verständnis der Erlösung schließlich bewege sich im Spätwerk zwischen Kritik und Konstruktion, indem einerseits das Bedürfnis nach Erlösung als Ausdruck der Dekadenz gelte und andererseits der Erlösungsgedanke als Befreiung des Subjekts »aus dem Ungenügen hinsichtlich seiner überindividuellen Aufgaben« (243) zu stehen komme. Mit »der Verschränkung subjektiver und transsubjektiver Züge seiner Erlösungsidee« stehe Nietzsche den ursprünglichen Erlösungsideen Luthers und Schleiermachers zwar »sicher sehr viel näher, als es ihm selbst bewußt war« (ebd.), gleichwohl dringe er aber mit seiner Kritik »bis zu den letzten Wesensmerkmalen« (244) vor. Für die Erlösungsidee sei mithin »Nietzsches Werk das Schicksal gewesen … – Ende und Anfang gleichermaßen, Un­tergang und Übergang« (246).
Im Rückblick auf die rekonstruierten Positionen kann O. die »Signatur der Erlösung im 19. Jahrhundert« (247) zusammenfassend charakterisieren. Während Wagner die »bei Schopenhauer bereits deutlich herausgehobene ästhetische Dimension des Erlösungsgedankens … in vieler Hinsicht überboten« (250) habe, werde bei Nietzsche die Erlösungsidee als »Bestandteil des symbolischen Kanons der traditionellen Kirchenlehre« (252) destruiert. Zugleich habe aber Nietzsche »wie kein anderer Denker seiner Zeit« darauf hingewirkt, »die Suche nach Lebens- und Daseinssinn anzustoßen und zu vertiefen« (253). Ausgehend von dieser Analyse versucht O. im letzten Teil seines Buches, »ein systematisches Fazit zu ziehen, das sich nicht mehr an der Problemgeschichte ausrichtet, sondern die begrifflichen Elemente und die argumentativen Konsequenzen in den Vordergrund rückt, wobei auch der Abstand nicht nur der Gegenwart, sondern schon der klassischen Moderne von den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts markiert wird« (16).
Im Rekurs auf Bertolt Brecht, Robert Musil und Thomas Mann zeigt er zunächst, dass zu Beginn des 20. Jh.s »ein bruchloser An­schluß an die Bemühungen des 19. Jahrhunderts« (257) nicht mehr möglich erscheint. Weiter profiliert er die Erlösungsidee im Verhältnis zu den modernen Leitideen der Freiheit und des Glücks (260–267) und zu den soteriologischen Grundbegriffen der Rechtfertigung und Versöhnung (279–288, übergehend in Überlegungen zum gegenwärtigen Profil des Erlösungsbegriffs, 288–294). Den Transformationsbegriff präzisiert O. sodann als historiographische Prozesskategorie im Rekurs auf Adolf von Harnack (267) und zeichnet ihn mit Hilfe von Emanuel Hirschs Modell der Umformungskrise »in den neuzeitlichen Prozeß der Differenzierung und Neuorientierung der Bereiche religiöser und profaner Weltdeutung« (270) ein. Diese Konturierung soll es erlauben, den Transformationsprozess der Erlösungsidee im 19. Jh. als Erweis der »Stabilität des Erlösungsgedankens« zu lesen, »der seine Bedeutsamkeit auch unter Bedingungen bewahrt, die nicht mehr in direkter Form institutionell gestützt oder durch die christliche Symbolkultur getragen sind« (288 f.).
Den Gewinn der Einsicht in den Transformationsprozess für das religiöse Bewusstsein sieht O. in dem Angebot, »sich im Durchgang durch solche Umformungen der inneren Vielfalt in der Ge­staltung und Symbolisierung seiner religiösen Grundsätze bewußt zu werden und durch den Perspektivengewinn solcher Interpretationsbemühungen nun auch selbständig den hermeneutisch er­schließbaren Kontexten dieser Ideen auf den Grund zu gehen« (289). So werde das religiöse Subjekt »weit weniger abhängig von der zeichengebundenen Kodierung traditionaler Symbolisierungen des Erlösungsgedankens« (ebd.). Weiter hält O. fest, dass sich die von ihm untersuchten Transformationen der »ästhetischen Religion zuordnen« (290) lassen, indem sich die Erlösung jeweils »im ästhetischen Akt der Anschauung« (ebd.) bewähre. Daraus entwickelt er die religionstheologische Empfehlung, die These von der »abso­luten Höchstgeltung des Christentums als sittlicher Erlösungs­re­ligion« (Hervorhebung von mir) zurückzunehmen und »eine kulturrelative Betrachtungsweise« (291) der unterschiedlichen Erlösungskonzepte anzustreben. Allerdings dürfe »ein insgesamt kulturof­fener und den Ideen des Pluralismus und des Individualismus aufgeschlossener christlicher Erlösungsbegriff nicht als unbegrenzt verschieblich« (291) verstanden werden. Er stehe vielmehr »unter der Anforderung, dem sich in seiner Perspektive auslegenden Bewußtsein ein Ensemble spezifischer Symbole zu präsentieren, die sich zur Darstellung und Selbstklärung der je individuellen Situation eignen« (291).
Die Frage nach der »Legitimität der erörterten Erlösungsbegriffe« (16), die O. in seiner Arbeit zu Gunsten eines kulturhermeneutischen Verfahrens dezidiert nicht klären möchte, wird mit diesen Überlegungen de facto in die Frage nach ihrer Leistungsfähigkeit für die Selbst- und Weltdeutung des Individuums überführt. Die gegenwärtige Plausibilität der Erlösungsidee zu prüfen, wäre – wie O. selbst vermerkt – jedoch Aufgabe »einer anderen und anders gewichteten Untersuchung« (294). Das Verdienst seines Buches besteht demgegenüber darin, anhand der je für sich und in ihrem ideengeschichtlichen Zusammenhang feinsinnig rekonstruierten Umformungen der Erlösungsidee bei Schopenhauer, Wagner und Nietzsche ein Stück Geistesgeschichte erschlossen zu haben. So demonstriert sein Buch, wie gerade auch die außertheologischen Transformationen christlicher Glaubensinhalte zur Besinnung auf das Wesen des Christentums nötigen.