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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

650–652

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Tobin, Thomas H.

Titel/Untertitel:

Paul’s Rhetoric in Its Contexts. The Argument of Romans.

Verlag:

Peabody: Hendrickson 2004. XXII, 469 S. gr.8°. Kart. £ 15,99. ISBN 1-56563-946-4.

Rezensent:

Friedrich Wilhelm Horn

Die Frage nach dem Abfassungszweck des Römerbriefs durchzieht die Einleitungswissenschaft, ohne bislang eine allgemein überzeugende und in jeder Hinsicht plausible Antwort gefunden zu haben. Die begrenzten Sachanliegen in der von der römischen Gemeinde geforderten Fürbitte für die anstehende Kollektenübergabe (Röm 15,30 f.) und die erbetene Unterstützung für die sich hieran an­schließende Spanienmission (Röm 15,24) können nicht die Abfassung eines Briefs in dem Umfang und der thematischen Breite des Römerbriefs rechtfertigen. Daher wurde stets ein mit diesen Aspekten zusammenhängendes, jedoch insgesamt übergeordnetes Thema gesucht, das als Abfassungszweck plausibel erschien, und es wurden hierbei im Wesentlichen drei unterschiedliche Voraussetzungen für die Abfassung benannt, die leicht um weitere Nebenaspekte zu bereichern wären: a) der Römerbrief will Einfluss nehmen auf die Paulus bislang unbekannte Gemeinde in Rom und einem sich dort breitmachenden Antipaulinismus entgegentreten (F. Chr. Baur, A. Wedderburn); b) der Römerbrief ist zwar nach Rom adressiert, gedanklich aber eine Art Verteidigungsrede vor der judenchristlichen und jüdischen Gemeinde in Jerusalem (G. Bornkamm, J. Jervell, U. Wilckens); c) der Römerbrief ist relativ frei von aktuellen Problemen. Paulus legt in diesem Brief seine ›Summe des Evangeliums‹ dar (E. Lohse).
In dem hier vorzustellenden Buch wird erneut ein Interpretationsansatz vorgestellt, der den Römerbrief ganz aus einer be­stimmten Situation heraus erklären möchte: »These circumstances included the situation of the Roman Christian community, Paul’s own situation in his missionary activities and how those two situations affected one another« (XI und öfter, etwa auch 417). Nun ist auch diese Variante nicht neu. Ihre Nähe zu F. Chr. Baur und A. Wedderburn, um hier nur einen älteren und einen jüngeren Vertreter der Hypothese zu nennen, wird allerdings nicht angezeigt, denn beide Autoren finden in T.s Buch keine Erwähnung. Auch E. Lohses Arbeiten, selbst sein großer Kommentar, in dem nochmals die bereits angezeigte These entfaltet worden ist, werden nicht genannt. Vielmehr wird eingangs forsch die E. Lohses Anliegen unterlaufende und die Forschungssituation verzeichnende These in den Raum gestellt: »… virtually all interpreters of Romans agree that Romans is not a theological treatise« (2). T. möchte eine Wende innerhalb der Forschung verstärken. Man habe vornehmlich nicht mehr danach zu fragen, was Paulus geschrieben habe, sondern wie und warum er etwas geschrieben habe. Radikale Adressatenorientierung in der Bestimmung des Abfassungszwecks in Verbindung mit rhetorischer Analyse markieren also T.s Ansatz.
In drei einleitenden Abschnitten werden dargestellt a) das Verhältnis der stadtrömischen Juden zu den stadtrömischen Christen (16–46), b) das Verhältnis des Apostels Paulus zu den stadtrömischen Christen (47–78) und c) Struktur, Gattung und Zweck des Römerbriefs (79–103). Obwohl T. vehement ablehnt, mit seiner Abhandlung einen weiteren Kommentar zum Römerbrief vorlegen zu wollen, folgt seine Untersuchung im Anschluss an die Einleitungskapitel dem Duktus des Römerbriefs, indem zwar nicht versweise, wohl aber dem Argumentationsgang des Briefs in seinen Kapiteln folgend in beständiger Bezugnahme auf die vermuteten Abfassungsverhältnisse die Argumentation nachgezeichnet wird (104–416). In dieser Abhandlung werden Röm 1,1–17 und 15,8–16,27 nicht eigens berücksichtigt, teilweise aber im Einleitungsabschnitt bedacht. In einem Appendix (425–430) ist der Argumentationsgang des Briefs im Überblick festgehalten, der von den üb­lichen Gliederungsvorschlägen hinsichtlich der Grobgliederung des Schreibens darin abweicht, dass Röm 8,1–11,36 zusam­men­gefasst werden und damit die Stellung des Volkes Israel noch deutlicher im Kontext der Eschatologie und nicht als Sonderproblem thematisiert wird.
T. vermutet, dass die christliche Gemeinde in Rom ursprünglich noch Teil der jüdischen Gemeinde war und sich aus Judenchristen mit jerusalemisch-judäischem Hintergrund (44) und Heidenchris­ten zusammensetzte. Diese Gemeinde existierte zur Zeit der Abfassung des Römerbriefs zwar in organisatorischer Trennung zur jüdischen Gemeinde, verblieb jedoch in großer Kontinuität zu zentralen Inhalten jüdischen Glaubens und Lebens und besaß nur durch ihr Bekenntnis zu Jesus als dem Christus ein Unterscheidungsmerkmal (45). »Any challenge to the sanctity of this law or to observance of its ethical precepts would have appeared to them as perverse. As we shall see, they saw in Paul just such a challenge« (46). Das Ehepaar Aquila und Prisca, das nach Röm 16,3 f. zur Abfassungszeit des Römerbriefs wieder in Rom lebte, aber wenige Jahre zuvor in Korinth unter paulinischen Einfluss geraten war (Apg 18,2), hatte zwischenzeitlich paulinisches Gedankengut in die rö­mische Gemeinde eingetragen und stellte zusammen mit wenigen anderen Christen eine paulinisch geprägte Hausgemeinde dar. Überdies haben die guten Kontakte zwischen Rom und Korinth dafür gesorgt (73), dass negative Nachrichten über die paulinische Mission und die Kritik des Apostels an der Forderung der Toraobservanz für Heidenchristen bekannt geworden sind, ja auch die Kenntnis der wesentlichen Inhalte des Galaterbriefs wird bei den stadtrömischen Christen vorausgesetzt (423). T. möchte also einen ursprünglich heidenchristlichen, eventuell sogar unter Einschluss des formalen Übertritts (34) im Kontext der jüdischen Gemeinde lebenden Anteil von einem späteren paulinisch geprägten Heidenchristentum in der römischen Gemeinde unterscheiden. Die vor- dergründige Absicht des Römerbriefs, die Kollekte nach Jerusalem überbringen zu wollen, um im Anschluss daran zu einer Missionsreise nach Spanien aufbrechen zu können, ist gemäß der Rahmenaussagen (Röm 1,1–15; 15,14–16,24) von der Unterstützung der römischen Gemeinde abhängig. Diese sucht Paulus nach T. in vier argumentativen Schritten zu erwirken (1,18–3,20; 3,21–4,25; 5,1–7,25 und 8,1–11,36), in denen er stets die gemeinsamen Überzeugungen mit der römischen Gemeinde betont und gleichzeitig eine scharfe Abkehr von etlichen Aussagen des Galaterbriefs vollzieht. »The interpretive framework of Romans differs radically from the framework of Galatians« (102 f.). Nach T. vollzieht sich dieses Umdenken jetzt im Blick auf eine positive Bewertung der Tora und eine auf sie bezogene Lebensführung sowie auf alle positiven Aussagen zu Israel, vor allem auf die auf Israel bezogenen Verheißungen.
T. interpretiert den Römerbrief als »occasional letter« und setzt voraus, dass Verfasser und Leser den Briefteil Röm 1,16–11,36 als Diatribe verstanden wissen wollten (89). Er wendet sich mehrfach scharf gegen jegliche Interpretation im Sinne eines theologischen Traktates oder einer Abhandlung (418 f.). Die Begründung dieser These räumt ein »element of speculation« (418) ein, vor allem im Blick auf die vorausgesetzten Abfassungsumstände. Die einzige für T. denkbare, aber von ihm abgewiesene Alternative liegt in einer Interpretation, die diese Abfassungsumstände geringachtet. Die weitere Begründung dieser Ablehnung zeigt an, dass in einer Folge der sog. New Perspective on Paul eine bestimmte theologische In­terpretation des Schreibens geradezu a limine ausgeschlossen werden soll: »It also leads to a reading of Romans that is once again caught up in the web of Reformation debates. This can hardly be a responsible way to interpret Romans« (419). Dieses Buch will kein Kommentar zum Römerbrief sein, hat nach meiner Einschätzung aber doch seine stärksten Teile in den einzelexegetischen Passagen. Das Zusammentragen der Einzelelemente zur Bestimmung der vermuteten Abfassungssituation hingegen, das Bedenken der rhetorischen Disposition des Schreibens oder der Verweis auf die Revision mancher Aussagen des Galaterbriefs im Römerbrief sind in der Forschung längst diskutiert, die überdies eine stärkere Beachtung verdient gehabt hätte.