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Ausgabe:

Juni/2007

Spalte:

644–647

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Deines, Roland, u. Karl-Wilhelm Niebuhr [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum 1.–4. Mai 2003, Eisenach/Jena.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2004. XXIV, 435 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 172. Lw. EUR 94,00. ISBN 3-16-148396-0.

Rezensent:

Maren R. Niehoff

Der Sammelband enthält 17 Aufsätze und drei Textlektüren, die das Verhältnis zwischen Neuem Testament und Philo beleuchten. Dabei geht es den Herausgebern um »wechselseitige Wahrnehmungen«, nämlich um Anstöße aus der Philo-Forschung für das Neue Testament und umgekehrt relevante Resultate der neutestamentlichen Forschung für Philo (10). Eine direkte Abhängigkeit der Quellen wird von vornherein als problematisch anerkannt, da Philo ja vor Abfassung der ersten christlichen Schriften lebte und direkte philonische Einflüsse auf das Neue Testament eher schwer nachweisbar sind, besonders im Vergleich zu seiner bekannten Beliebtheit bei den Kirchenvätern.
Dieser forschungsorientierte Ansatz der Herausgeber wird von den einzelnen Beiträgen nur bedingt geteilt. Den Autoren geht es vielmehr um die Quellen in ihrer historischen Abhängigkeit, und zwar in erster Linie um das Neue Testament (mit Ausnahme der Synoptiker) vor dem Hintergrund Philos. Die Beiträge unterscheiden sich deutlich im Hinblick auf zwei zentrale Fragen: Ist das neutestamentliche Christentum als eine Art hellenistischen Judentums oder als eine deutliche Innovation zu verstehen? Im An­schluss daran stellt sich weiterhin die Frage, wie einheitlich oder heterogen wir uns das Judentum des 1. Jh.s vorzustellen haben. Könnte man neutestamentliche Texte mit bestimmten Strömungen innerhalb des hellenistischen Judentums identifizieren und sie somit religionsgeschichtlich einordnen? Implizite oder explizite Stellungnahme zu diesen Fragen bestimmt in der Regel, ob der jeweilige Autor Philo als relevanten Hintergrund zu einer be­stimmten Passage des Neuen Testaments einstuft oder vor »Parallelomania« warnt.
Vertreter einer eher homogenen Auffassung sind vor allem G. Sterling, P. v. d. Horst, D. Hay, G. Sellin und T. Seland. In ihren jeweiligen Beiträgen zeigen diese Forscher, wie hilfreich der Blick auf Philo ist. Seine Texte verdeutlichen ihrer Meinung nach das jüdisch-hellenistische Flair von verschiedenen Phänomenen: 1) die Position der Gegner des Paulus in 1Kor 15,45–46, der Mechanismus der paulinischen Mission und der Prolog des Johannesevangeliums (Sterling); 2) die Beschreibung jüdischer Religiosität in der Apostelgeschichte (v. d. Horst); 3) Pauls’ Interpretation von Gen 1 u. 2 in 1Kor 15,44–9 (Hay); die Inkarnation des Logos in bestimmten Menschen in 1Kor 1–4 (Sellin); und schließlich das Gefühl des Fremdseins in der Welt nach 1Petr 2,11 (Seland). Diese Beiträge werden von einem motivgeschichtlichen Ansatz getragen, der sich auf be­stimmte Textdetails konzentriert, ohne jedoch den größeren sozialen Kontext vor Augen zu haben. Gewisse Unterschiede zwischen philonischen und neutestamentlichen Passagen werden den Be­rührungspunkten gegenüber in den Hintergrund gestellt und nicht ausgewertet im Sinne einer Analyse der spezifisch neuen Motivation christlicher Autoren. Somit erscheinen neutestamentliche Texte als Teil des hellenistischen Judentums.
Nuancierter sind die Beiträge, die von Heterogenität ausgehen und auf signifikante Unterschiede sowohl innerhalb des Judentums als auch zwischen Judentum und Urchristentum hinweisen. Programmatisch für diesen Ansatz steht L. W. Hurtandos Einleitungsaufsatz »Does Philo help explain Christianity?«. Hurtando betont, dass Philo nicht als direkte Quelle für neutestamentliche Ideen oder Texte identifiziert werden kann. Dagegen wird Philo wichtig zum Verständnis des Diasporajudentums in den urbanen Zentren der hellenistischen Epoche, in denen auch die christlichen Gemeinden entstanden. Hurtando räumt mit verbreiteten Vorurteilen auf, indem er folgende Grundsätze akademischer Forschung betont:
We should not imagine that Diaspora Jews of the Roman era collectively represent some weakened or alloyed form of Judaism that sought to escape or tran­scend its ethnic identity, and that (contra Boyarin) prefigured the trans-ethnic direction of early Christianity… we should see Diaspora Judaism, not as a static entity, but a dynamic social and religious expression that by the first-century CE was showing increasingly a strong move toward re-assertion of Judaic particularism (84–85).
Vor diesem Hintergrund muss nach Hurtando die »remarkable nature« des frühen Christentums verstanden werden, und zwar sowohl in ihrem Eingebundensein in den jüdischen Kontext als auch in ihrer Originalität. Fragen nach der jüdischen Identität des Paulus im Vergleich zu anderen jüdischen Selbstdefinitionen rü­cken somit in den Vordergrund ebenso wie innovative Aspekte christlicher Mission und Hingabe an Jesus. So entsteht ein komplexes Bild des frühen Christentums: Es muss im Hinblick auf das hellenistische Judentum, aber nicht vor dessen Hintergrund verstanden werden. Als Juden haben die neutestamentlichen Autoren jü­dische Traditionen und Diskursformen geteilt, als Christen jedoch auch eigene, oft dem Judentum den Rücken kehrende Positionen eingenommen. Das Neue Testament ist demnach nicht als ein nahtloses Kontinuum zu seiner jüdischen Umgebung zu verstehen, sondern als eine eigene Form der Religiosität, die in einem jüdisch-hellenistischen Kontext entstanden ist. Dieser Ansatz ist nicht nur sehr nuanciert und methodologisch durchdacht, sondern geht die jüdischen Quellen mit einer bemerkenswert positiven und unapologetischen Betrachtungsweise an.
Es ist daher sehr befriedigend, dass gerade jüngere deutsche Forscher diesen Ansatz teilen. Besonders schön sind die Beiträge von F. Avemarie, J. Herzer und C. Noack. Avemarie vergleicht Philo und Lukas im Hinblick auf ihre Einstellung zu Rom. Das Thema Rom in den antiken Quellen ist in letzter Zeit zum Brennpunkt vieler Untersuchungen geworden, weil sich hieran die Konstruktion der jeweiligen Identität deutlich abzeichnet. Avemarie arbeitet die Un­terschiede zwischen Philo und Lukas deutlich heraus: Der alexandrinische Jude setzt Judenfeindschaft als ethnischen Hass als eine Gegebenheit voraus und reflektiert theologisch über das oft ent täuschende Handeln der römischen Amtspersonen. Bei Lukas dagegen stehen die Feindseligkeiten eher im Hintergrund. Rom nimmt im Siegeszug der christlichen Botschaft nur eine Nebenrolle ein. In diesem Beitrag wird deutlich, wie ein analoges Problem, nämlich die Gruppenidentität im Römischen Reich, auf unterschiedliche Weise gelöst wird.
Herzer untersucht das Schriftverständnis von 2Tim 3,16 im Hinblick auf Philo. Er kommt dabei zu der Schlussfolgerung, dass Philo nicht als Vorgänger des christlichen Schriftverständnisses angesprochen werden kann, weil er keine Schriftinspiration im engeren Sinne vertritt. Der christliche Autor entwickelt dagegen eine eigenständige Auffassung, die in dieser Form anderswo nicht belegt ist. Während Herzer gewichtige Argumente vorbringt, scheint die Diskussion noch nicht abgeschlossen. Zunächst sollten weitere Texte herangezogen werden, damit der Autor von 2Tim in seiner Gesamtheit, ähnlich wie Philo, beurteilt werden kann und nicht eine Stelle in den Verdacht kommt, Repräsentant des Chris­tentums zu sein. Andererseits ist die schon von Herzer erkannte Vielseitigkeit Philos noch mehr zu betonen. Dabei sollten auch Texte diskutiert werden, die leider nur in armenischer Übersetzung vorliegen, wie z. B. Q.G. 3,43, wo Philo seine Gegner fragt: Warum akzeptiert ihr nicht die Details der Schrift als einen Ausdruck von »Prophetie«?
Noack schließlich untersucht die Begriffe des Habens und Empfangens bei Philo und Paulus. Während beide Autoren auf ein analoges Problem der Bescheidenheit vor Gott hinweisen, indem sie richtige Religiosität mit dem Bewusstsein des Empfangens von Gott identifizieren, unterscheiden sie sich doch markant in ihrer sozialen Auswertung dieses Phänomens. Während Philo hauptsächlich psychologisch auf das Individuum hin argumentiert und als »significant Other« allgemein Atheisten im Blickwinkel hat, spielt Paulus den Begriff des Habens gegen seine unmittelbaren Gegner und Konkurrenten in der frühchristlichen Gemeinde aus. Die Unterschiede zwischen Philo und Paulus, auf die Noack aufmerksam macht, sind zweifellos vorhanden, aber wahrscheinlich in etwas nuancierterer Form. Philo polemisiert z. B. gegen konkurrierende jüdische Exegeten, indem er ihnen vorwirft, die Wissenschaften nicht als ein Geschenk Gottes und eine zu seinen Gunsten zu verwaltende Gabe anzuerkennen, sondern sich unbescheiden Einsicht anzumaßen (Her. 116, Mut. 60–62).
Zuletzt sollten noch zwei enttäuschende Aspekte des Sammelbandes erwähnt werden. N. Cohens Beitrag »Mystery Terminology in Philo« enthält keinerlei Diskussion christlicher Texte. In der einzigen, allgemeinen Referenz zu »the central Christian Mystery« beruft sich die Autorin auf einen Kollegen, offensichtlich ohne jedoch selbst Zugang zu den christlichen Texten gefunden zu haben (183). Ebenso ist es enttäuschend, dass französische und italienische Forscher nicht an der Konferenz teilgenommen haben. In beiden Ländern gibt es wichtige Zentren der Philo-Forschung, deren Stimmen unbedingt gehört werden sollten. So hoffe ich, dass beim nächsten Mal nicht nur die deutsch-englische Sprachbarriere überwunden wird, wie das in diesem Band schon sehr schön exerziert wurde, sondern auch die deutsch-französisch/italienische. Und wer weiß, vielleicht kann man in der nicht allzu messianischen Zukunft auch an hebräische Beiträge denken.
Während ich das Buch in mein Regal einordne, stellt sich mir die Frage, ob es nicht sehr lohnend wäre, den ursprünglichen Ansatz der Herausgeber weiterzuverfolgen und die Beziehung zwischen Philo und dem Neuen Testament forschungsorientiert zu untersuchen. In der Vergangenheit hat die Philo-Forschung wichtige Impulse von der feministischen Kritik des Neuen Testaments erhalten. Die Arbeiten von Sly, Kraemer und Taylor sind vor diesem Hintergrund entstanden. In letzter Zeit hat sowohl die neutestamentliche Forschung als auch die Philo-Forschung wichtige Im­pulse der klassischen Wissenschaften aufgenommen und sich z. B. vermehrt mit dem Thema der Identität im sozialen Kontext beschäftigt und die Rolle Roms untersucht. Diese Richtung sollte zukunftweisend sein: Beide Gebiete müssen in den breiteren Kontext der Kulturforschung und Religionswissenschaft in der hellenistischen Epoche eingeordnet werden. Wenn die Homerexegese und Plutarch, um nur einige wichtige Phänomene zu nennen, in den Blick kommen, können größere Fragen an die neutestamentlichen und philonischen Texte gestellt und deren Beziehungen zueinander erforscht werden.