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Ausgabe:

Mai/2007

Spalte:

524–527

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klein, Hans

Titel/Untertitel:

Lukasstudien.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. 219 S. gr.8° = Forschungen zu Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 209. Lw. EUR 69,90. ISBN 3-525-53073-0.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Hans Klein legt in dieser Aufsatzsammlung eine Reihe von Studien vor, die als Vorarbeiten zu seinem inzwischen erschienenen Lukas­kommentar (KEK I/3, Göttingen 2006) entstanden sind. Sie fallen in die Jahre 1995 bis 2001 und stellen ausführlicher dar, was im Rahmen eines Kommentares nur einleitend oder exkursartig behandelt werden kann. Zu sechs bereits andernorts veröffentlichten Aufsätzen kommen vier überarbeitete Vorträge und acht bislang noch nicht publizierte Beiträge hinzu. Sie sind in fortlaufender Zählung von 1 bis 18 zu einer großen Einheit zusammengefügt, untergliedert in die Rubriken I. Das dritte Evangelium und sein Verfasser (1.–3.), II. Lukas und seine Quellen (4.–7.), III. Zur Kindheitsgeschichte des Lukas (8.–9.), IV. Lukas als Theologe (10.–15.), V. Lukas als Erzähler (16.–17), VI. Zum Text des Lukasevangeliums (18.). Für den vorliegenden Band sind alle Beiträge formal aneinander angeglichen, überarbeitet und ergänzt worden. Ein gemeinsames Literaturverzeichnis (202–216) sowie ein Stellenregister (217–219) führen den inneren Zusammenhang dieser Studien noch einmal sichtbar vor Augen.
Originell sind die Erwägungen zur Person des Lukas (I). Auf Grund der bekannten Berührungen zum Corpus Paulinum sieht K. vor allem Lukas als denjenigen an, der die Jesusüberlieferung in Gestalt einer Evangelienerzählung nach Europa brachte und zu­nächst dort verbreitete, wo auch Paulus missionarisch tätig war. Den Lebensmittelpunkt des Lukas, den er der Herkunft und Volkszugehörigkeit nach als Syrer betrachtet, vermutet er in Makedonien. Dass Lukas als ein Sklavenkind aufgewachsen sei, ergibt sich ihm als Schluss einer sorgfältigen Analyse jener spezifisch lukanischen Perspektive auf die Beziehung zwischen Armut und Reichtum. Dabei sei Lukas wohl ein begabter Schüler gewesen, habe aber die selbstverständliche Souveränität der Bildungselite nicht er­reicht und müsse eher als ein Aufsteiger beurteilt werden: »Lukas war intelligenter als gebildet, rasch im Auffassen, offen zum Erlernen des Neuen und weniger geprägt von einer breiten Bildung, die ihn gegenüber äußeren Einflüssen fest bleiben ließ.« (39) Auch wenn die Indizien dabei gelegentlich auf schwankenden Boden führen, ergeben sie doch letztlich ein stimmiges, stets eng auf den Text bezogenes Bild.
Bei der Frage nach den Quellen des Lukas (II), die vor allem der Eigenart des lukanischen Sondergutes gilt, lässt K. die wichtigsten Diskurse der letzten Jahre Revue passieren. Den Gebrauch des Verbum dicendi c. acc. oder c. dat. als eines Instrumentes der Quellenscheidung weist er zurück: Weder belegt die eine Form Treue zur Tradition noch ist die andere einfach Ausweis sprachlicher Eigenart; vielmehr setzt Lukas beide Formen gezielt nach stilistischen Kriterien ein. Wie weit überhaupt die methodischen Möglichkeiten reichen, Texte des lukanischen Sondergutes zu rekonstruieren, bleibt fraglich. Der Umgang mit Q- und Mk-Stoff wie auch die Beurteilung dessen, was als ›Lukanismus‹ gelten kann, zeigt die Grenzen einer Rückfrage hinter den Lukastext zurück an. Den Testfall solcher Skepsis stellen drei Beispiele dar (19,1–10; 5,1–11; 7,36–50). An ihnen macht K. deutlich, dass die literarischen Eigenheiten des lukanischen Textes wohl erfasst, seine traditionsgeschichtlichen Vorstufen aber kaum noch ermittelt werden können. Das trifft auch auf die Suche nach mündlichen Überlieferungen zu, die ja zumindest durch ein Logion wie Apg 20,35 sicher verbürgt sind. Insgesamt 15 Texte kommen hier in Frage, die sich vier Themengruppen zuordnen lassen. Spekulativ muss jedoch die Frage nach der Herkunft dieser Überlieferungen bleiben. Schließlich greift K. die Debatte um eine Sonderüberlieferung im Bereich der Passions- und Ostergeschichte auf. Nach Durchsicht der Parallelen zwischen Lk und Joh folgert er, dass beide »von einer Tradition abhängig sind, die nicht jene des Mk voraussetzt«, vielmehr aus mündlicher Überlieferung gespeist und insgesamt jüngeren Datums ist (82).
Schlüsselfunktion hat in der Lukasexegese stets die Beurteilung der Kindheitsgeschichte (III), für die K. vor allem das Moment einer Legitimation sowohl der Täufer- als auch der Jesusbewegung in den Mittelpunkt stellt. Darin ist impliziert, dass beide Erzählstränge als ursprünglich eigenständige Traditionskomplexe zu verstehen sind. »Die Kindheitsgeschichten zeigen in seinem [des Lukas] Verständnis auf, wer Jesus ist, und zwar auf dem Hintergrund der Beschreibung dessen, wer Johannes ist.« (92) Eigenwillig und überraschend einfach ist schließlich die Interpretation des Magnifikat. K. beurteilt diesen vieldiskutierten Text bzw. eine seiner Vorstufen als ein Gebet für Frauen, die ihr erstes Kind bekamen und damit im Zusammenhang des anschließenden Reinigungsrituals ihren Dank gegenüber Gott zum Ausdruck brachten. Damit relativiert sich zugleich die Frage nach der ursprünglichen Autorin des Liedes, da es sowohl im Munde der Elisabet als auch der Maria vorstellbar wäre.
Den größten Umfang nehmen erwartungsgemäß jene Studien ein, die sich mit der Theologie des Lukas befassen (IV). Grundlegenden Charakter hat die Auseinandersetzung mit der Geschichtskonzeption des dritten Evangeliums, für die K. den seit Conzelmann gebräuchlichen Begriff der ›Heilsgeschichte‹ durch den auch dem lukanischen Sprachgebrauch sehr viel angemesseneren Begriff vom ›Weg des Heils‹ ersetzt. Denn weder wird die neuzeitliche Auffassung von Geschichte als einem objektiven Ablauf von Ereignissen der antiken Geschichtsauffassung gerecht, noch lässt sich die bekannte Periodisierung einer solchen Geschichte am Text des Lukas befriedigend nachweisen. Vielmehr beschreibt der ›Weg‹ die Präsenz Gottes im Erfahrungsbereich von Menschen auf eine Weise, die auch Nähe und Ferne zu erfassen gestattet sowie die ethische Verantwortung des Einzelnen, der diesen Weg mitgeht, einschließt. Die nächste Studie gilt dem Verständnis des lukanischen Schriftgebrauches: Lukas betrachtet ›die Schriften‹ als Einheit, der er ganz unmittelbar Verhaltensnormen für die Gestaltung des Alltags entnehmen und die Bezeugung des Leidens und Auferstehens Jesu zuordnen kann; die Freiheit in der Adaption des lebendigen Gotteswortes für die aktuelle Situation seiner Gemeinde verdankt sich dabei einer konsequent christologischen Perspektive. Den Ausführungen zum lukanischen Geschichtsbild korrespondiert die Studie über Weltanschauung und Lebensgestaltung bei Lukas: Wenn Gottes Wirken weniger in ›objektiven‹ geschichtlichen Abläufen als durch Menschen, die seinen Willen tun, erfolgt, dann ist auch das Verhalten des Menschen auf einfache und klare Weise an Gottes Willen orientiert, wie er etwa im Liebesgebot oder im Besitzverzicht als Kern der Tora erscheint. Daran schließt die nächste Studie an, die das Thema der ›Rechtfertigung aus Glauben‹ thematisiert: Ausgehend von der singulären Aussage in Apg 13,38 f. nimmt K. hier vor allem das Motivfeld der Sünderannahme in den Blick, das im Kontext der Aussagen zur »Insuffizienz des Haltens des Gesetzes« und der Relation zwischen »Glaube und Rettung« steht; in Apg 13,38 f. sind diese Aspekte gebündelt – »Ohne Gerechtigkeit aus dem Gesetz im Sinne der Einhaltung der Gebote, speziell des Liebesgebotes, ist Gerechtigkeit aus Glauben, Heil, nicht zu erlangen.« (148) Das spannungsvolle Verhältnis zwischen Ge­richtsankündigung und Liebesforderung behandelt K. sodann an­hand des Abschnittes Lk 6,24–26. Dabei stellt er das »Wehe!« zu­nächst in den Horizont von Q, Pls, Joh und Mt, um dann die lu­kanische Intention präziser als den Versuch zu verstehen, die Weherufe als negative Erläuterung zu den Seligpreisungen im Kontext der Umkehrpredigt zu lokalisieren; frei von dem Druck aktueller Konflikte habe Lukas damit das prophetische in das weisheitliche Element seiner Verkündigung zu integrieren vermocht. Eine letzte Studie in diesem Teil beschäftigt sich anhand von Lk 14,15–35 mit der Frage nach Annahme und Ablehnung der christlichen Verkündigung: K. erkennt darin weniger das Problem von Berufung und Erwählung (analog zu Mt 22,14) als vielmehr die Beschreibung wahrer Jüngerschaft. »Nicht die Zahl macht es aus, sondern der Ruf und die Antwort darauf.« (173)
Zwei kleine Studien widmen sich nach den thematischen Fragen noch einmal der Eigenart des Lukas als eines Erzählers (V). Unter den Stichworten »Erzählte Welt und reale Welt« unternimmt es K., einige exemplarische Texte auf ihren Realitätsbezug hin zu analysieren: Während Lukas plastisch zu erzählen vermag und gerne Details der Alltagswelt in die überkommenen Überlieferungen einfügt, vernachlässigt er zugleich immer wieder die Stimmigkeit der Erzählung selbst. An wichtigen Stellen »hat er von der Sache her die Darstellung nicht mehr der realen Welt entsprechend gestaltet. Sein geistliches Interesse überwog.« (185) Instruktiv ist die Studie über die Darstellung Jesu als eines Gastes, die die zahlreichen Gastmahlsszenarien bei Lukas in die Konventionen antiker Gastfreundschaft einordnet.
Textgeschichtliche Probleme stehen am Schluss (VI). Sie werden anhand von Lk 6,1 aufgegriffen, wo sich K. gegen den Text von Nestle/Aland für die Lesart ἐν σαββάτω πρώτω entscheidet.

Die Studien dieses Bandes liefern eine wertvolle Ergänzung zu K.s großem Kommentar, indem sie jene Sachverhalte, bei denen er eigenständige Akzente setzt, noch einmal ausführlicher zur Darstellung bringen. Sie führen zugleich in zentrale Themen lukanischer Theologie ein und gestatten auf breiter Front Einblicke in den jüngsten Stand der Lukasforschung. Dass dabei auch viele Themen oder Diskurse ausgeblendet bleiben, kann einer solchen exemplarisch angelegten Auswahl nicht angelastet werden. Vielmehr präsentiert sich diese Sammlung als ein Buch, das zuverlässige Informationen zu Einzelthemen, originelle Beiträge zur Diskussion sowie breitgefächerte Anregungen für das Studium der lukanischen Theologie auf leicht zugängliche Weise vereint.