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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

355-357

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Düsing, Edith:

Titel/Untertitel:

Nietzsches Denkweg. Theologie ­ Darwinismus ­ Nihilismus.

Verlag:

München-Paderborn: Fink 2006. 601 S. gr.8°. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-7705-4254-3.

Rezensent:

Andreas Urs Sommer

Friedrich Nietzsche hat sich zeit seines bewussten Lebens an der christlichen Tradition gemessen, in der er aufgewachsen ist. Ob wohl er mit der als Verlautbarung eines »tollen Menschen« maskierten Diagnose vom Tod Gottes in der Fröhlichen Wissenschaft (1882) den abendländischen Theismus sowohl als positive Religion wie als metaphysisches Konstrukt vom Tisch gewischt zu haben schien, zeugt doch noch eines seiner letzten Werke, Der Antichrist (1888) davon, wie sehr er im Kampf gegen das Christentum engagiert bleiben zu müssen glaubte. Zwar ist in der Diagnose vom Tod Gottes ­ soweit man Gott keine Auferstehungschancen einräumt ­ auch das Ende des Christentums logisch impliziert, so dass sich jede weitere Beschäftigung mit dem Thema zu erübrigen scheint. Aber aus der Gottestod-Diagnose, ihre Gültigkeit einmal vorausgesetzt, können sehr unterschiedliche weltanschauliche und lebenspraktische Konsequenzen gezogen werden. Daher ist Nietzsche in der Ausfaltung seiner Christentumskritik darzustellen bemüht, dass die christ liche Umkehrung herrenmoralischer Wertungsweisen in hohem Maße verderblich sei und daher neue Werte gefragt seien. Schließlich sieht Nietzsche im Antichrist seine ganze »Umwerthung aller Werthe« verwirklicht.

Edith Düsings monumentales Buch beschränkt sich keineswegs darauf, Nietzsches Verhältnis zum Christentum seit seinen Kindertagen zu rekonstruieren. Das Werk bricht die in der Nietzsche-Forschung seit dem Abschied von den klassischen Groß-Interpretationen (Karl Jaspers, Karl Löwith, Martin Heidegger, Gilles Deleuze u.a.) vorherrschende arbeitsteilige Spezialisierung auf einzelne Mo tivzusammenhänge und einzelne »Lehren« auf, indem es das Thema Christentum und Christentumskritik glücklich verbindet mit Nietzsches Naturphilosophie, wie sie sich in seiner Adaption und Kritik des Darwinismus auskristallisiert. David Friedrich Strauß und Charles Darwin erscheinen als Leitfiguren, an denen sich Nietzsche abarbeitet. Strauß steht für eine radikalisierte Bibelkritik, deren Transformation in eine saturierte Bildungsphilisterreligion Nietzsche schon mit seiner Ersten unzeitgemässen Betrachtung (1873) gegen Strauß¹ Manifest Der alte und der neue Glaube (1872) anprangert, nicht ohne bis ins Spätwerk hinein selbst von Strauß¹ initialer Kritik im Leben Jesu (1835/36) zu zehren. D. streicht im ersten, »Theologie« betitelten Hauptteil heraus, dass Nietzsche noch bei Ausbruch des Wahnsinns von der Jesus-Gestalt so sehr fasziniert ist, dass die wechselseitige Selbstidentifikation mit Jesus und Dionysos in seinen letzen Briefen quasi eine notwendige Folge darstellt. Da ihr Buch auch als Biographie einer zerrissenen Seele angelegt ist, gelangt sie dabei zu Schlüssen, der eine Interpretationspraxis, die keinen Einblick in fremdes Seelenleben hat, zumindest reserviert gegenüberstehen wird: »Das in der psychischen Krankheit an die Oberfläche gekommene Vor- und Unbewußte, das sich Geltung verschafft, kennt kein Nein und keine strikten absoluten Gegensätze; es sucht vielmehr Überbrückung, ja Verschmelzung feindseliger Pole als Versöhnung der zerrissenen Saite des zerbrochenen Instrumentes Seele.« (190) Es ist nicht zwingend, mit D. ­ die darin Eugen Biser folgt­ Nietzsches Schaffen insgesamt eine »hochgradige Ambivalenz« in der Beurteilung sowohl Jesu wie des Christentums zu attestieren, die ihren Grund im Wechselspiel persönlicher Aversion und Identifikation haben soll (vgl. 179 f.). Die unterschiedliche Behandlung und Perspektivierung des Themas bei Nietzsche ließe sich auch kontextuell und argumentationsstrategisch erklären.

D. stellt, im Unterschied zu manchen anderen Interpreten, den jugendlichen Nietzsche als tiefgläubig dar, dessen Jugendglaube dann langsam erodiert ist (vgl. 102), wobei die Lektüre von Strauß¹ Leben Jesu eine katalytische Wirkung hatte (vgl. 105). Ein »Darwin-Schock«, mit dem sich der zweite Hauptteil des Buches auseinan dersetzt, lehrte Nietzsche demgegenüber, die Welt als »ein in sich ge schlossenes System der Naturursachen, ein blindes ðSpiel des WerdensЫ (201 f.) zu deuten, in dem dem Menschen keine von einem Schöpfergott festgesetzte Sonderrolle mehr zukommt. Wird die Welt mit Heraklit als blindes Spiel verstanden, zerschellen alle Hoffnungen auf eine gelingende Theodizee. Dem Theodizee-Problem ist unter dem Titel »Nihilismus« denn auch der dritte Hauptteil von D.s eindringlichem Buch gewidmet, der aufweisen will, »wie das Werde du selbst! bei Nietzsche einen selbstmörderischen Verlauf nimmt« (15). In diesem Teil wird das ganze Spektrum ausgeleuchtet, das die Gottestod-Diagnose philosophisch, theologisch (christologisch) und lebenspraktisch ausfüllen kann. Nietzsches Ansatz wird dabei etwa kontrastiert mit Hegels Spekulativem Karfreitag oder mit Kierkegaards Hiob-Deutung.

Eine wesentliche Qualität von D.s Studie liegt in ihrer Integrationskraft: Nicht nur wird die einschlägige (deutschsprachige) Forschungsliteratur umfassend eingearbeitet, sondern es gelingt D. auch, viele vermeintliche Nebenschauplätze in organischen Zusam menhang zu den Hauptthemen Theologie, Darwinismus und Nihilismus zu setzen. So ist beispielsweise Nietzsches zeitweilige Neigung zu Schopenhauers Mitleidsreligion (108 ff.) für die Profilierung von Nietzsches theologischer Antitheologie ebenso aufschlussreich wie Nietzsches Wahrheits- und Wissenschaftsbegriff zum Verständnis von Nietzsches (nie durch direkte Darwin-Lektüre untermauerte) Darwinismus-Rezeption (269 ff.). Zur systematischen Abrundung kontrastiert D. Nietzsches Position mit Kants Gottespostulat (536 ff.) und findet bei Nietzsche (in dessen Beschäftigung mit Pascal) doch Ansätze zur Erneuerung des »im Nebel historischer Kritik ihm versunkene[n] originale[n] Wesensbild[es] Jesu« (554).

Vielleicht hat man heute ja, im Unterschied zu Nietzsche ­ der, wie D. aufweist, in seinem Abwehrkampf gegen das Christentum befangen bleibt ­ die nötige Kälte, die Gelassenheit für einen nüchternen Agnostizismus oder sogar einen unaufgeregten Atheismus gewonnen, für den das Christentum kein Problem mehr darstellt, so dass man auch nicht zu einem »Bierbank-Evangelium« (vgl. 152), zu einem modernistischen Ersatzglauben im Stil des späten Strauß seine Zuflucht nehmen muss. D.s Intention ist freilich eine andere, bleibt sie doch für sich selbst bei der herkömmlichen metaphysischen Auffassung, dass die Seele »schöpfungsmäßig von sich her die Unvergänglichkeit« (18) suche, und will die Ursachen für »postmoderne Sinnverarmung und allgegenwärtigen Gottesverlust« (19, Anm. 5) dingfest machen. Diese Intention D.s braucht man nicht zu teilen, um dennoch viel von ihrer Darstellung zu lernen.