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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

348-350

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Vinke, Rainer [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick ­ Bilanz ­ Ausblick.

Verlag:

Mainz: von Zabern 2004. IX, 290 S. gr.8° = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ge schichte Mainz. Beiheft, 62. Geb. EUR 87,00. ISBN 3-8053-3424-9.

Rezensent:

Athina Lexutt

Jahrhundertwechsel ­ in diesem Falle sogar ein Jahrtausendwechsel­ sind immer ein willlkommener Anlass, das zurückliegende Jahrhundert unter irgendeiner bestimmten Fragestellung zu bilanzieren. Der vorliegende Band ­ fünf Jahre nach einer sinnträchtig kurz vor dem Reformationstag abgehaltenen Tagung erschienen ­ unterzieht auf seine Weise das 20. Jh. einem bilanzierenden Rück blick und fragt nach unterschiedlichen Perspektiven, welche in der Vergangenheit den Blick öffneten für eine vergegenwärtigende Be schäftigung mit dem Reformator. Der überwiegende Teil der Beiträge gewährt einen auch und gerade heute noch ausgesprochen anregenden Blick auf die Forschungsgeschichte und wichtige Vertreter der Lutherforschung.

Im ersten Beitrag des Bandes beleuchtet Martin Brecht den Be ginn einer neuen Beschäftigung mit dem jungen Luther um die Jahrhundertwende (1­17). Dass diese ausgerechnet durch katholische Theologen, nämlich Denifle und Grisar, provoziert wurde, gehört zu den Kuriosa der Kirchengeschichtsforschung. Mit ihren Arbeiten und der darin enthaltenen, überwiegend polemischen Interpretation der Person und des Werkes Luthers veranlassten sie die zunächst vor allem empörten protestantischen Gelehrten nolens volens/, den Anregungen und Kritikpunkten nachzugehen; vor allem dem Gießener Kirchenhistoriker Walter Köhler ist es zu verdanken, neben aller Polemik auch die Anreize in ihren Texten zu entdecken, die in einer stärkeren Erforschung des jungen Luther liegen. Wie Brecht diese Kontroverse nachzeichnet, ist gerade für Leserinnen und Leser einer ­ wenn man das einmal so nennen will ­ ökumenisch aufgewachsenen Generation ausgesprochen spannend und zeigt, dass die Zeiten der Kontroverstheologie doch noch gar nicht so lange zurückliegen und wie wenig selbstverständlich es ist, ein entspanntes Gespräch zu führen. Jos Vercruysse erweitert den Blick auf die katholische Lutherforschung in seinem Aufsatz (191­212) um Jacques Maritain und vor allem natürlich um Joseph Lortz, der in seinem Werk ðDie Reformation in DeutschlandÐ eine neue Beschäftigung mit Luther auf katholischer Seite provoziert hatte. Den kurzen Ausblick auf die katholische Lutherforschung nach dem 2. Vatikanischen Konzil intensiviert Rolf Decot (213­233) in der Absicht, nach Luthers Bedeutung für das ökumenische Gespräch zu fragen. Dabei untersucht er zunächst, wo und wie Luther auf dem Konzil selbst eine Rolle gespielt hat. Als besonders pikant ragen dabei die Kommentare Joseph Ratzingers zur Konstitution »Dei verbum« hervor, welche die Frage provozieren, ob und wie Luther und Papst Benedikt XVI. heute ins Gespräch kommen würden. Decot spinnt den Faden weiter zum Dokument »Lehrverurteilungen ­ kirchentrennend?« und schließlich zur ­ zum Zeitpunkt des Vortrages noch nicht unterzeichneten ­ Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Beinahe schmerzt es, wenn man sieht, wie optimistisch Decot dieses Papier beurteilt, und weiß, wie schwierig es bis heute für Vertreter beider Konfessionen ist, dessen Stellenwert im ökumenischen Gespräch angemessen zu beurteilen. Ob Decots zum Schluss genannte Alternative von »Erlösungslehre« als Frage des 16. Jh.s und »Heilslehre« als uns heute bedrängende Frage trifft, muss gerade aus protestantischer Sicht angezweifelt werden. Im merhin zeigt der Beitrag die Berechtigung auf, der Rechtfertigungslehre durchaus eine kriteriologische Funktion beizumessen. Davon zeugt auch der Beitrag Simo Peuras (235­259), der die gleiche Frage nach Luthers Bedeutung für die Ökumene stellt, nunmehr aus evangelischer Perspektive. Er erwähnt die wichtigsten Dokumente des katholisch-lutherischen Gesprächs und stellt von dort aus sechs Thesen zur Rechtfertigungslehre Luthers auf, die er anschließend kritisch beleuchtet. Dass er dabei einige Elemente einfließen lässt, welche die skandinavische Lutherforschung auszeichnen (etwa die Verquickung von forensischem und effektivem Aspekt der Rechtfertigung), provoziert, ersetzt aber wenigstens zum Teil den wegen einer Erkrankung des Referenten Tuomo Mannermaa entfallenen Beitrag zur finnischen Lutherforschung. Einen schönen Überblick über die amerikanische Lutherforschung hingegen liefert Scott Hendrix ab (171­189); zwar kann er nicht viel mehr tun, als systematisch neuere Forschungsbeiträge zu sammeln, aber der Leser erhält auf diese Weise ausreichend Anstöße, sich weiter mit diesen Beiträgen auseinanderzusetzen. Hendrix¹ Bemerkung, es gebe wenig gute amerikanische Bücher über Luthers Theologie, mag man angesichts der aufgezählten Fülle kaum zustimmen; jedoch werden in dieser Aufzählung auch schnell die Spezifika und damit die Desiderate deutlich. Eine Skizze zu einem in der Forschung eher stiefmütterlich behandelten Thema schließlich bietet Oswald Bayer (135­149): Welche philosophischen Denkformen lassen sich in der Theologie Luthers ausmachen, der auf Grund einiger Missverständnisse und Vorurteile als Feind der Philosophie und manchen Philosophen als Feind galt? Was Bayer in der Kürze, entlanggehend an den drei Hauptteilen des aristotelischen Organon, zusammenstellt, nachdem er zunächst den Begriff der »Denkform« definiert hat, ist anregend genug, dem »Philosophen Luther« und »Luther in der Philosophie« intensiver nachzudenken.

Bedeutenden Nestoren der Lutherforschung gehen drei Beiträge nach, ohne die ein Blick in die Lutherforschung des 20. Jh.s unvollständig wäre. Martin Ohst (19­50) charakterisiert in seinem Aufsatz die Lutherdeutungen Holls, Hirschs und Vogelsangs, die sie in Ab grenzung zu Ritschl und seiner Schule profiliert haben, und findet damit gewissermaßen den nahtlosen Anschluss an Brechts Beitrag. Ohst zeigt dabei nicht nur die Unterschiede in der Deutung auf, sondern vor allem auch Affinitäten in hermeneutischer und methodischer Hinsicht und gibt damit Anregungen, wie eine angemessene Lutherdeutung, bei allen Unterschieden in den Ergebnissen, geschehen kann. Thomas Kaufmann (71­97) eruiert die Bedeutung Ernst Bizers und seiner Ergebnisse in der Frage nach der reformatorischen Wende in Luthers Denken. Kaufmanns Verdienst in diesem Beitrag ist es nicht nur, deutlich herauszustreichen, wie wichtig es ist, »Luther« und »Reformation« nicht eo ipso als Syno nyme zu betrachten, sondern auch, die bleibende Bedeutung der Frage nach dem reformatorischen Durchbruch festzustellen, bei allem, was kritisch zu den Ergebnissen zu sagen ist und vor allem zur unangemessenen Vehemenz, mit der sie in der Forschung bis hin zur Ermüdung bisweilen gestellt wurde.

Schließlich stellt sich Albrecht Beutel (99­116) der schwierigen Aufgabe, Gerhard Ebelings umfassendes ‘uvre auf seine Bedeutung für die Lutherforschung hin zu befragen. Dass und wie Ebeling seinen ganz eigenen Beitrag geleistet hat, indem er »alle wesentlichen Themen und alle literarischen Genera« (110) des Re formators zum Gegenstand der Untersuchung machte, tritt dabei plastisch zutage und regt an, weiter und intensiver Ebelings Theologie nachzugehen. Besonders die Brennpunkte »Wirklichkeits verständnis« und »Unterscheidungsvermögen« la den zu einem vergegenwärtigenden Umgang mit Luther und mit Ebeling ein. In ähnlicher Weise anregend ist der Beitrag Eberhard Buschs (51­69), der nach den Strukturen der Lutherdeutung in der dialektischen Theologie fragt. Was er dabei vor allem aus deren Zentralorgan, der Zeitschrift »Zwischen den Zeiten«, zusam menträgt, kann natürlich kein komplettes Bild abgeben, trifft aber doch ganz entscheidende Momente und zeichnet wichtige Grundlinien. Die Bedeutung etwa der theologia crucis , die Aufgabe, das herauszufinden, was Luther sagt, und nicht, was Luther gesagt hat, und schließlich die verschiedenen Lesarten, Luthers Theologie zu interpretieren ­ das provoziert, sich immer wieder neu an den Re formator und seine theologischen Propria anzunähern.

Etwas aus dem Rahmen fallen zwei Beiträge, die sich materialiter mit Themen der Lutherforrschung auseinandersetzen, die einerseits immer dort präsent sind, andererseits aber aus verschiedenen Gründen nicht so umfassend erörtert wurden, wie man es von daher vermuten würde. So denkt Joachim Ringleben der Bedeutung des »Wortes« in Luthers Theologie nach (117­134) und Antti Raunio einigen Grundelementen von Luthers politischer Ethik (151­170). Beide Beiträge liefern nicht wirklich Neues, vermögen aber in der Kürze präzise wichtige Aspekte anzusprechen, die zum weiteren Forschen wichtige Denkanstöße geben. Im Falle Raunios etwa wäre dies das Eruieren der Bedeutung der Drei-Stände-Lehre.

Abgerundet wird der Band durch ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister. Ob ein Sachregister nicht auch dienlich gewesen wäre, z. B. um darin Schwerpunkte der bisherigen Lutherforschung erkennen zu lassen, kann gefragt werden. Das Literaturverzeichnis setzt sich aus der in den Beiträgen verwendeten Literatur zusammen. Das birgt zwei Schwierigkeiten: Einmal sind seit der Tagung 1999 etliche Jahre ins Land gegangen, in denen wichtige Literatur erschienen ist, die aber jetzt keine Berücksichtigung finden konnte. Und dann gilt natürlich, dass so die Literaturliste von einigen Zufälligkeiten lebt und wichtige Titel (etwa zur Mühlens »Nos extra nos«) nicht aufgeführt werden. Dieses Manko wird zwar indirekt in der Einleitung eingestanden, es ist jedoch zu fragen, ob nicht eine aktualisierte, durchaus auch kürzere Auswahlbiblio graphie dem Unternehmen letztendlich doch dienlicher gewesen wäre.

Insgesamt ist zu sagen, dass ein äußerst anregender Band zur Lu therforschung zu Stande gekommen ist, der in der Tat einen repräsentativen Rückblick, eine aufschlussreiche Bilanz und einen auffordernden, ja: Lust machenden Ausblick bietet. Es ist zu hoffen, dass manche Impulse tatsächlich auch aufgenommen werden und die Lutherforschung weiterhin bereichern werden.