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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

329-331

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Gebhard, Rudolf:

Titel/Untertitel:

Umstrittene Bekenntnisfreiheit. Der Apostolikumsstreit in den Reformierten Kirchen der Deutschschweiz im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zü rich 2003. 564 S. m. 1 Kt. 8° = TVZ Dissertationen. Kart. EUR 36,00. ISBN 3-290-17256-2.

Rezensent:

Thomas K. Kuhn

»Die schweizerischen reformierten Landeskirchen gehören zu den wenigen Kirchen der gesamten Ökumene, die weder in ihren Verfassungen noch in ihren Liturgien die Verpflichtung auf ein be stimmtes, formuliertes Bekenntnis kennen. Die Durchsetzung dieser Bekenntnisfreiheit, die nicht mit Bekenntnislosigkeit verwechselt werden darf, ist eine Errungenschaft des schweizerischen theologischen Liberalismus im 19. Jahrhundert« (12). Die historische Rekonstruktion dieses theologischen und kirchenpolitischen Prozesses ist aus zwei Gründen von Interesse: Die schweizerische Diskussion über Apostolikum und Bekenntnis setzte erstens früher als in Deutschland ein, verlief völlig anders und bewirkte radikalere Folgen für Liturgie und Kirchenordnung. Diese Tatsache wird allerdings in der Kirchengeschichtsschreibung häufig übersehen, wie ein Blick in neuere theologische Nachschlagewerke belegt. Zweitens schafft diese Rekonstruktion die Basis für die länder- und konfessionsübergreifende komparative Erforschung von Kirchenordnungen, die ein kirchengeschichtliches und konfessionskund liches Desiderat darstellt.

In Zürich sprach Ingolf Dalferth kürzlich von einer Renaissance des evangelischen Kirchenrechts und konstatierte, dass sich die evangelischen Kirchen Rechtsfragen weder theoretisch noch praktisch entziehen könnten. Diese Herausforderung hat zweifelsohne auch eine wesentliche historische Dimension, der sich die Kirchengeschichtswissenschaft vermehrt zu widmen hat. Das zu besprechende Buch hat hierzu einen bemerkenswerten Beitrag geleistet.

Die Dissertation von Rudolf Gebhard, die im Wintersemester 2001/02 von der Theologischen Fakultät der Universität Zürich an genommen wurde, beschreibt quellennah und detailliert die vielschichtigen theologischen Diskurse in der Schweiz im 19. Jh. (1845­1880) am Beispiel des Streites um Bekenntnis und Liturgie. Um dem eidgenössischen Föderalismus gerecht zu werden, rekonstruiert G. nach einer Beschreibung der kirchlichen und theologischen Situation den »Apostolikumstreit in den einzelnen Deutschschweizer Kantonalkirchen« (59­324), bevor er sich den »Bekenntnisdiskussionen in der Schweizerischen Predigergesellschaft 1844­1880« (325­352) so wie den »theologischen Diskussionen im Apostolikumstreit« (353­ 448) widmet. Im Anhang bietet das Buch hilfreiche Kurzbiographien, eine Chronologie und eine Karte. Das Buch ist durch ein Personenregister erschlossen.

In der Schweiz und in Deutschland regte sich seit den 1840er Jahren wachsender Widerstand gegen den verpflichtenden Gebrauch des Apostolikums. Allerdings verliefen diese Auseinandersetzungen in den genannten Territorien in signifikant unterschiedlichen Bahnen. Der erstarkende politische Liberalismus sowie die zunehmende Demokratisierung der Schweiz seit der eidgenössischen Bundesverfassung 1848 spiegelten sich auch in den kantonalen Kirchengesetzgebungen wider und ermöglichten einen wesentlich freieren Diskurs über Fragen der Kirchenordnungen als im monarchischen Preußen beispielsweise. Dort verloren einige Pfarrer ihr Amt, nachdem sie den Gebrauch des Apostolikums öffentlich kritisiert hatten. Im historischen Bewusstsein ist vor allem der deutsche Apostolikumstreit präsent, der mit den Namen des Württembergers Christoph Schrempf und des Berliner Theologieprofessors Adolf von Harnack verbunden ist. Als diese deutsche Debatte in den 1890er Jahren geführt wurde, hatten die Schweizer reformierten Kirchen schon längst die Bekenntnis- und Lehrfreiheit eingeführt. Die einzelnen Landeskirchen kamen auf sehr unterschiedlichen Wegen zu diesem Ziel, wie G. ausführlich und mustergültig unter Berücksichtung von theologischen, liturgischen, rechtlichen und praktischen Perspektiven schildert. Dabei wird auch ersichtlich, wie unterschiedlich die sozialen Trägergruppen des theologischen Freisinns waren. Der beispielhafte Vergleich der Basler Entwicklungen mit denen Zürichs zeigt, dass in Basel vor allem freisinnige Laien im Kirchlichen Reformverein und nicht Theologen den Reformprozess befördert hatten. In Zürich hingegen waren es mit Alois E. Biedermann, Heinrich Lang und anderen vor allem Pfarrer und Professoren gewesen.

Neben den Befürwortern der Bekenntnisfreiheit widmet sich G. auch der positiven Opposition. Denn der Streit um das Apostolikum ist der greifbare Ausdruck eines sich ausdifferenzierenden theolo gischen Richtungswesens, der markante rechtliche, praktische, theo logische wie kirchenpolitische Konsequenzen bewirkte. Als Ausdruck moderner religiöser Individualität konstituierten sich zunehmend Personal- und Gesinnungsgemeinden. Die politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Demokratisierungsschübe in der Schweiz des 19. Jh.s beschleunigten diese religiösen Ausdifferenzierungen. Im Zuge der Demokratisierung der Kirchen konnten die unterschiedlichen theologischen Strömungen kirchenpolitisch un mittelbar eingreifen und programmatisch wirken. Insgesamt gesehen reagierten die reformierten Kirchen in der Schweiz mit ihren spezifischen Voraussetzungen entschiedener und radikaler als die deutschen auf die vielfältigen Herausforderungen des 19. Jh.s. Die Freigabe der Liturgien, die Aufhebung des Bekenntniszwangs sowie die Betonung der Gemeindeautonomie waren ihre Antworten auf das wachsende Freiheits- und Kritikbewusstsein, auf Individualismus und Liberalismus sowie auf Rationalisierung und Plurali sierung des Religiösen. Insofern hat diese historische Dissertation auch einen wichtigen Beitrag für die gegenwärtigen Überlegungen hinsichtlich der Frage nach Bekenntnis und Freiheit zu leisten.

Allerdings stellt sich bei der Lektüre dieses Buches immer wieder die Frage nach den diskursiven Kontexten der schweizerischen Debatten. Hinsichtlich dieser Fragestellung zeigt die ansonsten vortreffliche Dissertation ein gewisses Defizit. Denn die Diskurse werden doch ein wenig eindimensional aus einer binnenschweizerischen Perspektive analysiert. Die Einflüsse von Ferdinand Chris tian Baur und seiner Schüler beispielsweise dürften stärker als dargestellt gewesen sein. Denn zahlreiche Protagonisten des schweizerischen Freisinns waren von dieser Schule maßgeblich geprägt, wie das Beispiel von A. E. Biedermann zeigt. Heinrich Lang kam als politischer Flüchtling aus Württemberg in die Schweiz und avancierte hier zu einem Wortführer des Liberalismus. Durch diesen Rezeptionsprozess sind die neuere württembergische und schweizerische Kirchen- und Theologiegeschichte eng miteinander verwoben. Al lerdings ging die schweizerische Rezeption der Baur-Schule in den 1870er Jahren merklich zurück.

Insgesamt gesehen wurde der schweizerische theologische Liberalismus ­ und das kann man sagen, ohne dessen Eigenständigkeit und Leistungen zu schmälern ­ entscheidend durch die Rezeption der Baur-Schule geprägt worden. Der eidgenössische theologische Freisinn konnte sich dann allerdings auf Grund günstiger politischer Traditionen und Konstellationen konsequenter entwickeln als der in weiten Teilen Deutschlands. Neben diesen unterschiedlichen politischen Verhältnissen ist ein weiterer Aspekt zu nennen: die reformierte Bekenntnistradition. Das Zweite Helvetische Be kenntnis wie auch der Berner Synodus von 1532 beispielsweise halten den Vorbehalt besserer Belehrung durch Schrift und Glaubens praxis fest. Sie verstehen sich somit als situationsbezogene, veränderbare und nicht als universelle Glaubenszeugnisse. In diesem spezifischen schweizerisch-reformierten Kontext entstand jenseits von Bekenntnis- und Liturgiezwang ein eigenständiger und vielschichtiger Protestantismus, der sich deutlich von jenem seiner deutschsprachigen Nachbarn unterscheidet. Wer diesen Protestantismus und seine Geschichte verstehen möchte, dem sei G.s Buch empfohlen.