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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

320-322

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Segalla, Guiseppe:

Titel/Untertitel:

Teologia biblica del Nuovo Testamento. Tra memoria escatologica di Gesù e promessa del futuro regno di Dio.

Verlag:

Torino: Elledici 2006. 616 S. gr.8° = Logos. Corso di Studi Biblici, 8/2. Lw. EUR 37,00. ISBN 88-01-03325-7.

Rezensent:

Thomas Söding

In der wichtigen, in Deutschland aus sprachlichen Gründen wenig bekannten Reihe »Logos« legt Giuseppe Segalla, Neutestamentler aus Padua und Mailand, eine formidable Biblische Theologie des Neuen Testaments vor, die das Gedächtnis Jesu (Anamnesis, memoria) ins Zentrum stellt. Damit greift S. einen Schlüsselbegriff gegenwärtiger Hermeneutik auf, der im Zuge der Kulturwissenschaften beste Möglichkeiten des interdisziplinären Gespräches über die Konstituierung religiöser Identität bietet, aber einer Prägung durch die biblischen Quellen selbst bedarf, um den Texten und der Theologie des Neuen Testaments gerecht werden zu können.

S. legt zuerst die »Fundamente« (29­85) seines Projektes: eine kritische Aufarbeitung der Forschungsgeschichte zur Biblischen Theo logie seit der Aufklärung bis zur Postmoderne; ein Porträt seiner These, dass im Gedächtnis Jesu das Zentrum neutestamentlicher Theologie zu finden sei; und eine Klärung des neutestamentlichen Anamnesis-Begriffs. In allen drei Kapiteln erweist S. sich ebenso wie im gesamten Buch als Forscher mit einer stupenden Literaturkenntnis und einem kritischem Urteil. Auch der katho lische Italiener lässt sich vor allem von der deutschen protestantischen Exegese des 19. und des 20. Jh.s (Hübner, Stuhlmacher) auf den Weg der Problemstellung führen, um die Lösung allerdings nicht zuletzt im Dialog mit evangelischen Amerikanern (Childs, J. A. Sanders) zu entwickeln. Dass er auf die Memoria rekurriert, greift Anregungen von Pierre Bonnard und Niels Alstrup Dahl auf (auch Heinz Schürmann ließe sich nennen) und öffnet der Biblischen Theologie neue Perspektiven. S. unterscheidet drei Dimensionen: das Ge dächtnis Israels im Lichte Jesu, das Gedächtnis der Geschichte Jesu und das seiner Auferstehung (68 ff.). Dieses Gedächtnis sei das Fundament, auf dem die Mauern des neutestamentlichen Textes errichtet würden, die ihrerseits vom Dach des gesamtbiblischen Kanons überwölbt und geschützt würden (67­71). S. bestimmt es vom neutestamentlichen Sprachgebrauch her, den er weit fasst, um von ihm her Inhalt wie Form aller neutestamentlichen Schriften bestimmen zu können (73­85).

Den größten Teil des Buches nimmt ein Durchgang durch das gesamte Neue Testament ein. Er verläuft in den drei angekündigten Schritten. Zuerst wird das Gedächtnis Jesu in seiner heilsgeschichtlichen Dimension umrissen. Dass seine Theologie des Neuen Testaments eine »biblische« ist, bewährt S. dadurch, dass er den Gottesglauben Israels so darstellt, wie er im Neuen Testament vergegenwärtigt wird. Das ist nicht weit von Hübners These entfernt, im Christentum interessiere eigentlich nur das Vetus testamentum in novo testamento recepto; S. arbeitet, wie Hübner und Stuhlmacher (sowie Wilckens und Hahn, wiewohl sie keine »Biblische« Theologie des Neuen Testaments geschrieben haben) die fundamentale Bedeutung der heiligen Schriften Israels für Jesus und die Urkirche heraus, ohne dass er allerdings ­ was von einer Theologie des Neuen Testaments auch nicht erwartet werden darf ­ diese Rezeption noch einmal mit dem alttestamentlichen Gesamtzeugnis korreliert. Es schließt sich eine detailreiche Skizze der Geschichte Jesu bis zu seinem Tode an; Zeiten und Orte werden minutiös markiert, das Verhältnis zum Täufer wird beschrieben, die Grundbotschaft der Gottesherrschaft (131­200) wird facettenreich dargestellt und bis zum Tode Jesu hin geöffnet ­ allerdings, dem hermeneutischen Ansatz gemäß, nicht so, wie die historisch-kritische Jesusforschung die Fakten präparieren würde, sondern so, wie die Evangelien, be sonders die Synoptiker, aber auch Johannes, sie darstellen. Das hat den Vorteil, dass ein viel weiterer Horizont der Jesusgeschichte als in den klassischen Jesusbüchern eröffnet wird, die allzu schnell allzu viele Überlieferungen ausfiltern, führt aber dazu, dass die Widersprüche zwischen den Evangelien nicht aufgearbeitet, sondern dass die verschiedenen Jesusbilder nebeneinandergestellt werden. Im folgenden Schritt arbeitet S. die eschatologische Dynamik ­ perfektisch, präsentisch, futurisch ­ des Paschageschehens heraus (203­218) und fasst auch sie, nicht ohne Anhalt in der frühjüdischen Paschatheologie, in der Kategorie der Erinnerung. Im Gedächtnis der Auferstehung Jesu sieht er die Basis des Christusglaubens wie der neutestamentlichen Theologie (217 f.). Den ersten Teil be schließt ein Kapitel, das, vom Leben und der Liturgie der Urkirche ausgehend und zu frühesten Glaubensformeln hinführend, darstellt, wie das Gedächtnis Jesu Christi lebendig gehalten worden ist (219­269).

Im zweiten Hauptteil der Durchführung erschließt S. die Vielfalt der literarischen Formen des einheitlichen Jesusgedächtnisses, in dem er die Schriften des Neuen Testaments ­ im Wesentlichen in der kanonischen Reihenfolge, aber das Corpus Johanneum eigens am Schluss ­ vorstellt. Besonderen Wert legt er auf die narrative Vergegenwärtigung der Jesusgeschichte in den Evangelien (282­383). S. erkennt hier eine Geschichtstheologie, für die ­ auf die eine oder andere Weise ­ der Rückbezug auf die Geschichte Israels konstitutiv ist. Dem stellt er, ausgehend vom Jakobus- und Ersten Petrusbrief, aber die Paulinen in die Mitte rückend ­ die briefliche Form der memoria Jesu zu Seite; das Proprium erblickt er in der Erschließung der Geschichte Jesu Christi für die Gegenwart der Gemeinden in der Kirche. Hans Weder hatte in seiner »Hermeneutik« noch stärker die Form der direkten, brüderlichen Anrede herausgestellt. Bei Jakobus und Petrus betont er die imitiatio Christi, bei Paulus die sachliche Übereinstimmung mit Jesus, die freilich ­ anders bei Jüngel ­ nicht auf die Rechtfertigungslehre fokussiert wird, sondern erstens in der positiven Gesetzestheologie des Apostels gesehen wird, so dass Paulus nicht ganz so weit von Matthäus entfernt steht, wie manche das denken, und zweitens bei Paulus selbst über die futurische Eschatologie (und Texte wie 1Thess 4 f., 1Kor 15 und Röm 8.14) eine Konvergenz zur jesuanischen Reich-Gottes-Botschaft sieht. Die johanneische Theologie erschließt S. von der Inkarnationschristologie her und führt sie interpretatorisch in die Richtung des trinitarischen Monotheismus, in der Johannes auch von der Alten Kirche rezipiert worden ist (477­506.506­509).

Der dritte Hauptteil der Darstellung ist dem Kanon gewidmet (535­595). S. schreibt weniger die Geschichte seiner Entstehung, sondern erschließt ­ mehr an J. A. Sanders denn an Childs anknüpfend ­ seine theologische Bedeutung. Wo er die grundlegende Bedeutung des Alten für das Verständnis des Neuen Testaments erhellt, gelingt ein Summary des theologischen Durchgangs. Wo er den kanonischen Entstehungsprozess reflektiert, präzisiert er die Bedeutung der Hermeneutik in der Vermittlung von Text und Situation. Wo er den Kanon als Schrift gewordene memoria erhellt, geht er auf die Person Jesu Christi zurück, von dem her sich die ganze Theologie des Neuen Testaments erschließt.

Die kurze Beschreibung des Inhalts vermittelt einen ungefähren Eindruck vom Reichtum des Buches, das aus jahrzehntelanger Forschung erwachsen ist und sich in der Präsentation auf das konzentriert, was ein interessierter heutiger Leser an theologischer Orientierung aus dem Neuen Testament gewinnen kann. Das Buch ist hervorragend gedruckt. Es entfaltet nicht die Probleme der Einleitungswissenschaft, sondern folgt einer moderat konservativen Linie. Es erschließt eine Fülle relevanter Literatur nicht nur aus der deutschen und englischen, sondern auch der romanischen Sprachwelt; es ist von großem ökumenischen Interesse, weil es die erste groß ausgeführte biblische Theologie eines katholischen Exegeten ist. Durch den Ansatz bei Memoria bleibt S. nahe beim katholischen Traditionsprinzip ­ und verändert doch die Blickrichtung vom Prozess des Überlieferns zum Überlieferten, von der Kirche zu Jesus Christus. Das nimmt starke Impulse der offenbarungsgeschichtlichen Theologie des Zweiten Vatikanums auf (Dei Verbum), stellt aber als entscheidende Bezugsgröße nicht das Wort Gottes, das Evangelium, sondern die Erinnerung heraus. Infolgedessen liegt das klare Schwergewicht der ðTeologia biblicaÐ nicht bei Paulus und den Gemeindebriefen (wie traditionell in evangelischen »Theologien«), sondern bei den Evangelien, und zwar nicht unter dem Aspekt der Gestaltungsleistung und theologischen Kompetenz der Evangelisten, sondern der Erinnerung an Jesus Christus.

Es bleibt die Schwierigkeit, dass die memoria zwar von substantieller Bedeutung für jede neutestamentliche, biblische, christliche Theologie ist, weil die Geschichte Jesu Christi vergegenwärtigt wird, dass aber Anamnesis doch nicht ­ wie z. B. Evangelium ­ als ein in der Breite des Neuen Testaments verankerter Leitbegriff identifiziert werden kann. »Tut dies zu meinem Gedächtnis« ist ­ die historische Frage einmal eingeklammert ­ das Vermächtnis Jesu. Es wird nicht in erster Linie durch das Schreiben eines Buches, eines Briefes, eines Evangeliums eingelöst, sondern durch die Feier der Eucharistie in der Nachfolge Christi. In welchem Verhältnis dazu die literarische Vergegenwärtigung durch einen Text steht, bedarf genauerer Untersuchungen, die zum Nerv neutestamentlicher Theologie führen. Jean Zumstein hat gezeigt (Kreative Erinnerung), dass hier dem von der historisch-kritischen Exegese oft ins Abseits geschobenen Johannesevangelium eine Schlüsselrolle zufallen dürfte, ist es doch nach Joh 20,30 f. geschrieben, um den Glauben der Glaubenden zu fördern. Zur weiteren Bewährungsprobe der Kategorie der Erinnerung wird die Diskussion der Frage gehören, in welchem Maße sie auch einer kritischen Unterscheidung fähig wird, die nicht nur die Vielfalt, sondern auch die Gegensätze der Erin nerungsbilder innerhalb der Schrift ­ und im Spannungsfeld von Schrift und Tradition ­ erhellt. Das biblische Verständnis der Anamnesis ist ­ ganz im Gegensatz zu Plato ­ von einer konstitutiven Beziehung auf ein ­ neutestamentlich: auf das ­ Ereignis geprägt, dessen bleibende Bedeutung sub specie Dei einleuchtet. Eine bib lische Theologie, die das Gedächtnis großschreibt, ist deshalb auf eine Geschichtsschreibung angewiesen, die Theologie nicht kleinschreibt.

Wie immer die Diskussion weitergehen wird: S. hat sie angestoßen. Er bringt ein neues Leitmotiv in die biblische Theologie (oder besser: ein altes neu) ein. Es sind ihm viele cismontane Leser zu wünschen.