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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

295-297

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Reichman, Ronen:

Titel/Untertitel:

Abduktives Denken und talmudische Ar gumentation. Eine rechtstheoretische Annäherung an eine zentrale Interpretationsfigur im babylonischen Talmud.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. XI, 292 S. gr.8° = Texts and Studies in Ancient Judaism, 113. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-148770-5.

Rezensent:

Catherine Hezser

Obwohl ein neuer rechtsphilosophischer Ansatz zur Untersuchung der rabbinischen Literatur durchaus zu begrüßen ist, werden alle diejenigen, die keine Experten der Rechtsphilosophie sind, zu Reichmans Studie nur schwer Zugang finden. Die Arbeit ist in erster Linie als rechtsphilosophische Studie zu einer rabbinischen Argumentationsfigur anzusehen. Ihre Bedeutung für Talmudisten und Historiker ist dagegen weniger einsichtig. Führt der rechtsphilosophische Ansatz dazu, bekannte Texte aus einer neuen Perspektive zu betrachten, oder werden hier lediglich neue Formulierungen und Interpretationskategorien für allgemein einsichtige Vorgänge verwendet? Was genau ist es, das das rechtsphilosophische Denken zum besseren Verständnis der rabbinischen Literatur beitragen kann?

R.s Studie beschäftigt sich mit einer für den Babylonischen Talmud typischen Argumentationsform, der Abduktion, die in der mittelalterlichen jüdischen Literatur Oqimta genannt wird. Bei dieser Argumentationsform handelt es sich um einen logischen »Schluss vom Ergebnis über die Regel auf den Fall« (6). Die Regel wird auf einen bestimmten Fall reduziert, es handelt sich also um eine restriktive Deutung einer tannaitischen Rechtstradition. R. weist mit Recht darauf hin, dass im Unterschied zu aggadischen (narrativen) Argumentationsformen die halakhische (rechtliche) Me thodik der Rabbinen noch nicht hinreichend untersucht worden ist und dass bisher talmudische Formen hauptsächlich literarisch analysiert worden sind.

Inwiefern es sich bei diesem rechtstheoretischen Ansatz um einen gewinnbringenden und der rabbinischen Literatur angemessenen neuen Zugang handelt, ist allerdings fraglich. Die hier zu Rate gezogenen rechtsphilosophischen Theorien wurden alle auf der Grundlage des modernen europäischen Rechts entwickelt. Sind sie der antiken rabbinischen Literatur angemessen? R. bemerkt am Anfang, dass bisher noch kein Versuch unternommen worden ist, »die talmudische Rechtsmethodik zu systematisieren« (2). Man fragt sich, warum dies bisher nicht geschah. Vielleicht, weil das rabbinische Recht ­ wie auch das römische ­ nicht als systematisch anzusehen ist. Kann ein solches unsystematisches und von konkreten Fällen ausgehendes Rechtsdenken den Kategorien moderner Rechtstheorie als Beispiel dienen? Leider wird der historische Kontext antiken Rechtsdenkens hier ganz ausgeblendet, während mo derne Rechtstheorien in sehr detaillierter und komplizierter Weise ausgeführt werden.

Es geht R. erstens darum zu zeigen, dass die Form der Abduktion von der Induktion und der Deduktion zu unterscheiden ist, und zweitens, dass sie als Gegensatz zum Rechtspositivismus aufzufassen ist. Der erste Teil der Arbeit ist entsprechend der Abgrenzung der Abduktion von anderen logischen Schlussformen gewidmet, während der zweite Teil sich mit der Abduktion als Beispiel nichtpositivistischen Rechtsdenkens beschäftigt. Beide Teile haben re lativ lange theoretische Einleitungen, deren Ausführungen für Laien rechtsphilosophischen Denkens nur schwer nachvollziehbar sind.

Im ersten Teil werden die drei Formen der Deduktion, Induktion und Abduktion anhand von Beispielen aus dem Babylonischen Talmud erklärt. Bei den für die Deduktion aufgeführten Beispielen ist das Vorliegen dieser Argumentationsform nicht immer einsichtig und scheint zum Teil von der Interpretation der Texte abzuhängen, d. h. man kann sie nur dann dieser Kategorie zuordnen, wenn man sie in einer bestimmten Weise interpretiert. Da das Verständnis der sehr komplexen rabbinischen Texte selten eindeutig ist, wird man über die innere Logik der Argumentationsfolge verschiedener Meinung sein können.

R. zufolge dient die Deduktion (von der Regel wird auf den Einzelfall geschlossen) der Rechtsfortbildung sowie der Entdeckung von Gesetzeslücken, die Induktion (aus dem Einzelfall wird eine Regel abgeleitet) der Abstrahierung und Isolierung und die Abduktion (von den Konsequenzen auf die ursächlichen Fallbedingungen) der Harmonisierung von Widersprüchen. Bei der Abduktion handelt es sich um ein regelgeleitetes Verfahren mit logischer Struktur. Es geht hier um die »kreative Einführung von Hypothesen, welche im Hinblick auf ihre Wahrheit (Richtigkeit bzw. Plausibilität) erst in einer über die abduktive Vorgehensweise hinausgehenden Überprüfungsphase kontrolliert werden« (77). Die Regelung wird auf Fallbedingungen zurückgeführt, auf Grund derer sie erst akzeptabel ist. Der dreigliedrige diskursive Ablauf dieser Argumentationsform wird anhand von Textbeispielen vorgeführt. Bei allen Textbesprechungen geht es immer um die uns vorliegende redaktionelle Stufe der Texte, d. h. die Redaktoren des Babylonischen Talmud sind für die logischen Verknüpfungen der Einzeltraditionen verantwortlich. Der rechtsphilosophische Ansatz R.s bezieht sich also auf die Oberflächenstruktur der Texte. Die literaturgeschichtliche Entwicklung in verschiedenen Traditionsstufen wird nicht nachvollzogen.

R. geht deduktiv vor, indem er rechtsphilosophische Theorien und Kategorien auf rabbinische Texte anwendet. Dies wird auch im zweiten Teil deutlich, in dem Jürgen Habermas¹ sprachpragma tischer Ansatz herangezogen wird, um den Unterschied zwischen Abduktion und Rechtspositivismus aufzuzeigen. R.s These lautet: »Abduktive Prozeduren sprengen den engen Rahmen einer auf po sitivistischem Boden wachsenden Rechtsmethodologie« (6­7). Auf Grund von Habermas¹ Universalpragmatik wird der Kommunikationsmodus der Abduktion aufgezeigt (109 ff.): Die Abduktion er scheint im Babylonischen Talmud angeblich im Modus eines einverständnis- und eines verständnisorientierten Sprachgebrauchs. Dies wird anhand von Beispielen zu erklären versucht. Ebenso gibt es talmudische Diskussionen, in denen die Abduktion als Verteidigungsstrategie verwendet wird, um zwischen bestimmten Sichtweisen zu harmonisieren (222­223).

Am Ende seiner Untersuchung weist R. zu Recht darauf hin, dass die Form der Abduktion auf ein Rechtsdenken zielt, welches überlieferte Rechtstraditionen im Hinblick auf konkrete Sachverhalte und Streitfälle interpretiert und »sich bei der Interpretation am Geltungsanspruch der zu interpretierenden Fallnormen« orientiert (261). Es wäre zu untersuchen, inwiefern dieser Sachverhalt auch für das hellenistische und römische Recht zutrifft, in dessen Kontext sich das rabbinische Recht entwickelt hat.

Es ist zu hoffen, dass der rechtstheoretische Ansatz in Zukunft so dargestellt wird, dass er auch fachfremden Lesern verständlich wird. Ob der Ansatz über die Rechtsphilosophie hinaus von Bedeutung ist, wird sich erst zeigen, wenn traditionsgeschichtliche Aspekte so wie der Kontext des nichtjüdischen antiken Rechts berücksichtigt werden.