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Ausgabe:

März/2007

Spalte:

292-293

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Maier, Johann:

Titel/Untertitel:

Studien zur jüdischen Bibel und ihrer Ge schichte.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2004. XII, 512 S. gr.8° = Studia Judaica, 28. Lw. EUR 128,00. ISBN 3-11-018209-2.

Rezensent:

Martin Vahrenhorst

Das hier zu besprechende Buch vereinigt Aufsätze aus den Jahren 1986 bis 2002, die durchweg um aktuelle Literaturhinweise ergänzt wurden. Thematisch nehmen sie ihren Ausgang bei der jüdischen Bibel (Torah ­ Pentateuchtexte ­ Propheten ­ Schriften) und verfolgen deren Rezeption über die Antike und das Mittelalter bis in die jüdische Aufklärung und Moderne hinein. Dem Leser erschließen sich damit der Reichtum und die Vielfalt jüdischer Schriftrezeption über die Jahrtausende hinweg. Wer diesen Band aus Interesse an jüdischer Bibelexegese zur Hand nimmt, begegnet immer wieder herausragenden Einzelgestalten der Bibelauslegung von Philon und Josephus bis hin zu Raschi und Ibn Esra, gewinnt Einblicke in die Arbeit der Qumrangemeinde und der Rabbinen und nicht zuletzt der ersten Übersetzer der hebräischen Schriften Israels ins Griechische. Damit ist der Sammelband geradezu ein Kompendium zur Schriftauslegung im Judentum, das noch dazu auf eine Weise geschrieben ist, die auch Nichtspezialisten zugänglich ist (selbst wenn man in einigen Beiträgen eine Zwischenzusammenfassung oder ein Fazit vermisst).

Bibelwissenschaftlich Interessierten er öffnet der Band spannende Perspektiven: Die Rezeptionsgeschichte eines im klassischen Sprachgebrauch alttestamentlichen Textes gewährt nicht selten Einsichten in dessen ursprüngliche Intention. Das zeigt M. an Ps 1: Von der Wahrnehmung der Auslegung von Ps1 her lässt sich zeigen, dass dieser den Psalter einleitende Text dem Gesamtkorpus zu nächst eine »davidische« Deutung geben sollte. Der Akzent der To rahfrömmigkeit wächst ihm dann erst später zu, vor allem zugespitzt auf das »gesetzesgelehrte Standesinteresse« und erst später erweitert um eine »individuelle Note«: Jeder einzelne Mensch soll die Torah studieren (374). Ganz gleich, ob man alle Beobachtungen im Einzelnen teilt oder nicht ­ deutlich wird, dass es sich lohnt, Texte der Hebräischen Bibel auch unter historisch-kritischen Fragestellungen im Licht ihrer späteren Rezeption zu lesen.

Besonders anregend sind M.s Beiträge zum Themenbereich »Torah, Propheten und Schriften (TN¹¹K), ðKanonÐ und Exegese in der jüdischen Überlieferung«: Alle fünf unter dieser Überschrift versammelten Beiträge präzisieren das Verständnis von Torah: »Torah und Pentateuch werden im Gegensatz zur jüdischen Tradition allzu oft unzutreffend gleichgesetzt« (117). Die Torah ist aber mehr als der Pentateuch, der »als Gesetzbuch des jüdischen Gemeinwesens von vornherein unzulänglich« war (4). »Im Pentateuch ist der kleinere, schriftliche Teil der Torah vom Sinai enthalten« (9); ergänzende Überlieferungen gehörten von frühester Zeit an unbedingt dazu und sind keinesfalls nur Ergebnis schriftgelehrter Reflexion. Die Rabbinen prägen für dieses Phänomen dann das Begriffspaar »schriftliche Torah« und »mündliche Torah«, aber der Sache nach ist es älter. So verwendet man in Qumran neben dem Pentateuch auch andere Texte als Torah z. B. 11Q19 (50), und man weiß darum, dass es in der Torah ­ im umfassenden Sinn ­ verborgene Dinge gibt, die dann zu ihrer Zeit eröffnet werden (7.51).

Auf der anderen Seite kommt dem Pentateuch im antiken Judentum natürlich eine zentrale Rolle zu. Diese ist zuerst im Kontext des hellenistischen Judentums greifbar, wo der »Rekurs auf autoritative Schriften nicht zuletzt apologetischen Zwecken diente« (115). Demnach käme der Übersetzung des Pentateuch ins Griechische eine herausragende Bedeutung bei der Aufwertung des Pentateuch im gesamten Judentum zu (vgl. 114).

Für die Frage nach der Bedeutung des Gesetzes in den neutestamentlichen Schriften ergäbe sich aus M.s Darlegungen die Konsequenz, dass es nicht ausreicht, einfach nur den Pentateuch im Blick zu haben, wenn man vom Gesetz spricht, denn nicht nur die Qumrangemeinde »did not restrict ðTorahÐ to the legal contents of the Pentateuch, and some texts contain Torah, materials in no way relat ed to Pentateuchal laws« (85). Daraus ergibt sich die Frage, wie Torah in der Praxis entsteht, und wer bestimmt, was im konkreten Fall Torah ist (vgl. dazu 51.117­124). M. veranschlagt in diesem Zu sammenhang das Amt eines »Propheten wie Mose« nach Dtn 18,18 f. für die Zeit bis 138 v. Chr. sehr hoch, wobei zu prüfen ist, ob sich anhand der von ihm genannten Quellen die Existenz eines solchen Amtes wirklich nachweisen lässt (vgl. dazu 119­122).

Ähnlich anregende Hinweise finden sich zum Phänomen der Schriftauslegung und damit zusammenhängend zur Kanonfrage (§ 2): M. warnt vor einer Projektion christlicher Kanon- und Schriftauslegungsvorstellungen ins antike Judentum (35 ff.). Was heilige Schriften sind, war lange umstritten, darum sind Begriffe wie »deuterokanonisch« oder »parabiblical« eigentlich nicht angemessen (79), um das zu beschreiben, was im Kontext des antiken Judentums als »Offenbarungsschriften« gewertet wurde (35).

In der neutestamentlichen Forschung wird seit jeher auf den genauen Wortlaut der Schriftzitate im Neuen Testament geachtet: Zitiert ein Autor frei oder zitiert er eine Textvorlage, die nicht mit den uns bekannten identisch ist? Übersetzt er aus dem Hebräischen, oder greift er auf die LXX zurück? Für Philo und Josephus war aber ­ so M. ­ nicht der Wortlaut »sakrosankt«, im Vordergrund stand vielmehr der Inhalt (68 ff.). Von daher stellt sich die Frage, ob die in der neutestamentlichen Exegese vertretenen Alternativen den antiken Rezeptionsgewohnheiten wirklich gerecht werden. Auch das zum Beispiel im Blick auf das Johannesevangelium diskutierte Phänomen der »Kanonisierung« christlicher Schriften (vgl. dazu K. Scholtisseks Beitrag in: Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium [FS J. Beutler], Paderborn 2004) verliert vor diesem Hintergrund etwas an Brisanz. Wenn es keinen festen Kanon im Judentum gibt, stellt sich die vermeintliche Kanonisierung einer christlichen Schrift nicht notwendigerweise als Akt der Abgrenzung oder als herausragende Entwicklung dar. Die Beiträge M.s geben hier interessante Denkanstöße.

Die übrigen Beiträge des Bandes behandeln eine Fülle unterschiedlicher Texte und bieten zuweilen unerwartete Lesefrüchte, von denen einige mitgeteilt seien: An der Rezeption von Ps 37,1.7.8 zeigt M., dass das rabbinische Judentum keinesfalls ausschließlich »anti-apokalyptisch« eingestellt war (403). Die Beobachtung, dass Josephus anhand seiner Verarbeitung der Namenlisten aus Gen 10 verdeckt Kritik an den Ansprüchen des Imperium Romanum übt (§ 6 und 7), lässt das Bild dieses Autors differenzierter erscheinen. Zum ersten Mal in deutscher Sprache liegt der Beitrag zu Ps 24,1 vor, der den Unterschied zwischen jüdischer beracha vor dem Mahl (De sakralisierung der Speisen) und Texten wie 1Tim 4,1­5 (Heiligung der Speisen) herausarbeitet.

Ausdrückliche Erwähnung verdient das methodische Vorgehen, das sich durch alle Beiträge dieses Bandes zieht. M. zeichnet den Umgang mit einzelnen Texten oder Fragestellungen von der Hebräischen Bibel durch alle Bereiche des Judentums bis in das Mittelalter hinein nach. Daraus ergibt sich ein nahezu vollständiges Raster jüdischer Rezeptions- und Lektüremöglichkeiten. Vor dem Hintergrund eines solchen Rasters ließen sich dann auch neutestamentliche Rezeptionen biblischer Texte in ihrem Profil sehr genau bestimmen. Dazu genügt es nicht, sich auf streng vorneutes tamentliche Texte zu beschränken. Oft lässt erst der Blick auf spätere Auslegungen deutlich werden, was schon in der neutestamentlichen Zeit an Rezeptionsmöglichkeiten zur Verfügung stand.

Diesem materialreichen Band ist eine breite Leserschaft zu wünschen, die sich auf unerwartete Entdeckungen freuen kann.