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Ausgabe:

Februar/2007

Spalte:

210-212

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klein, Stephanie:

Titel/Untertitel:

Erkenntnis und Methode in der Praktischen Theologie.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2005. 317 S. gr.8°. Kart. EUR 25,00. ISBN 3-17-018669-8.

Rezensent:

Reiner Preul

Die Studie, mit der sich die Vfn. am Fachbereich Katholische Theologie in Mainz habilitiert hat, weiß sich dem Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils verpflichtet, das in der Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« dazu auffordert, »nach den Zeichen der Zeit zu forschen Š die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen« (35). Diesen Auftrag zu erfüllen ist in erster Linie Aufgabe einer Praktischen Theologie, die sich nicht einfach als Anwendungswissenschaft im Verhältnis zu den anderen theologischen Disziplinen verstehen kann: »Die Praktische Theologie hat zwei zentrale Aufgabenbereiche, für die sie unterschiedliche Methoden entwickeln muss: die Erhebung der Erfahrungen, Handlungen und des Glaubens des Menschen, und die Entwicklung von Konzepten zur Unterstützung der Praxis. Für ihren ersten Bereich muss sie Methoden der Theoriebildung über die soziale Wirklichkeit entwickeln, für ihren zweiten Bereich Methoden der pastoralen Praxis.« (118) Nur der erste Bereich ist Gegenstand des Buches.

Praktische Theologie muss also als Voraussetzung für die von ihr erwarteten praxisleitenden Konzepte eigene empirische Forschung betreiben. Bezüglich der hier zum Einsatz zu bringenden Methoden »und ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung in interdisziplinären Gesprächen« herrsche aber keine Klarheit (13). Der entsprechende Diskurs sei Ende der 1980er Jahre abgebrochen, »als die gemeinsame Arbeit an der Konzeptionalisierung der Praktischen Theologie als einer Handlungswissenschaft einer Vielzahl theoretischer Ansätze wich« (ebd.), eine für beide Konfessionen wohl zutreffende Beobachtung. Am klaren Methodenbewusstsein hängt die Wissenschaftlichkeit der Praktischen Theologie, ihre Leistungsfähigkeit im Rahmen der gesamten Theologie sowie ihre Diskursfähigkeit im Blick auf die modernen Humanwissenschaften.

Nun hätte sicher mancher Leser es vorgezogen, wenn die Vfn. das methodologische Problem, ausgehend von konkreten Desideraten der kirchlichen Praxis einerseits und der Frage nach der Einheit der Praktischen Theologie andererseits, schlicht durch eigene Überlegungen bearbeitet hätte, wobei einschlägigen in der Theoriegeschichte schon vorliegenden Analysen und Erkenntnissen einige Exkurse hätten gewidmet werden können. Ein solcher direkter Weg hätte ebenfalls zu den Prinzipien der »Grounded Theory« von Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss (239­265) geführt. Stattdessen geht die Vfn. den langen indirekten Weg über die Theoriegeschichte mit der Folge, dass einerseits die Regeln der Forschung, insbesondere der sog. qualitativen Sozialforschung, auf tiefere Einsichten zur Konstitution von Erfahrung, Lebenswelt und sozialer Wirklichkeit sowie zu den Bedingungen interdisziplinärer Verständigung mit den Sozialwissenschaften gegründet werden, andererseits der Leser durch diese Referate zwar viel Erhellendes erfährt, von dem manches aber zur Begründung methodisch sauberer und ihrer Grenzen bewusster Forschungspraxis nicht unbedingt erforderlich ist.

Zunächst war der Anschluss an die einschlägige innerkatholische Theoriegeschichte herzustellen. Die Vfn. rekonstruiert den von Joseph Cardijn für die katholische Arbeiterbewegung entwickelten Dreischritt »Sehen ­ Urteilen ­ Handeln«, eine Art Rahmenschema, das dann unter anderen Voraussetzungen in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie aktualisiert wird und auch noch den Hintergrund für die spezifisch praktisch-theologischen Kooperationsmodelle bei J. van der Ven, N. Mette und H. Steinkamp abgibt.

Unter der Frage, »wie wissenschaftliche Theorien mit dem Bewusstsein und der Erfahrung verbunden sind« (127), werden die Einsichten Edmund Husserls zur phänomenologischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie referiert (127­154). Der Vfn. kommt es vor allem auf den Begriff der Lebenswelt als der Grundlage aller Theoriebildung und auf die Vermeidung eines sich verselbststän digenden, den Schein von Objektivität erzeugenden und »Sinnverschiebungen« produzierenden Wissenschaftsbetriebes an. Für die Praktische Theologie wird gefordert, dass »auf die vorwissenschaftlichen Prämissen, Zusammenhänge und Interessen reflektiert« (157) und dass die »unmittelbaren Wahrnehmungen, Gefühle und Erkenntnisse« gelebter Religion ernst zu nehmen sind (159 f.). ­ Das folgende Kapitel ist der sozialphänomenologischen Weiterführung des Lebenskonzepts bei Alfred Schütz gewidmet. Es erbringt eine Fülle für die sozialwissenschaftliche Methodologie relevanter Unterscheidungen (Zeichen und Anzeichen, Zeugnis und Erzeugnis, Selbstverstehen und Fremdverstehen, Konstruktionen ersten und zweiten Grades, Wir- und Ihr-Beziehung, verschiedene Anonymitätsgrade der Typisierung, subjektiver und objektiver Sinn), von denen die zwischen subjektivem und objektivem Sinn(-verstehen) sich als besonders ergiebig erweist: »Systemische, strukturalistische und funktionalistische Ansätze beziehen sich vorrangig auf den objektiven Sinn der Sozial- und Kulturwelt und bedienen sich analytischer und quantitativ-empirischer Methoden. Der Blick handlungstheoretischer Ansätze ist auf den subjektiven Sinn und damit auf das Verstehen der Konstitutionsprozesse der Sozialwelt gerichtet.« (200) Da die Vfn. im Prinzip an einem handlungstheoretischen Verständnis der Praktischen Theologie festhält, wird dieser schwerpunktmäßig die Aufgabe der Rückfrage nach den subjektiven Herstellungs- und Bewusstseinsprozessen gestellt.

Das besonders verdienstvolle Kapitel über Georges Devereux (205­237), einen von der Psychoanalyse beeinflussten und weithin vergessenen Pionier der Feldforschung, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Person des Forschers: »Aufgrund der Wechselseitigkeit des kommunikativen Verhaltens muss die Forschung als ein komplexes Geschehen angesehen werden, in dem das Verhalten der forschenden Person, das Verhalten des beobachteten Wesens und die Interaktion zwischen beiden als erkennbar zusammengehörig betrachtet und ausgewertet werden müssen.« (214) Zu den Implikaten dieser in Devereuxs Werk »Angst und Methode« ana lysierten Interaktion gehören u. a. bestimmte Mechanismen der Angstabwehr, die Komplementarität teils bewusster teils unbe wuss ter Verhaltensmuster oder Rollen, wechselseitige Projektionen und Verzerrungen, welche methodisch zu reflektieren und dann auch als Erkenntnismedium zu nutzen sind. ­ Im Referat über die »Grounded Theory als Grundstrategie einer empirisch fundierten Theoriegenerierung« (239­265) werden die in der Forschungspraxis zum Einsatz kommenden Verfahrensschritte (Beschreiben, Kodieren, Vergleichen, Datenschnitte, Memos, Literaturverwendung etc.) im Einzelnen beschrieben.

Die Arbeit schließt mit Bemerkungen zur »Forschungsethik« (reichlich knapp) und zur »wissenschaftlichen Gültigkeit von Theo rien über die soziale Welt«, wozu u. a. bestimmte Gütekriterien (Re liabilität, Allgemeinheit, Validität mittels kommunikativer Va li dierung) formuliert werden. Der Leitfrage der Studie, »wie die Praktische Theologie wissenschaftliche Š Theorien über das Leben der Menschen gewinnen kann, die die Vielfalt und Subjektivität menschlichen Lebens nicht zum Verschwinden bringen« (281), entspricht ein deutliches Plädoyer für den Vorrang qualitativer bzw. »verstehender« Sozialforschung, also »biographische(r) und rekonstruktive(r) Methoden« (286).

Das Verdienst der Arbeit besteht darin, die Methodendiskussion in der (katholischen) Praktischen Theologie weitergeführt und vertieft zu haben. Allerdings muss man, deutlicher als die Vfn. es tut, hervorheben, dass damit keineswegs die Gesamtheit dessen, was ein Praktischer Theologe zu leisten hat, in Bezug auf deren Wissenschaftlichkeit reflektiert wird. Wann treibt er schon empirische Feldforschung? Wie steht es dann mit der Methodik und Wissenschaftlichkeit des praktisch-theologischen Gesamtunternehmens? Um diese Frage zu klären und damit der Reichweite des Titels der Arbeit gerecht zu werden, hätte die Vfn. nicht nur der Beziehung der Praktischen Theologie zu den Sozialwissenschaften, sondern auch ihrer zwar mehrfach genannten (z. B. 282), aber nicht entfalteten Beziehung zur Theologie als Ganzer nachgehen müssen, die Schlei ermacher übrigens insgesamt als »positive Wissenschaft« bestimmt (nicht nur die Praktische Theologie, wie die Vfn. S. 40 meint). Die Wissenschaftlichkeit der Praktischen Theologie kann also nicht einfach separat geklärt werden.

Mit diesem Defizit ist ein weiteres verbunden. Die Rolle theologischer Anthropologie im Zuge praktisch-theologischer Erkenntnisgewinnung bleibt unterbestimmt; ihre Bedeutung wird zwar verschiedentlich betont (z. B. 87.123.236), aber nirgends entfaltet. Man gewinnt gelegentlich fast den Eindruck, als käme der Lebensbezug von Theologie und kirchlichem Handeln allein durch moderne empirische Forschung zustande. Immer wieder wird die Unbrauchbarkeit »herkömmlicher Kategorien« angesichts des raschen gesellschaftlichen Wandels behauptet. Welche Kategorien sind da eigentlich gemeint? Vor allem aber: Redet denn die Theologie mit Kategorien wie »Geschöpflichkeit«, »Sünde«, »Schuld«, »Rechtfertigung«, »Glaube«, »Wiedergeburt«, »Heiligung« von etwas anderem als von menschlicher Lebenswirklichkeit? Freilich beziehen sich diese Kategorien auf die dauerhaften Züge des In-der-Welt-Seins, die freilich in je zeitspezifischer Ausprägung manifest werden. Um diese Ausprägungen (aber als Ausprägungen des Allgemein-Dauerhaften) wahrzunehmen, sind eigene praktisch-theologische Forschungsprojekte erforderlich. Nebenbei bemerkt: Theologischerseits sollten im Zusammenhang dieser Aufgabe qualitativer Sozial- und Biographieforschung auch die Werke der Künstler und Schriftsteller und Cineasten als Erkenntnisquelle gewürdigt und ausgewertet werden.