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Ausgabe:

Februar/2007

Spalte:

170-173

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Westerholm, Stephen:

Titel/Untertitel:

Perspectives Old and New on Paul. The »Lutheran« Paul and His Critics.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2004. XIX, 488 S. gr.8°. Kart. US$ 35,00. ISBN 0-8028-4809-5.

Rezensent:

Dieter Sänger

Seitdem die sog. »New Perspective on Paul« sich anschickte, das Koordinatensystem im Gesamt der paulinischen Theologie neu zu justieren, ist das vor allem im deutschsprachigen Bereich dominierende reformatorische Verständnis von Gesetz und Rechtfertigung in die Defensive geraten. Schien es eine Zeit lang, als müssten seine Verfechter auf diesem »battlefield« (F. Thielman) der Paulusexegese endgültig den Rückzug antreten, haben sie inzwischen wieder an Boden gewonnen. Gegenwärtig ist die Lage unübersichtlich. Während die Zweifel an vormals konsensfähigen Antworten wachsen, befinden sich ihre Alternativen noch auf dem Prüfstand oder bereits in der Kritik. Deshalb mehren sich die Versuche, den Ertrag der bisherigen Diskussion zu bilanzieren. Zahlreiche Aufsätze und monographische Studien spiegeln mit ihrer Mischung aus Zustimmung und Ablehnung, Replik und Duplik den jeweils aktuellen Stand der Debatte. Wenn sie eines deutlich gemacht hat, dann dies: Hinter der Bezeichnung »New Perspective« verbergen sich zum Teil sehr konträre Sichtweisen. Das bleibt häufig unbeachtet, erschwert es aber zusätzlich, die positionellen Unterschiede zu relativieren und sie durch den methodisch wie konzeptionell eine übersummative Einheit suggerierenden Sammelbegriff »New Perspective« auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

W. ist dieser Gefahr nicht erlegen. Jenseits vorgängiger Fixierungen nimmt er die Vielfalt der Stimmen wahr und urteilt differenziert, ohne freilich seine Leser über die eigene Präferenz für den »lutherischen« Paulus im Unklaren zu lassen. Wer seine 1988 veröffentlichte Studie »Israel¹s Law and the Church¹s Faith. Paul and His Recent Interpreters« (vgl. ThLZ 116 [1991], 433­436) kennt, wird kaum überrascht sein. Sie bildet den Grundstock des vorliegenden Buchs, das über weite Strecken hinweg eine revidierte und aktualisierte Fassung der älteren Arbeit darstellt. Einige Kapitel sind nahezu unverändert übernommen worden, andere wurden erheblich erweitert. Der Rest, knapp die Hälfte des Textes, ist neu geschrieben. Von den drei Hauptteilen (I: »Portraits of the ðLutheranÐ Paul« [1­97]; II: »Twentieth-Century Responses to the ðLutheranÐ Paul« [99­258]; III: »The Historical and the ðLutheranÐ Paul« [259­445]) weist der zweite die größte Schnittmenge mit der Ursprungsversion auf. Aber auch er führt über schon Gesagtes hinaus und präsentiert sich durch ergänzende Passagen auf der Höhe der Forschung.

Der »lutherische« Paulus hat eine Vor- und Nachgeschichte. Über sie informiert W. im ersten Hauptteil. Dabei spannt er den Bogen von Augustin über M. Luther und J. Calvin bis zu J. Wesley, dem Ahnvater der besonders im anglo-amerikanischen Raum einflussreichen Methodistischen Kirchen. Jeder von ihnen repräsentiert auf seine Weise die später (wenig glücklich) als »lutherisch« etikettierte Interpretationslinie, derzufolge im Zentrum des paulinischen Denkens das in und durch Christus sola gratia gewirkte und sola fide zugeeignete rechtfertigende Handeln Gottes abseits vom Gesetz steht. Anschließend werden die grundlegenden Übereinstimmungen und spezifischen Unterschiede in sieben Thesen gebündelt (88­97). Der Dissens betrifft vor allem die Funktion des Gesetzes für die Glaubenden (Augustin/Luther vs. Calvin/Wesley), die Frage der Prädestination (Augustin/Luther/Calvin vs. Wesley) sowie das Verhältnis von Gesetz und Evangelium (Luther vs. Calvin).

Anders, als die Überschrift erwarten lässt, kommen im zweiten Teil nicht nur die Kritiker der »lutherischen« Position zu Wort. Berücksichtigt werden z. B. auch R. Bultmann, H. Hübner und J. Becker, die jeweils eigene Akzente setzen, sich jedoch innerhalb des traditionellen Interpretationsansatzes bewegen. W. orientiert sich an den Problemfeldern, die im 20. Jh. im Brennpunkt des Interesses standen und/oder auf denen die »Old Perspective« den heftigsten Widerspruch erfahren hat. Die behandelten Themen werden durchweg an Personen festgemacht, mit deren Namen und Werk sie verbunden sind, so dass ein auf die wichtigsten Etappen konzentrierter Abriss der jüngeren Forschungsgeschichte vorliegt. Allerdings verbleibt W. nicht im Referat, sondern gibt auch zu erkennen, wo rin er das relative Recht der von den »New Perspectivists« und ihren Vorläufern gerichteten Anfragen an die »lutherische« Paulusdeutung sieht.

Aus Raumgründen müssen einige Hinweise genügen. Entgegen der Auffassung W. Wredes und A. Schweitzers ist die Rechtfertigungslehre weder ein Sekundärphänomen (»Nebenkrater«) noch ein Produkt konfrontativer Polemik. Beiden kommt aber das Verdienst zu, den eschatologischen Horizont der paulinischen Sinnwelt wiederentdeckt zu haben (116). Die von E. P. Sanders eingeforderten Korrekturen am gängigen Bild vom Judentum als einer Religion der Werkgerechtigkeit und Gesetzlichkeit sind überfällig. Freilich er scheint es zweifelhaft, ob die Kategorie »Bundesnomismus« geeignet ist, dem differenzierten Quellenbefund hinsichtlich der Zuordnung von Tora und Heil Rechnung zu tragen (133, vgl. 286­296.341­351). Der quer durch die Lager kontrovers diskutierte Problemaspekt, ob und inwieweit das paulinische Gesetzesverständnis Wandlungen unterworfen oder gar von inneren Widersprüchen geprägt ist, wird anhand der Entwürfe von J. W. Drane, H. Hübner und H. Räisänen thematisiert (164­177). Das Anliegen der »New Perspective« vertreten N. T. Wright, J. D. Dunn und T. Donaldson (178­200). Trotz Unterschieden im Einzelnen stimmen sie darin überein, dass die paulinische Antithese von »Glaube« und »Werke (des Gesetzes)« keine Kritik an der (vermeintlichen) nomistischen Substruktur der jüdischen Soteriologie impliziert, sondern auf einen christologisch entgrenzten Heilsuniversalismus und damit die Überwindung der ethnisch definierten Schranken (»boundary markers«) zielt, die Juden von Heiden trennen und deren Integration in das Gottesvolk verhindern. Als Verteidiger des »lutherischen« Paulus werden zunächst C. E. B. Cranfield, Th. Schreiner, A. Das, F. Thielman und M. Seifried aufgeboten (201­225). Verstärkung erhalten sie von fünf weiteren Autoren, die zeigen, dass die paulinische Anthropologie (T. Lato), Rhetorik (L. Thurén, J.-N. Aletti), apokalyptische Weltsicht (J. L. Martyn) und Kreuzestheologie (J. Becker) als Explikation der Rechtfertigungslehre fungieren und somit wechselseitig ihren zentralen Stellenwert bestätigen (226­248).

Im dritten Teil nimmt W. das direkte Gespräch auf und positioniert sich. Bevorzugter Dialogpartner ist E. P. Sanders, auch wenn er nicht immer genannt wird. Weil die semantische Valenz theologischer Leitbegriffe variiert, muss der Kontext über ihren jeweiligen Sinngehalt entscheiden. Eine Untersuchung der Lexeme »Gerechtigkeit« (261­296), »Gesetz« (297­340) und »Gnade« (341­351) ergibt, dass ihr paulinischer Gebrauch integriert ist in das Koordinatensystem des soteriologischen Basissatzes »aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerecht« (Röm 3,20; Gal 2,16) und sich erst von ihm her erschließt. Ein Durchgang durch die Briefe in ihrer mutmaßlichen chronologischen Reihenfolge (für W. ist Phil der letzte) lässt erkennen, dass das mit dem Syntagma »Gerechtigkeit aus Glauben« Gemeinte der Sache nach auch dort präsent ist, wo der Ausdruck selbst fehlt (352­407). Den Abschluss bilden neun Thesen zu »The Law in God¹s Scheme« (408­439).

Ein Ergebnis zu formulieren fällt schwer. Daher nur soviel: W. teilt die Kritik der »New Perspective« am einseitig negativen Bild des zeitgenössischen Judentums. Es resultiert aus einer jahrhundertelangen Auslegungstradition, deren nomistische Vorurteilsstruktur mit der historischen Wirklichkeit kollidiert. Zum »fundamental truth« gehört, »that Judaism Š knew and depended on God¹s grace and did not promote a self-righteous pursuit of salvation by works« (444). Die pauschale Rede von dem Judentum ignoriert Pluralität, ja Divergenz und ebnet ein, wo Differenzierung nötig ist. Das gilt allerdings auch im Blick auf E. P. Sanders. Sein »common Judaism« ist das Produkt eines methodisch fragwürdigen Abstraktionsverfahrens, das die Vielstimmigkeit der Quellen zu Gunsten des erstrebten Beweisziels vorderhand ausblendet. Ferner stimmt W. mit der »New Perspective« überein, dass sich viele der paulinischen Konflikte an den »boundary markers« (Beschneidung, Reinheits- und Speisegebote) entzündet haben. Ihre ethnozentrische Struktur stellte für die ekklesiale Gemeinschaft von geborenen Juden und Heiden ein Risikopotenzial dar. Aber an die Texte herangetragene soziologische Kategorien sind ungeeignet, die theologische Tiefendimension des in den paulinischen Briefen zur Sprache gebrachten Wirklichkeitsverständnisses adäquat zu erfassen. Das Syntagma »Werke des Gesetzes« ist nicht auf die »boundary markers« zu beschränken, sondern reflektiert in grundsätzlicher Weise die Situation des Menschen coram deo. Die für die »lutherische« Paulusdeutung konstitutive Frage nach dem individuellen Heil zu suspendieren, hieße zugleich, das Anliegen des Theologen Paulus auf die Überwindung ethnischer und national-religiöser Grenzen zu reduzieren.

Das glänzend geschriebene und mit humorvollen Einlagen gewürzte Buch enthält ein engagiertes Plädoyer zur Rehabilitierung der mit dem Namen M. Luthers verbundenen »Old Perspective«. Soweit ich sehe, ist die einschlägige Literatur pro und contra nahezu vollständig verarbeitet und thematisch eingeordnet. Schon deshalb empfiehlt sich diese Studie als Wegweiser in der verzweigten Debatte. Wer Orientierung sucht, findet sie hier. Eine vergleichbar profunde Einführung, in der Referat und Textanalyse aufeinander abgestimmt sind und dialogisch einander ergänzen, gibt es im deutschen Sprachraum bisher nicht. Was nicht ist, kann ja noch werden. Aber dann auf einem Niveau, für das W. Maßstäbe gesetzt hat.