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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

102-104

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Enns, Fernando:

Titel/Untertitel:

Friedenskirche in der Ökumene. Mennonitische Wurzeln einer Ethik der Gewaltfreiheit.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 364 S. gr.8° = Kirche ­ Konfession ­ Religion, 46. Geb. EUR 59,00. ISBN 3-525-56550-X.

Rezensent:

Hans-Jürgen Goertz

Der Vorschlag, eine »Dekade zur Überwindung von Gewalt« auszurufen, wurde von Fernando Enns, dem Delegierten der Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinden, in die Beratungen der Achten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1998 in Harare (Simbabwe) eingeführt und dort zu einem offiziellen Beschluss erhoben. Dieser Vorschlag, der aus dem Geist der Historischen Friedenskirchen erwuchs, fügte sich in die langjährigen Bemühungen der ökumenischen Bewegung um den Frieden in der Welt ein und hat die Gespräche zwischen den Kirchen um Gewaltfreiheit schon in dieser kurzen Zeit merklich intensiviert. Seit 2003 liegt nun die Dissertation über die mennonitischen Wurzeln einer Ethik der Gewaltfreiheit im Druck vor, mit der E. 2001 an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg promoviert wurde. Er geht dem vermuteten Zusammenhang zwischen Ekklesiologie und Friedenszeugnis nach, wie dieser sich bei den Täufern und Mennoniten ausbildete und nach dem Zweiten Weltkrieg in den sogenannten Puidoux Theological Conferences, die zwischen 1955 und 1962 von Vertretern der Historischen Friedenskirchen und evangelischer Kirchen abgehalten wurden, und wie er in Gesprächen auf ökumenischer Ebene zunehmend sichtbar wurde.

Anders als in Nordamerika ließ die Arbeit an einer Theologie der Friedenskirche hierzulande lange auf sich warten. Wenn sie doch betrieben wurde, geschah es vorwiegend unter historischen Gesichtspunkten im Rahmen der Täuferforschung. Im Grunde ist die Darstellung, mit der sich E. zu Wort gemeldet hat, die erste systematisch-theologische Untersuchung, die alle Möglichkeiten auslotet, das Friedenszeugnis der Täufer und Mennoniten, das in der Selbst- wie in der Fremdwahrnehmung allzu oft auf das Sondermerkmal dieser Freikirche eingeschränkt wurde, in einem weiteren Sinne als Ausdruck der Ekklesiologie zu begreifen. Mit der Konzentration auf die Ekklesiologie, auf die »geglaubte« wie auf die »erfahrene« Kirche, wurden die Voraussetzungen geschaffen, die Frage nach der konfessionellen Identität einer Friedenskirche mit der Suche nach der Einheit der Kirche in der Vielfalt der Kirchen zu verbinden. So geht es in dieser Untersuchung nicht um eine mennonitische Ekklesiologie, in die sich das Friedenszeugnis als ein besonderer Akzent einfügt, sondern um eine »Ekklesiologie aus friedenskirchlicher Perspektive« (33), in der die Friedenskirche ihren exklusiven Charakter verliert und sich zur »una apostolica« weitet (317), aus der sie lebt und auf die sie hinstrebt. Genau genommen liegen die Wurzeln einer Ethik der Gewaltfreiheit also gar nicht in konfessioneller Partikularität, sondern in der Gemeinschaft stiftenden Universalität des göttlichen Heilshandelns.

In fünf Abschnitten geht E. den Argumenten nach, die zu dem Ergebnis gegenseitiger Bereicherung von Friedenskirche und Ökumene führen. Im ökumenischen Gespräch kommt die Friedenskirche zu sich selbst, und Impulse aus der Friedenskirche helfen den Kirchen, jetzt schon als versöhnte Gemeinschaft für die Überwindung der Gewalt in dieser Welt zu wirken.

Im ersten Abschnitt werden die Beratungen nachgezeichnet, die im Ökumenischen Rat der Kirchen zur Frage der Ekklesiologie geführt wurden und bisher in ein trinitarisch begründetes Koinonia-Konzept eingemündet sind und das zunächst vorherrschende christologisch ausgerichtete Konzept geweitet haben. In dem Koinonia-Konzept dürften sich die Kirchen mit ihrem jeweils besonderen ekklesiologischen Selbstverständnis so wiederfinden, dass ihre Kräfte zur Mitgestaltung der kirchlichen Einheit gestärkt werden. »Diese Koinonia-Ekklesiologie im Horizont der Ökumene ist weder dogmatisch fixiert noch durch ein Amt sanktioniert. Sie kann nur eine im Werden sein, Ekklesiogenese im konziliaren Prozeß« (98).

Im zweiten Abschnitt wird der Blick auf Begriff und Gestalt der »Freikirche« und der »Friedenskirche« gelenkt. Jede historische Friedenskirche (neben den Mennoniten die Quäker und die Church of the Brethren) ist eine Freikirche, aber nicht jede Freikirche ist eine Friedenskirche. Davon abgesehen entspringen die Friedenskirchen verschiedenen Traditionen, ja, mehr noch, sie ringen in sich selber mit unterschiedlichen Vorstellungen von Wehrlosigkeit, Kriegsdienstverweigerung, Friedfertigkeit und Gewaltfreiheit. Über eine konfessionskundliche Skizze weit hinaus ist hier eine Analyse entstanden, die das spannungsvolle Verhältnis von geglaubter und erfahrener Friedenskirche theologisch tief erfasst und Argumente aus der bei den Mennoniten (nur darauf konzentriert sich diese Studie) gerade erst beginnenden theologisch-systematischen Arbeit aufnimmt und das erwähnte Spannungsverhältnis in der Vorstellung von der »messianischen Gemeinschaft« (153) produktiv werden lässt. Bemerkenswert ist, dass E. den polygenetischen Ursprung des Täufertums, wie ihn die revisionistische Täuferforschung herausgearbeitet hat, mit einem theologischen Ansatz zu verbinden versteht, der im Pluralismus des friedenskirchlichen Selbstverständnisses nach dem Gemeinsamen einer ekklesiologischen Fundierung des Friedenszeugnisses sucht und die Bereitschaft der Friedenskirche signalisiert, sich im ökumenischen Gespräch immer wieder zu erneuern, um auf neue gesellschaftliche Herausforderungen angemessen und überzeugend reagieren zu können. Es geht also nicht darum, doktrinäre Inhalte einer täuferisch-mennonitischen Theologie zur Geltung zu bringen, was einer Leugnung der polygenetischen und pluralistischen Tradition und Situation gleichkäme, sondern mit Hilfe »impliziter Axiome« (D. Ritschl) und »regulativer Prinzipien« (G. H. Lindbeck) die Dialogfähigkeit der Friedenskirche gegenüber anderen kirchlichen Traditionen zu stärken.

Im dritten Abschnitt wird die Friedenstheologie untersucht, die John Howard Yoder (1927­1997) im ökumenischen Gespräch entwickelt hat und dessen Konzept der »messianischen Gemeinschaft« zum ausgereiftesten und bekanntesten Beitrag der nordamerikanischen Mennoniten zur Diskussion um Krieg und Frieden zählt.

So sinnvoll die Heraushebung dieser friedenskirchlichen Position ist, ist es doch ein wenig misslich, dass E. dazu beiträgt, andere nordamerikanische Ansätze eines systematischen »Theologisierens« nicht so zu beachten, wie es ratsam gewesen wäre, um den eigenen pluralistischen Ansatz zu erhärten: z. B. die theologischen Entwürfe Gordon D. Kaufmans (Harvard University) oder A. James Reimers (Conrad Grebel University College, Waterloo). Die »messianische Gemeinschaft« erwartet den auferstandenen Herrn, indem sie ihm jetzt schon in freier Glaubensentscheidung nachfolgt (Believers¹ Church), sich als disziplinierte Gemeinde von der »Welt« abgrenzt, d. h. auch jedes Bündnis mit Staat und Nation ablehnt (»Konstantinische Häresie«), sich in eschatologisch motivierter Vorläufigkeit partikular darstellt und ihre ekklesiologische Nonkonformität im praktischen Verhalten verwirklicht.

So gesehen wird die Ekklesiologie statt zu einer Wesensdefinition der Kirche zu einer Sozialethik, die in der »Beispielhaftigkeit der Kirche als Vorgeschmack, Modell, Botin des Reiches Gottes« begründet ist (178). Dieses Konzept wird umsichtig und verständnisvoll, auch kritisch dargestellt, wo Polarisierungen, Schematisierungen und die »Deskription eines perfektionistischen Idealbildes von Kirche« (198), auch die defizitäre Berücksichtigung des göttlichen Geistwirkens, das die Kirche zu einer gewaltfreien und herrschaftsrelativierenden Gemeinschaft formt (199), zu beobachten sind. E. ist mit diesem Abschnitt die beste Analyse der Friedenstheologie gelungen, die John H. Yoder auf originelle, aber auch recht selbstbewusste Weise ins Gespräch gebracht und mit der er die ökumenische Bewegung kritisch begleitet hat: »die Ökumene verdankt ihm die Gesprächsfähigkeit der friedenskirchlichen Position« (200).

Im vierten und fünften Abschnitt werden die ökumenischen Gespräche (vor allem der frühe Austausch mit dem Weltkirchenrat, die Puidoux-Konferenzen und die Stellungnahmen der Friedenskirchen zu den Konvergenzerklärungen von Lima [1982]) genauer in Augenschein genommen und die bilateralen Gespräche mit Baptisten, Reformierten, Lutheranern und Katholiken nach dem Ineinander von Friedenszeugnis und Ekklesiologie befragt. In beiden Bereichen muss sich die Dialogfähigkeit der friedenskirchlichen Position erweisen. In beiden Bereichen kann sie auf ein Echo rechnen, in beiden wird sie aber auch bereit sein müssen, sich hier und da korrigieren zu lassen.

Diese Dissertation ist eine beachtenswerte Bestandsaufnahme der Probleme, die sich mit der Beteiligung der historischen Friedenskirchen am ökumenischen Gespräch für beide Seiten gestellt haben. Im Schlussabschnitt fasst E. die wichtigsten systematischen Ansatzpunkte zusammen, die eine Fortsetzung dieses Gesprächs auf dem gemeinsamen Weg zu einer werdenden Kirche (Ekklesiogenese) bestimmen werden: Koinonia, Leiturgia, Diakonia, Martyria und Ecclesia viatorum (306­324). Hier werden die ersten Umrisse eines eigenen Entwurfs von »Friedenskirche in der Ökumene« sichtbar ­ mehr nicht. Um eine friedenskirchliche Ökumene-Theologie neu ansetzen zu können, hat sich diese Mühe aber gelohnt. Hier zeigt sich allerdings auch, dass die trinitarisch begründete Koinonia, die den Beziehungen der göttlichen Personen in der immanenten Trinität (Perichorese) nachgebildet ist, das Friedensmodell Yoders stark verändert und dass die Identität der Friedenskirche heute weniger im friedfertig-separatistischen Täufertum allein, an dem sich Yoder orientierte, als in der Zukunft ökumenischer Begegnung zu suchen ist. Nur so hätte es einen Sinn, den Akzent auf die Ekklesiogenese zu legen. Leider ist bisher nicht genügend darüber nachgedacht worden, was denn an dem Modell Yoders noch bleibt und ob der unentwegt kritisch beschworene Konstantinismus der Großkirchen den friedenskirchlichen Nonkonformismus nicht zu sehr auf den etatistischen Bereich einengt und die Beziehung des Friedenszeugnisses auf soziale Gerechtigkeit, global ausgreifenden Kapitalismus, Armut und Ökologie nicht vernachlässigt werden, wo der Friede heute vor allem und zuerst wohl auf dem Spiel steht. Hier käme Gordon D. Kaufmans »In Face of Mystery. A Constructive Theology« (1993) stärker zur Geltung, und hier könnte zusätzlich an andere, komplexere Traditionen im Täufertum angeknüpft werden: auch an mystische, apokalyptische, sozialrevolutionäre und kommunitäre Traditionen. Der Akzent wird nicht allein auf eine christliche, sondern ebenso auf eine säkulare Sozialethik gelegt werden müssen, denn das Problemfeld der säkularen Sozialethik ist auch das Feld, auf dem sich christliches Verhalten zu bewähren hat.