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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

96-98

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wolff, Jürgen:

Titel/Untertitel:

Zeit für Erwachsenenbildung. Evangelische Erwachsenenbildung zwischen Zeit-Diagnosen und Frei-Zeit-Bedürfnissen.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2005. 314 S. gr.8° = Arbeiten zur Religionspädagogik, 27. Geb. EUR 44,90. ISBN 3-89971-165-3.

Rezensent:

Friedrich Schweitzer

Kennzeichnend für diese Bamberger Dissertation, angefertigt unter der Anleitung von Rainer Lachmann, sind zwei Ausgangspunkte: zum einen die langjährigen praktischen Erfahrungen des Vf.s, die ein besonderes, in der Arbeit immer wieder ausdrücklich zur Geltung gebrachtes Interesse am »Theorie-Praxis-Dialog« bedingen, zum anderen die Doppelfrage nach »gesellschaftlichen Zeitdiagnosen« und nach »individuellen Freizeitbedürfnissen«, jeweils in ihrer spezifischen Bedeutung für die Erwachsenenbildung. Zugleich verleiht die Anlage der Darstellung dem Buch den Charakter eines kleinen Kompendiums, in dem eine zwar im genannten Sinne perspektivierte, aber doch recht umfassende Einführung in Fragen der evangelischen Erwachsenenbildung geboten wird.

Die Abfolge der sieben Kapitel verdeutlicht diese Charakterisierung: Auf die ausführlichen »terminologischen Klärungen« (21­45) folgt eine »persönliche Zwischen-Bilanz« (47­58). Der »historische Rückblick« (59­95) lässt die gesamte Zeit seit den Anfängen der modernen Erwachsenenbildung in der Aufklärungszeit bis 1945 Revue passieren ­ in einer Art kursorischer Lektüre, die die Erwachsenenbildung als »Signatur ihrer Zeit« erweisen und damit den Anschluss für die im vierten, fünften und sechsten Kapitel vertiefte Frage nach »Zeitdiagnose und Freizeit« (97­263) herstellen soll. Am Ende steht ein Kapitel zum Ertrag ­ in Gestalt des Versuchs einer eigenen Synthese (265­302).

Die als materialer Hauptteil anzusprechenden Kapitel 4­6 bieten jeweils knappe und übersichtlich gehaltene Referate: zu Modellen der evangelischen und zum Teil auch der katholischen Erwachsenenbildung (Ernst Lange, Christoph Meier, Volker Weymann, Gottfried Orth, Hans-Joachim Petsch, Thomas Bornhauser, katholisch: Berthold Uphoff, Martina Blasberg-Kuhnke, Rudolf Englert), zu unterschiedlichen Zeitdiagnosen (Ulrich Beck: »Risikogesellschaft«, Gerhard Schulze: »Erlebnisgesellschaft«, Peter Gross: »Multioptionsgesellschaft«, Wilhelm Heitmeyer: »Gesellschaftliche Desintegration«, Ortfried Schäffter: »Transformationsgesellschaft« ­ jeweils in kritischer Diskussion und mit besonderer Beachtung möglicher Erträge und Anschlussperspektiven für die evangelische Erwachsenenbildung) sowie zur Freizeitforschung (besonders zu dem ­ vom Vf. stark kritisierten ­ Horst W. Opaschowski und zu Wolfgang Nahrstedt).

Innovativen Charakter gewinnt die Untersuchung vor allem im Blick auf die Auseinandersetzung mit den genannten Zeitdiagnosen, die für die Erwachsenenbildung in mehrfacher Hinsicht relevant sind: »Erwachsenenbildung verläuft nicht unabhängig und losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen. In Theorie und Praxis reflektiert sie zeitgenössische gesellschaftliche Entwicklungen und ist zugleich eine Funktion eben dieser Gesellschaft«. Dies soll und muss auch Konsequenzen für die Praxis haben:

»Eine schlüssige Analyse der Gegenwart wird daher zu einer eminent wichtigen Aufgabe für die Theoriediskussion und die Praxis der Erwachsenenbildung: auf der Ebene der Theoriediskussion, weil gesellschaftliche, politische und kulturelle Gegebenheiten den Rahmen abgeben, innerhalb dessen sich Erwachsenenbildung erst entfalten kann; auf der Ebene der Praxis, weil die strukturellen Vorgaben mit einer Freiwilligkeit der Teilnahme eine Maßnahme nur dann zur Durchführung reifen lassen, wenn Fragen gestellt werden, die Menschen heute bewegen und bei deren Beantwortung sie sich eine Hilfe durch organisierte Š Lernprozesse erhoffen« (201 f.).

In der Auseinandersetzung mit Zeitdiagnosen sowie mit der Entwicklung von Freizeitbedürfnissen klärt sich die Erwachsenenbildung selbst über ihre Bedingungen auf, gewinnt Orientierung für die Praxis und verschafft sich die Grundlage für eine Bildungsarbeit als Aufklärung hinsichtlich des gesellschaftlichen bzw. globalen Wandels. Eine mehrfach genannte Konkretion stellt etwa die Herausbildung neuer Freizeit- und Bildungsbedürfnisse von Menschen jenseits der Erwerbsarbeit dar, auf die sich die Erwachsenenbildung in der Zukunft vermehrt einstellen müsse. Weitere Beispiele betreffen institutionelle und ökonomische Veränderungen der Erwachsenenbildung selbst sowie eine veränderte Didaktik, die den Herausforderungen der Gegenwart gerecht wird.

Das flüssig geschriebene Buch ist durchweg informativ und in den zahlreichen Referaten klar und verlässlich. Der sehr weitgespannte thematische Rahmen bedingt allerdings eine Art Vogelperspektive, die vor allem den historischen und zeitdiagnostischen Deutungen des Vf.s einen stark hypothetischen Charakter verleiht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wie etwa die Situation der Nachkriegszeit die Erwachsenenbildung nach 1945 bedingte und bestimmte (101­104), das wäre in zeitdiagnostischer Perspektive erst genauer zu untersuchen. Ähnliches gilt, gerade angesichts des immer wieder beklagten Forschungsstandes in der Erwachsenenbildung, auch für andere Zeitlagen.

So besteht der Gewinn der Darstellung vor allem darin, dass mit der Doppelfrage nach Zeitdiagnosen und sich historisch wandelnden Gestalten von Freizeit eine Reflexionsperspektive markiert wird, die nun in weiteren Untersuchungen aufzunehmen wäre.