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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

52-54

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Peppermüller, Rolf [Hrsg.]:

Titel/Untertitel:

Anonymi auctoris saeculi XII. Expositio in epistolas Pauli (Ad Romanos ­ II Ad Corinthios 12).

Verlag:

Münster: Aschendorff 2005. XX, 449 S. gr.8° = Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Neue Folge, 68. Kart. EUR 60,00. ISBN 3-402-04019-0.

Rezensent:

Volker Leppin

Seit Jahren forscht Rolf Peppermüller über die Paulusexegese im Umfeld Petrus Abaelards. Mit der vorliegenden Edition stellt er der Forschung einen Text zur Verfügung, der, anonym überliefert, wohl aus der zweiten Reihe der Pariser Theologie des 12. Jh.s stammt und gerade dadurch von hohem Interesse ist.

Der Kommentar zu den Paulusbriefen, der mit der Behandlung von 2Kor 10,12 abbricht, ist in drei Handschriften überliefert. P. beschreibt sie in er Einleitung und legt die älteste, den noch aus dem 12. Jh. stammenden Codex Vaticanus Ottobonianus lat. 445, der Edition zu Grunde, wobei er sich weitgehend auch an der Orthographie dieser Handschrift orientiert. Die beiden anderen hat er nicht nur durch den textkritischen Apparat erschlossen, sondern macht sie auch in der Weise erkennbar, dass er in Marginalnotizen des kritischen Textes die Foliierung der Handschriften angibt, was insbesondere den Umgang mit der bisherigen Literatur erleichtert. Neben dem textkritischen Apparat dient ein umfangreicher, aber nicht überladener Quellenapparat der reichhaltigen Erschließung der Zitate und Parallelformulierungen. Das Ausmaß der vom Editor zu Rate gezogenen Quellen wird durch das umfangreiche Autoren- und Quellenverzeichnis in den Anhängen deutlich (346­381).

P. hat sich entschieden, dieses Verzeichnis getrennt von einem entsprechenden Register aufzuführen, wohl um in dem Register bei reichlich angeführten Autoren nicht eine Aufschlüsselung nach Einzelschriften vornehmen zu müssen. Diese Entscheidung ist allerdings nachvollziehbarer als die, dass bei besonders häufig zitierten Autoren im Register nur »passim« aufgeführt wird: Wer etwa nach der Verwendung Hugos von St. Viktor schauen will, wird so dazu gezwungen, den kompletten Quellenapparat des Werkes durchzumustern. Auch andere Entscheidungen bei der Registererstellung leuchten nicht unbedingt ein: Die Unterscheidung eines Sach- und Namenregisters von einem systematischen Register ist so kaum strikt operationalisierbar und führt letztlich zur Notwendigkeit mehrfachen Nachschlagens. Umfassend und sehr nützlich ist wiederum das Bibelstellenregister.

Doch sind solche Registerfragen ja letztlich arbiträr, und so oder so kommt man mit eifrigem Gebrauch in dieser ausgezeichneten Edition an sein Ziel. Wer sich allerdings nur grob über den Text informieren will, erfährt nicht viel Hilfe: Die einleitenden Bemerkungen umfassen einschließlich des vierseitigen Abkürzungsverzeichnisses nicht mehr als 20 Seiten und sind insbesondere, was die Einordnung des Autors angeht, äußerst dürftig: Dass der Autor nicht vorschnell namentlich identifiziert wird (XII), spricht für die Vorsicht des Editors. Die Begründung der Zugehörigkeit zum Umfeld Roberts von Melun und die Annahme, dass der Autor »Hugo von St. Viktor noch persönlich gehört hat« (ebd.), kann man einem so kenntnisreichen Spezialisten für diese Epoche Pariser Theologie auch durchaus glauben ­ aber eine etwas genauere Abwägung der für diese Einordnung leitenden Argumente hätte weiter geholfen. So bleibt zu hoffen, dass P. diese Ausführungen durch eigenständige Studien ergänzt und so zur besseren Erschließung des Textes beiträgt.

Das würde sich auch deswegen lohnen, weil dieser durchaus trotz seiner Anonymität von einigem Gewicht ist. Er hat die wohl an Abaelard angelehnte Form eines von systematischen Exkursen durchsetzten Schriftkommentars und gibt so einen intensiven Einblick in die theologischen Diskussionen in Paris zur Entstehungszeit. Wohl der größte theologiegeschichtliche Gewinn dieser kritischen Edition ist, dass ein Exkurs zur Christologie, der bislang in der entsprechenden Forschung übersehen wurde, weil er in der meist benutzten Handschrift fehlt, nun dem Text zugeordnet wird. Darin äußert sich der Anonymus zu der Frage, ob die Verbindung Christi mit der Menschheit eher ­ in der seinerzeit modernen Terminologie ­ im Sinne eines Habitus zu interpretieren sei oder im Sinne einer, die Intensität der Verbindung stärker betonenden, assumptio (14­27) ­ er entscheidet sich mit der Tradition für diese zweite Möglichkeit und zeigt dabei zugleich, wie in einer dogmengeschichtlich so relevanten Frage dogmatische und häresiologische Schemata der Kirchenväterdiskussion neu aufleben und angewandt werden konnten.

Auch andere Exkurse verdienen das Interesse der Forschung, etwa der zur Erbsünde (113­119) oder zur Eucharistie (309­316). Doch wäre es bedauerlich, wenn dieser bemerkenswerte Text nun nur als Steinbruch für dogmenhistorische Abhandlungen ausgewertet und damit in seinem Eigencharakter unterschätzt würde. Was hier vorliegt, ist ein Ausschnitt aus der Werkstatt der Theologen des 12. Jh.s. Die gründlichen Zitat- und Parallelennachweise, die P. vorgenommen hat, ermöglichen es, den intellektuellen Horizont eines Denkers jener Zeit nachzuvollziehen, der natürlich zum einen tief in den biblischen Texten verankert ist, zum anderen aber vor allem auch redlich die Lehre der Kirchenväter fortführen will: Augustin wird in dem Text auf 345 Druckseiten mehr als 120 Mal aufgegriffen! Aus der zeitgenössischen theologischen Literatur aber scheint der Autor zu nutzen, was im Schwange ist: Er bezieht sich auf Abaelard ebenso wie ­ allerdings häufiger ­ auf Hugo von St. Viktor, auf die Bibelkommentierung der Schule von Laon ebenso wie auf die entstehende Kanonistik. Dabei handelt es sich keineswegs um eine undifferenzierte Eklektik. Die dogmatischen Entscheidungen können scharf erfolgen ­ aber es erscheint doch das Bild der intellektuellen Atmosphäre in Paris ein halbes Jahrhundert vor dem Zusammenschluss der dortigen Schulen zur Universität. Schon dieser anonyme Bibelkommentar zeigt die Dichte theologischer Kommunikation, die Intensität des Austauschs und des Bemühens um Verstehen der christlichen Botschaft im Horizont des biblischen Textes und im Gespräch mit den seinerzeit modernen dialektischen Methoden auf. Er stellt damit einen wichtigen Mosaikstein für die Rekonstruktion der theologischen Debatten des 12. Jh.s dar.