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Ausgabe:

Januar/2007

Spalte:

17-20

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Campiche, Roland J.:

Titel/Untertitel:

Die zwei Gesichter der Religion. Faszination und Entzauberung.

Verlag:

Unter Mitarbeit von R. Broquet, A. Dubach u. J. Stolz. Aus d. Französischen übers. v. E. Mainberger-Ruh (ausgenommen Kap. 2 u. 4). Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2004. 395 S. m. Abb. u. Tab. 8°. Kart. EUR 30,00. ISBN 3-290-17337-2.

Rezensent:

Wilhelm Gräb

Nachdem 1992/3 erstmal eine den EKD-Mitgliedschaftsuntersuchungen vergleichbare Studie zur religiösen Lage in der Schweiz erschienen war (vgl. Campiche u. a., Croire en Suisse[s], Dubach/Campiche [Hrsg.], »Jede[r] ein Sonderfall?«, 1993; erarbeitet auf der Basis des Datenmaterials von 1989), liegt mit diesem Band ca. 10 Jahre später erneut eine auf die Schweiz bezogene religionssoziologische Analyse vor ­ erarbeitet auf der Basis des Datenmaterials von 1999. Dieses Projekt empirischer Religionsforschung wurde erneut von dem inzwischen emeritierten Religionssoziologen an der Universität Lausanne Roland J. Campiche geleitet. An der Auswertung des Datenmaterials wirkten außerdem Jörg Stolz mit, der Nachfolger C.s auf dem Lehrstuhl für Religionssoziologie in Lausanne und Genf, sowie der Psychologe Raphael Broquet. Vor allem hat erneut Alfred Dubach, der Direktor des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts in St. Gallen dafür gesorgt, dass die Interpretation der Ergebnisse der auf die ganze Schweiz bezogenen Befragung auch die Verhältnisse in den deutschsprachigen Kantonen hinreichend im Blick behielt.

Die Beiträge von C. (vor allem Kapitel 1, Religion in der Spätmoderne, 17­52, sowie Kapitel 7, schließlich die Schlussfolgerungen, 273­286) sowie das große Kapitel von Dubach (4. Kapiel, Unterschiedliche Mitgliedschaftstypen in den Volkskirchen, 273­286) schenken dem Vergleich zwischen den Daten von 1989 und von 1999 besondere Aufmerksamkeit. Sie wollen Trends beschreiben und fragen danach, ob sich in diesen 10 Jahren signifikante Veränderungen in den religiösen Einstellungen bzw. im religiösen Verhalten der Schweizer Bevölkerung ergeben haben. Beiden ist mit dieser Nachfolgestudie ebenfalls daran gelegen, einem Missverständnis zu begegnen, das sich offensichtlich allein schon durch den deutschen Titel der Vorgängerin »Jede(r) ein Sonderfall?« einstellen konnte. C. und Dubach beklagen, dass man das Fragezeichen im Titel der Studie von 1992/3 vielfach übersehen und unzulässige Rückschlüsse auf eine radikale Individualisierung und Privatisierung der Religion gezogen, schließlich sogar die Gleichsetzung der Individualisierung mit einer Zunahme von religiöser Autonomie, individueller Freiheit und persönlichem Entscheidungsbewusstsein betrieben habe.

C. und Dubach wollen daher in diesem Nachfolgeband mit vereinten Kräften zeigen, dass sich zwar eine zunehmende Individualisierung und Privatisierung der Religion durchaus feststellen lässt. Das zeige sich daran, dass die religiösen Institutionen, insbesondere die großen Kirchen, die kanonische Definitionsmacht über gültige religiöse Vorstellungen und richtiges religiöses Verhalten stark eingebüßt hätten. Gewissermaßen im Gegenzug lasse sich jedoch ebenso erkennen, dass neue Standardisierungen religiöser Einstellungslagen und typische Muster religiösen Verhaltens hervorträten, die die religiösen Beziehungen der Individuen in soziale Verhältnisse und Vermittlungszusammenhänge einbänden. Auch die Religion der deinstitutionalisierten Individuen sei wiederum sozial vermittelt und konstruiert. Die sog. Individualisierungsthese dürfe jedenfalls nicht mit einem Zuwachs an Autonomie, Selbstverwirklichung und personaler Authentizität gleichgesetzt werden. Nicht zutreffend sei auch die in populären theologischen und kirchlichen Texten immer wieder verbreitete Meinung, dass die Individuen heute sich ihre Religion auf dem Markt der Religionsanbieter frei wählen und selbst zusammenschustern würden. Wie schon in der Studie 1992/3, so sei auch jetzt wieder festzustellen, dass einerseits die Zugehörigkeit zu einer der beiden großen Kirchen die dominante Sozialform der Religion bleibe, die Rede von der Privatisierung der Religion zwar eine mächtige Vorstellung, aber keine soziale Realität ausdrücke, andererseits sich im Rahmen der (zahlenmäßig durchaus rückläufigen Kirchenmitgliedschaft) unterschiedliche Mitgliedschaftypen und generalisierungsfähige Formen des Religiösen herausgebildeten hätten, die ohne Zweifel den Individuen in offenen volkskirchlichen Verhältnissen größere Spielräume zur Gestaltung ihrer religiösen Beziehungen eröffnen würden.

C. differenziert im 1. Kapitel (17­52) die Individualisierungsthese deshalb dahingehend, dass er von der »institutionellen Religion« eine »universale Religion« unterscheidet. Richtig bleibe, wie bereits 1992/3 in »Jede(r) ein Sonderfall?« festgestellt, dass die religiösen Verhältnisse auch in der Schweiz sich nicht mehr nach Maßgabe der offiziellen kirchlichen Lehr- und Lebensauffassungen beschreiben lassen. Nach ihrem religiösen Glauben befragt, würden vielmehr erhebliche Abweichungen vom christlichen Glaubensbekenntnis und den kirchlich-religiösen Verhaltensnormen sichtbar. Auch die kirchlich Distanzierten gehorchten freilich, wie die institutionell kirchlich Gebundenen, allgemeinen, standardisierten ethisch-religiösen Orientierungsvorgaben. Diesbezüglich führt C. die Unterscheidung zwischen institutionellen und universalen Standards ein. Die institutionellen Standards sieht er im Gottesdienst- oder Messbesuch, in der Bindung an eine Kirchgemeinde, im Primärbezug auf das Christentum und im Widerstand gegen die Privatisierung der Religion verwirklicht. Sie gelten als die maßgeblichen Größen der institutionellen, kirchlichen Religion, unter der Bedingung freilich, dass sich die kirchlich gebundenen Individuen dann auch an ihnen orientieren. Die universalen Standards identifiziert C. demgegenüber in der Berufung auf die Menschenrechte, der Anerkennung der Existenz einer höheren Macht, der Auffassung der Religion als Privatsache und der Akzeptanz des Gebets als Ausdruck der Spiritualität des Einzelnen. Mit der Unterscheidung zwischen institutionellen und universalen Standards möchte C. die religiösen Transformationen in der Spätmoderne kategorialen Beschreibungen zuführen, die sowohl die Missverständlichkeiten der Individualisierungsthese wie dann auch solche der Säkularisierungsthese überwinden könnten.

»Säkularisierung« meint nach C. allenfalls einen Rückgang kirchlicher Bindung, somit der »institutionellen Religion«. Man könne aber nicht davon ausgehen, dass im gleichen Maße normative religiöse Orientierungen überhaupt zerfielen. So beschreibt C. Momente eines religiösen Wandels, die er mit der Rede von der »Dualisierung der Religion« bzw. den »zwei Gesichtern der Religion« zu konturieren versucht. Wo die Standards der »institutionellen Religion« ihre normative Kraft einbüßen, setzten sich ­ vor allem vermittelt durch die Massenmedien ­ die Standards der »universalen Religion« durch, ohne dass diese beiden Religionsformen sich ausschließend zueinander verhalten müssten. Im Trend liege allerdings die universale Religion. Sie habe seit der Erhebung 1989 deutlich an »Faszination« gewonnen, während die »Entzauberung« weiter auf das Konto der »institutionellen Religion« gehe.

Dubach bekräftigt in seinem Beitrag (129­178) ebenfalls das Fragezeichen im Titel der Studie von 1992/3 »Jede(r) ein Sonderfall?«. Er macht darauf aufmerksam, dass auch schon 1992/3 von »struktureller Individualisierung« die Rede gewesen sei, keineswegs davon, »dass fortan jeder Mensch nach seinem Gusto seine Religiosität entwirft« (131). Dubach insistiert gleichermaßen auf dem Sachverhalt, dass die Individualisierungsthese zwar keineswegs falsch sei, aber eben als Hinweis auf einen unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne anderen Modus der Vergesellschaftung der Individuen verstanden werden muss. Auszugehen sei in der Tat nicht mehr von »kollektiver Einbindung« ins Sozialgefüge, sondern es sei beim Individuum anzusetzen. (132) Die Individuen seien unter den Bedingungen der modernen Kultur in der Tat in der Lage, sich zu religiösen Gemeinschaftskreisen und Vorstellungsgehalten nach je eigener Überzeugung wählend zu verhalten. Aber dabei dürfe eben nicht übersehen werden, dass sie mit ihren religiösen Einstellungen und in ihrem religiösen Verhalten zugleich doch wieder transindividuellen, sozialen Strukturbedingungen unterlägen. Diese ließen sich nach bestimmten Typisierungen und in Entsprechung zu habitualisierten Verhaltensformen unterscheiden. Diese habitualisierten religiösen Verhaltensformen begründeten wiederum unterschiedliche kirchliche Bindungsverhältnisse.

In Dubachs Interpretation der empirischen Daten kommt heraus, dass sich lediglich die kirchlichen Bindungsverhältnisse differenzieren, die religiösen Beziehungen der Individuen aber nach wie vor weitgehend eben in die Kirchen und religiösen Gemeinschaften eingebunden sind. Die Form der traditionellen, normativ-sozialen Einfügung in die Kirchen sei zwar rückläufig. Dem stehe aber nicht die Individualisierung der religiösen Verhältnisse im Sinn des Zwangs zur Selbstvergewisserung und zum Entscheidenmüssen gegenüber, sondern es träten andere Formen der Bindung an die Kirchen hervor. Dubach unterscheidet von der »normativ-sozialen Bindung« an die Kirche, die »Bindung aus Selbstinteresse«, die »selbstbestimmte Bindung«, und die »werttransformierende Bindung«. Alle diese Bindungsformen bzw. kirchlichen Mitgliedschaftsmotive trügen zum Fortbestand dessen bei, was C. die »institutionelle Religion« nennt. Dubach stellt allerdings ebenso fest, was dann wiederum den Individualisierungstrend belegt, dass ein Rückgang der »normativ-sozialen Bindung« zu verzeichnen sei, »die Mitgliedschaft in der Kirche nicht mehr eine fraglose Folge persönlicher Lebensumstände ist, sondern heute zur Disposition steht und frei gewählt werden kann« (138).

Im Wesentlichen zeigt Dubach freilich, dass die kirchliche Religion eine noch einmal erheblich in sich selbst differenzierte Religionsform darstellt. Es seien nicht nur vier verschiedene, habitualisierte Mitgliedschaftsmotive, sondern auch vier verschiedene, habitualisierte Mitgliedschaftstypen zu verzeichnen, die zudem im Vergleich der beiden Datenmengen von 1989 und 1999 eine enorm hohe Stabilität aufwiesen (vgl. Tabelle auf S. 139). Die höchsten Prozentzahlen verzeichnet der »rituelle Typ mit loser Kirchlichkeit«, also die aus den EKD-Mitgliedschaftsuntersuchungen bekannte Kasualkirchlichkeit. Der »institutionelle Typ«, der »rituelle Typ mit hoher Kirchlichkeit« und der »generalisierte Typ« sind allerdings auch nicht unerheblich und jeweils etwa gleich stark vertreten. Deutlich wird, dass auch die von C. der »institutionellen Religion« entgegen gesetzte »universale Religion« ebenfalls im Kontext der kirchlich institutionalisierten Religion gelebt werden kann.

Dubach kommt abschließend zu dem Fazit, dass die Untersuchungsergebnisse von 1999 gegenüber 1989 zeigen, »dass die Mitgliedschaftstypen sich im Kern erhalten und sich ihre prozentualen Anteile in der Bevölkerung kaum verändert haben« (172). In der »Offenheit für unterschiedliche Mitgliedschaftstypen« (172) existiere die Volkskirche somit fort, auch wenn sie aufgehört habe, eine homogene Einheit zu sein. »Sie besteht gleichzeitig aus mehreren Kirchen: aus einer Bekenntniskirche, Ritualkirche und Sozial-/Kulturkirche mit milieuspezifischen Einfärbungen« (173). Allerdings leide die institutionelle Bindungskraft der Kirche doch zunehmend darunter, dass sie zu einseitig mit einem bestimmten Milieu, dem »kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu«, das von der Modernisierung der Gesellschaft marginalisiert werde, verflochten sei (173).

Die übrigen Kapitel des Buches zu »Religion und Sozialstruktur« von Jörg Stolz (53­88), zu »Heranbildung und Gebrauch des Glaubens« (89­128), »Religion ­ eine Privatsache?« (179­234) und »Keine Religion ohne Überlieferung« (235­272), über die hier nicht mehr im Einzelnen zu berichten ist, arbeiten die Grundthese weiter aus, dass es einem gravierenden Missverständnis der ansonsten berechtigten Rede von der Individualisierung der Religion gleichkomme, wenn man Individualisierung gegen Universalisierung sowie gegen die Bindung der Religion an Tradition, Kirche, Familie und religiöse Gemeinschaft meint ausspielen zu müssen. Das ist denn auch im Wesentlichen das Verdienst dieser Studie, dass sie auf der Basis empirischen Materials die Individualisierung der Religion nicht schlicht bestreitet, sondern für ein angemessenes Verständnis dieser für die Moderne der Religion kennzeichnenden Entwicklung eintritt.