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Ausgabe:

Juli/August/2003

Spalte:

703–716

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Förster, Till

Titel/Untertitel:

Victor Turners Ritualtheorie

Eine ethnologische Lektüre

Victor Turner (1920-1983) gehört nicht nur zu den anerkanntesten Religionsethnologen des 20. Jahrhunderts, seine Ritualtheorie hat auch eine ganze Reihe von Nachbarwissenschaften beeinflusst. Darüber hinaus gehört sein Hauptwerk über das Ritual1 zu den ganz wenigen religionsethnologischen Schriften, die auch außerhalb der akademischen Disziplinen Wirkung entfaltet haben. Eine Recherche im Internet ergibt heute, im Jahr 2001, mehr als 3000 Einträge zu Victor Turner. Die meisten davon beziehen sich auf seine Ritualtheorie, und viele wiederum auf das, was sie für unsere, die modernen Industriegesellschaften bedeuten könnte. Obwohl Turners Ritualtheorie in der Ethnologie wie in der vergleichenden Religionswissenschaft immer kontrovers diskutiert wurde, war sie seit gut zwanzig Jahren Gegenstand eines unvergleichlich einflussreichen Diskurses. Den Gründen hierfür geht dieser Artikel nach, der danach fragt, welche Anknüpfungspunkte Victor Turners Ritualtheorie zwanzig Jahre nach seinem Tod bietet.

Ursprünge der Ritualtheorie von Victor Turner: Das soziale Drama

Die Anfänge der Ritualtheorie Victor Turners lassen sich bis zu seinen ersten Feldforschungen bei den Ndembu im nordwestlichen Sambia, damals Nordrhodesien, zurückverfolgen. Die beiden zwischen Dezember 1950 und Juni 1954 durchgeführten Aufenthalte waren einem klassischen Thema der Sozialanthropologie gewidmet. Turner wollte die soziale Integration der Ndembu-Dörfer studieren. Er stellte fest, dass die soziale Organisation der Ndembu die Entstehung von Konflikten nicht hemmte, sondern nachgerade förderte. Immer wieder mussten die ständig aufbrechenden Auseinandersetzungen geschlichtet werden. Dementsprechend war seine Dissertation, die aus den
beiden Aufenthalten hervorging, "a study of social conflict" und der Möglichkeiten, diese zu reduzieren oder zu lösen.2



Doch bereits in seiner Dissertation entwickelt Turner ein eigenes Konzept, mit dem er sozialen Wandel und zugleich die persönliche Erfahrung der Akteure begreifen und darstellen kann. Die Prozesse, die sich ständig vor seinen Augen vollzogen, nennt er "soziale Dramen."3 Am Anfang eines solchen Dramas steht immer ein mehr oder weniger verdeckter Bruch in der sozialen Struktur, der sich schließlich zu einer offenen Krise steigert. Je nach den besonderen Umständen und den Interessen der einzelnen Akteure kann eine solche Krise zu verschiedenen sozialen Dramen führen: Neben politischen und rechtlichen Prozessen (die wir geneigt sind, als die eigentlichen Prozesse zu bezeichnen) gibt es eine ganze Reihe ritueller Prozesse. In seiner Dissertation geht Turner noch nicht besonders auf sie ein, sondern ordnet sie den politischen und rechtlichen Prozessen unter. Wichtig ist ihm immer der zeitliche Charakter aller Konfliktlösungsstrategien, und damit auch der rituellen Prozesse. Dabei steht das Ergebnis keineswegs fest. Nicht immer steht die Reintegration am Ende eines solchen Prozesses. Soziale Dramen können durchaus zur Anerkennung unwiderruflicher Brüche in der dörflichen Gesellschaft führen (siehe Illustration).

Liminalität

Victor Turners Ritualtheorie baut im Wesentlichen auf einer Grundannahme und zwei analytischen Konzepten auf: Erstens erkennt er an, dass Rituale immer einen prozesshaften Charakter haben und demzufolge aus einer zeitlichen Perspektive untersucht werden müssen. Die beiden analytischen Konzepte sind eng miteinander verknüpft und gehen in wichtigen Teilen auf die Arbeiten des Ethnologen Arnold van Gennep zurück. Van Gennep hatte bereits 1909 (van Gennep 1909 [1986]) beschrieben, dass Passageriten - also solche Riten, die den Status eines Menschen verändern - immer nach demselben Schema organisiert sind. Der Trennung von der alltäglichen Umge-
bung, dem Separationsritus, folgt eine Phase der Isolierung, die Seklusion, an die sich nach mehr oder weniger langer Zeit schließlich die Wiedereinführung in den Alltag und die Gesellschaft anschließt.

Turner folgt van Genneps Modell und erkennt drei Phasen in Ritualen. Besonders wendet er sich der mittleren Phase zu, die er als "liminal" bezeichnet. Sie liegt gleichsam zwischen den Zeiten. Wer einen Passageritus durchläuft, ist dann nicht mehr die Person, die er oder sie früher war, aber auch noch nicht die Person, die er oder sie später, nach Abschluss des Ritus sein wird. Es ist ein zweideutiger "no longer/not yet" Status, in dem die Initianden zum Beispiel nicht mehr Kinder, aber auch noch nicht Erwachsene sind.4 In dieser Phase des Ritus lässt sich, so Turner weiter, von "liminal personae" sprechen. Sie sind "... neither here nor there; they are betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention ..." (Turner 1969: 95, siehe Illustration).

Soweit folgt Turner noch eng der Analyse van Genneps. Später erkennt er aber das gleiche Prinzip auch dort am Werke, wo solche sozialen Positionen nicht in dem engen Korsett von Riten gefangen sind. Liminale Riten sind auf einfache Gesellschaften beschränkt. In anderen, stärker differenzierten Gesellschaften entwickeln sich ähnliche Phänomene am Rande der Gesell-
schaft. Um sie von den ersten zu unterscheiden, nennt Turner sie liminoid. Sie entstehen außerhalb der normativen ökonomischen, sozialen und politischen Zwänge, kurz: dort, wo die sozialen Strukturen ihre Verbindlichkeit verlieren. Und von diesem Rande der Gesellschaft können sie auf deren Zentrum zurückwirken. Sie eröffnen die Möglichkeit, über all das, was als selbstverständliche, alltägliche Struktur erscheint, neu nachzudenken. Oft münden sie in eine soziale Kritik der bestehenden Verhältnisse. Als Beispiele nennt Turner das Theater, den Sport oder auch die Literatur- und Kunstszene.

Communitas

Eng verknüpft mit dem Konzept der Liminalität ist das der communitas. Wie Liminalität setzt es voraus, dass Riten vor allem als Prozesse gedacht werden, die die beteiligten Individuen verändern, sogar existentiell verändern. Insofern knüpft auch dieses Konzept an Turners erstes, das des sozialen Dramas an. Auch dort werden Individuen verändert. Doch wendet sich communitas nun nicht mehr der integrativen Leistungen des Rituals zu, vielmehr geht es Turner hier um die Erfahrung, die die Beteiligten im Verlauf der Riten machen. Sie ist entscheidend, und nur durch sie gewinnen Riten ihre transformatorische Kraft. In der Tat unterscheidet Turner Ritual und Zeremonie entlang dieser Bedingung. Findet keine Transformation statt, werden also die Teilnehmer während einer formal regulierten Handlung nicht verändert, handelt es sich nicht um einen Ritus, sondern um eine Zeremonie. Im Gegensatz zu Ritualen, die immer die Möglichkeit einer Veränderung der Teilnehmer und ihrer sozialen Position böten, seien Zeremonien bloß affirmativ. Sie bestätigten nur eine gegebene soziale Konfiguration, hätten aber weder das Ziel noch die Kraft, diese umzuformen.

Wenn aber Rituale nur durch die Erfahrung, die die Beteiligten im Verlauf der rituellen Handlungen machen, wirken können, so kommt es vor allem darauf an, diese Erfahrung näher zu beschreiben und zu bestimmen. Turners erste Referenz sind wieder die Ndembu. Von der afrikanischen Gesellschaft ausgehend verallgemeinert er dann und entwirft eine universelle Typik ritueller Erfahrung, die so disparate Beispiele wie die Hippie-Bewegung der 1960er Jahre, den mittelalterlichen Franziskaner Orden oder das Schreiben in der modernen westlichen Literatur miteinander verknüpft.5

Explizit entwickelt Turner das Konzept der communitas 1969 in seinem ohne Zweifel einflussreichsten Buch The Ritual Process. Von der Sache her ist es aber bereits in seinem schon ausführlich erwähnten Aufsatz Betwixt and Between von 1964 angesprochen. Um sein Konzept der Liminalität zu veranschaulichen, weist Turner auf ein Faktum hin, das in der Sozialanthropologie seit langem bekannt war und zum Standardwissen der Religionsethnologie gehört: Während der liminalen Phase von Ritualen werden alle Beteiligten, d. h. die "rituellen Subjekte" gleich behandelt - genauer gesagt werden sie derselben Autorität unterworfen. So unterstehen in den rites de passage der Ndembu alle Jungen gleichermaßen der Autorität der Alten, bzw. der der Angehörigen der über den Neophyten stehenden Altersklasse. Die Älteren sind wiederum verpflichtet, den korrekten Ablauf der rituellen Handlungen zu überwachen und damit zu garantieren, dass ein vorgängiges Modell des Ritus mehr oder weniger getreu reproduziert wird.

Turner drückt es so aus: "If complete obedience characterizes the relationship of neophyte to elder, complete equality usually characterizes the relationship of neophyte to neophyte ..." (1964 [1967: 100]) Die im Alltag bestehenden sozialen Statusunterschiede zwischen den Neophyten spielen keine Rolle, sondern werden ausdrücklich aufgehoben. So sind Brüder bei den Ndembu und vielen anderen afrikanischen Gesellschaften gewöhnlich in eine Altershierarchie eingebunden, doch während der liminalen Phase der Riten spielt das Alter keine Rolle mehr: "The liminal group is a community or comity of comrades and not a structure of hierarchically arrayed positions." (1964 [1967: 100]) Später wird Turner diese Gemeinschaft communitas nennen.

Communitas entwickelt sich zwischen rituellen Subjekten während der liminalen Phase der Riten. Die Erfahrung der Gleichheit - und Brüderlichkeit in einem nichthierarchischen Sinne, wie er zum Beispiel der Französischen Revolution zu eigen war - kann sich also auch nur vor dem Hintergrund der strukturierten Alltagsgesellschaft entwickeln. Folglich bedarf communitas als heuristisches und analytisches Konzept eines Komplements, und dementsprechend definiert Turner sie auch immer in Gegensatzpaaren. Ganz allgemein entsteht communitas dort, wo soziale Struktur fehlt. Turner führt sein Konzept ein, "... to distinguish this modality of social relationship from an area of common living," und spricht an gleicher Stelle von "(t)he distinction between structure and communitas ..." (1969: 96). Auf dieser Grundlage lassen sich eine ganze Reihe entsprechender Gegensätze finden und dem Konzept zu- bzw. unterordnen:

CommunitasStruktur
Gleichheit Ungleichheit
BrüderlichkeitHierarchie
SelbstlosigkeitSelbstsucht
StatuslosigkeitStatus
BesitzlosigkeitEigentum
HomogenitätHeterogenität
liminalzentral
ÜbergangBestandswahrung
dynamischstatisch
SchweigenSprechen
existentiellkognitiv
religiöses Wissentechnisches Wissen
TotalitätPartikularität
Die bloße Gegenüberstellung macht deutlich, dass communitas zu jenen Konzepten gehört, mit denen sich eine Vielzahl von sozialen und kulturellen Phänomenen ordnen und deuten lassen. Doch das allein macht es noch nicht zu einer so bestechenden Denkfigur. Zu dieser wird es erst durch die Verknüpfung mit einer sehr elementaren, offenbar universalen Erfahrung menschlicher Sozialität: der Erfahrung allgemeiner menschlicher Gemeinschaft. Erst dieser Verknüpfung verdankt es seine Attraktivität in und mehr noch außerhalb der Ethnologie. Communitas ist kein ethnographisches oder ethnologisches Konzept, das sich auf Gesellschaften oder Riten eines bestimmten Typs bezieht. Es ist ein anthropologisches Konzept, für das Turner zunächst implizit und später ausdrücklich universelle Geltung beansprucht.

1964 und 1969 hat Turner aber kaum allgemeine sozialwissenschaftliche oder theoretische Referenzen angeführt, sondern sein Konzept vor allem anhand von Beispielen aus der Ethnographie Afrikas entwickelt. Neben den Ndembu werden immer wieder die Tallensi, Asante, Bemba und Nuer genannt. Als Quellen erwähnt er die heute klassischen Ethnographien von Meyer Fortes und Edward Evans-Pritchard - Kollegen, mit denen er teilweise eng zusammengearbeitet hatte.6 Daneben führt er die Schriften Martin Bubers und sein "Dialogisches Prinzip" (Buber 1979) als sozialphilosophische Bestätigung seiner Theorie an.

Gleichwohl liegt es nahe, Turners Konzept der communitas, aber auch seine Ritualtheorie als Ganzes, auf andere sozialphilosophische Ansätze zu beziehen. Die nächstliegende Assoziation ist vermutlich Ferdinand Tönnies. Turners Dichotomie Struktur vs. communitas bietet gleich mehrere Bezüge zu dessen Hauptwerk "Gemeinschaft und Gesellschaft."7 Auch dort ordnet sich die soziale Welt nach verschiedenen sozialen Integrationsformen. Allerdings sind sie hier nicht durch verschiedene Erfahrungsmodi begründet, sondern durch den Willen der Akteure. Gemeinschaft wird durch den "Wesenswillen" des gemeinsamen Handelns und Lebens bestimmt. Der Wesenswille ist spontaner, unverstellter Ausdruck des Charakters eines Menschen und seiner Menschlichkeit. Wer in Gemeinschaft mit anderen lebt, entscheidet sich aus freien Stücken dafür. Er erkennt
keine Unterschiede des Status oder der sozialen Hierarchie an, sondern nur die grundsätzliche Gleichwertigkeit des Menschen. Ein klassisches Beispiel von Tönnies ist, ganz wie bei Turners communitas, die klösterliche Gemeinschaft. Andere Beispiele sind für Tönnies die (Kern)Familie oder das Dorf und seine "Dorfgemeinschaft". Gesellschaft dagegen gründet auf dem "Kürwillen" des Menschen. Er hat nicht das Ziel einer allgemeinen Sozialität, sondern sucht nach geeigneten Mitteln, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das Zusammenleben der Menschen beruht nicht auf dem Willen zur allgemeinen Sozialität, sondern auf der Notwendigkeit der komplementären Ergänzung Einzelner und ihrer Tätigkeiten. Beispiele sind hier die funktional hoch differenzierten Industriegesellschaften und der moderne Staat mit seiner Bürokratie und Aufgabenteilung.

Es ist nicht schwer, hier Bezüge zu Emile Durkheims organischer und mechanischer Solidarität herzustellen. Genauso ist in vielem Turners Dichotomie wieder zu erkennen. Doch die Parallelen gehen noch weiter. Für Tönnies sind Wesens- und Kürwillen keine klassifikatorischen Kategorien, sondern "Richtungsbegriffe". Sie deuten auf einander ergänzende Tendenzen in allem menschlichen Zusammenleben hin. Zwischen beidem gilt es eine Balance zu finden. In reiner Gemeinschaft kann eine Gesellschaft als Ganze nur für kurze Zeit bestehen, aber auch der Kürwille darf die Vergesellschaftung der Menschen nicht auf Dauer dominieren. Beides führte zu psychosozialen Pathologien, die es zu vermeiden gelte.

Auch für Turner sind communitas und Struktur keine Dinge an sich. Es sind Phasen oder zeitlich begrenzte Abschnitte im sozialen Leben, die dialektisch aufeinander bezogen sind. Betrachte man die Geschichte über längere Zeiträume, so lösen sich nach Turner (1969: 129) Zeiten der communitas und der Struktur immer wieder ab. Gesellschaft ist gleichsam ein System kommunizierender Röhren: Wird die Gleichheit der Gemeinschaft betont, so entsteht unweigerlich ein Druck, mehr Struktur zu schaffen. Und ist diese wieder hergestellt, bildet sich umgekehrt ein Bedarf, sie durch mehr communitas auszugleichen. Beide, Tönnies und Turner, stehen sich auch in ihrem latenten Kulturpessimismus nahe. Sie sehen in den modernen Gesellschaften "die Struktur", bzw. "den Kürwillen" als so dominant, dass diese Gefahr laufen, tiefgehende Störungen zu entwickeln.

Doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Für Tönnies, den Soziologen, ergibt sich daraus ein politischer Auftrag. Turner vertraut dagegen auf die rituelle Selbstregulierung der Gesellschaft. Sie werde sich Rituale schaffen, die es ihr erlaubten, für die communitas jene Zeiten zwischen den Zeiten zu schaffen, in denen sie sich bilden kann. Vor diesem Hintergrund unterscheidet er daher drei Typen von communitas: 1.) existentielle oder spontane, die sich frei von allen äußeren, strukturellen Ansprüchen bildet. 2.) normative communitas, die gleichsam institutionell eingefangen wird. 3.) ideologische communitas, die ihre Referenz in utopischen Entwürfen und Modellen des Zusammenlebens findet. Auch diese Typen können keine dauerhaften Zustände bezeichnen. Es sind nicht mehr als zeitliche Phasen, die ineinander übergehen oder einander ablösen können.

Die rites de passage der Ndembu lassen sich am besten dem zweiten Typ zuordnen, denn die Erfahrung der Gleichheit, Selbstlosigkeit und Besitzlosigkeit muss notwendig zeitlich begrenzt und kontrolliert werden, damit die Gesellschaft wieder zu ihrem normalen Zustand zurückfinden und fortbestehen kann. Anders sieht es dagegen mit der Hippiebewegung der ausgehenden 1960er Jahre aus (Turner 1969: 112-139). Für Turner ist sie zunächst spontan als Reaktion auf die übergroße Dominanz "der Struktur" der modernen Gesellschaft entstanden. Dafür gab es Orte und Zeiten, die gleichsam aus dem alltäglichen gesellschaftlichen Lauf der Dinge ausgegrenzt waren, zum Beispiel Rock Konzerte, happenings und dergleichen. Sie eröffnen Räume für Liminalität und damit für communitas. Turner schreibt aber auch, dass die spontane Erfahrung von Gemeinschaft, wie sie in Woodstock zur Legende wurde, bald durch verschiedene Formen der Institutionalisierung und der Ideologisierung abgelöst wurde. Aus der communitas des ersten Typs musste zwangsläufig eine des zweiten, bzw. dritten Typs werden.

Dieser Gedanke verweist nun deutlich auf einen anderen Klassiker der Soziologie, nämlich auf Max Weber.8 Sein Idealtypus der charismatischen Herrschaft kennt einen analogen zeitlichen Verlauf. Auch dort entsteht Herrschaft spontan aus dem persönlichen Charisma, und auch dort führt es zu jener Erfahrung, die Turner als communitas bezeichnet hätte. Und schließlich hatte auch Weber darauf hingewiesen, dass dieser Typ sozialer Integration nicht von Dauer sein kann. Die charismatische Herrschaft tritt ebenso notwendig wie Turners spontane communitas in einen Prozess der Institutionalisierung ein, in dessen Verlauf das ursprünglich persönliche Charisma des Herrschers andere Formen annimmt, zum Beispiel zum Amtscharisma wird. Insofern lassen sich auch hier deutliche Parallelen finden.

Der Vergleich mit dem Weberschen Idealtypus charismatischer Herrschaft ist aus einem anderen Grunde hilfreich. Denn anders als Tönnies und Turner folgt Weber keinem hydraulischen Modell, in dem jeder Gesellschaft gleichsam ein Grundbedürfnis nach Gemeinschaft oder communitas zugeschrieben wird. Da Weber das Charisma des Herrschers an dessen Person9 festmacht, kann er die Entstehung charismatischer Herrschaft nicht nur im gesellschaftlichen Bedarf, sondern auch in historischer Kontingenz und persönlichen Idiosynkrasien verorten. Bedarf kann aus einer "Krise" erwachsen, aber dieser muss nicht notwendig in einer bestimmten Art befriedigt werden. Je nach den Umständen kann es zu anderen Lösungen kommen. Dementsprechend liegt dem Konzept Webers eine andere, geradlinige zeitliche Struktur zu Grunde. Doch es gibt noch weitere Unterschiede zu dem Ansatz Webers.

Ritual als religiöse Handlung

Für Turner erschließt sich im rituellen Handeln nicht einfach nur eine gesellschaftliche Möglichkeit des Umgangs mit Konflikten, sondern weit mehr: Rituale folgen immer derselben zeitlichen Struktur. Diese ist mithin universal und Teil der condition humaine. Deshalb lassen sie sich auch in so vielen Gesellschaften und ihren Ritualen wieder finden. Ein Vergleich dieser Regelmäßigkeiten kann daher einen Einblick in die Strukturen menschlichen Denkens und Handelns überhaupt eröffnen. Damit eröffnet sich ein weiterer, allerdings komplementärer Bezug, nämlich der zum Strukturalismus, den Turner vermittelt durch Edmund Leach kennen gelernt hat. Anders als der französische Strukturalismus, wie er von Lévi-Strauss vertreten wird, geht es ihm aber nicht darum, die auf einer Metaebene angesiedelten unbewussten Strukturen des "wilden Denkens" (Lévi-Strauss 1965 [1968]) zu finden. Er fragt vielmehr, wie sich universale Strukturen des Denkens in der Vielfalt kultureller Erfahrungen artikulieren.

Um diesen auf die Spur zu kommen, wendet er sich zunächst der Frage zu, wie in Ritualen kulturelle Erfahrung vermittelt wird. Diese sieht er vor allem durch und in Symbolen verkörpert. Sie sind die kleinsten Einheiten und Bedeutungsträger im Ritus. Er nennt sie auch storage units, "Speichereinheiten" (Turner 1968: 1-2). Neben instrumentellen Symbolen, die dazu dienen, ein spezifisches Ziel des Ritus zu erreichen, gibt es dominante Symbole, die in vielen Ritualen einer Gesellschaft eine zentrale Rolle spielen. Sie stehen in der Regel für viele verschiedene Dinge - oder anders formuliert: In ihnen fließt zusammen, was für die Gesellschaft wichtig ist. Ihre vielfältigen Referenzen ermöglichen es den Teilnehmern am Ritus, sich immer wieder ihrer ethischen, moralischen und/oder religiösen Grundüberzeugungen zu versichern.

Turner sieht aber rituelles Handeln nicht einfach nur als den lernenden Nachvollzug dessen, was in einer gegebenen Gesellschaft und ihrer Kultur an zentralen Wissensbeständen bereits vorhanden ist. Rituale sind nicht bloß der Reproduktion allgemein anerkannter und immunisierter Grundüberzeugungen verpflichtet, die gemeinhin der Religion zugeordnet werden. Anders als die bis dahin dominierenden, in vielen Teilen noch einem funktionalen Paradigma folgenden ethnologischen Ritualtheorien ist für Turner rituelles Handeln selbst konstituierend und eine eigene Form des Religiösen. Religion hat für ihn immer zwei Seiten: Einerseits den Glauben, der sich kognitiv-sprachlich fassen und ausdrücken lässt, und andererseits die Praxis im Ritus. Religion umfasst sowohl die im rituellen Handeln gemachten Erfahrungen, die also im Wesentlichen sozial sind, als auch einen Korpus von Glaubensvorstellungen, auf die sich dieses Handeln bezieht. Dieser doppelte Bezug äußert sich auch in seiner oft zitierten Definition des Rituals: "A ritual is a stereotyped sequence of activities, involving gestures, words, and objects, performed in a sequestered place, and designed to influence preternatural entities or forces on behalf of the actors' goals and interests."10

Die Distanzierung von den Ansätzen der älteren britischen social anthropology - und damit von seiner eigenen, nicht nur wissenschaftlichen Herkunft - wird besonders deutlich in der 1975 verfassten Einleitung zur Wiederauflage zweier längerer Aufsätze, die 1961 und 1962 in den Rhodes Livingstone Papers erschienen waren.11 Turner schreibt: "After many years as an agnostic and monistic materialist I learned from the Ndembu that ritual and its symbolism are not merely epiphenomena or disguises of deeper social and psychological processes, but have ontological value ... I became convinced that religion is not merely a toy of the race's childhood ..."12. Bei der Ritualanalyse ginge es nicht bloß um die "Entzifferung" von symbolischen Handlungen und Prozessen, sondern um deren Bezug zum Kern aller menschlichen Kultur, nämlich dem Religiösen und der Religion. Dass Turner damit eine bestimmte Form menschlicher Erfahrung und menschlichen Wissens privilegierte, ist ihm zu jener Zeit längst klar gewesen. Schließlich hatte sein Aufsatz schon 1964 die Ehre gehabt, von einem der angesehensten Ethnologen jener Zeit gewürdigt zu werden. Damals hatte Robin Horton argumentiert, dass Religion und andere, in der westlichen Sicht säkulare Formen des Wissens nicht hierarchisiert werden dürften, weil sie beide zunächst als Versuche der
Weltdeutung, Erklärung und Bewältigung verstanden werden müssten. Es gebe keinen hinreichenden Grund, der einen oder anderen Form des Wissens von vornherein einen anderen erkenntnistheoretischen Status zuzuschreiben.13

Für Turner gewinnen rituellen Handlungen dagegen einen anderen "ontologischen" Status, wenn sie sich auf übernatürliche Wesen oder Vorstellungen beziehen. Diese Transzendenz macht sie, so Turner weiter, zu religiösen Handlungen und für die Handelnden so bedeutsam - und, so darf man vermuten, für all jene so attraktiv, die die Ergebnisse seiner Ritualanalysen als Handlungsanweisungen zur Vermittlung von Religiösem in anderen Gesellschaften und Kulturen missverstehen.

Jedenfalls ist diese Unterscheidung von innerweltlichem Wissen einerseits und religiöser Erfahrung andererseits seitdem kontrovers diskutiert worden. Bis heute finden sich beide Positionen. Dabei hatte Turner keineswegs behauptet, dass alle rituellen Handlungen notwendig religiös seien. Vielmehr müsse das Religiöse sich aus dem Tun der Akteure erst ergeben. Es bestehe nicht für sich und kann deshalb auch nicht wie durch eine Handlungsanleitung erzeugt werden.

Ritus als symbolischer Prozess

Turner sieht sich durch den Bezug auf die Religion einmal mehr auf die Konstitution von Erfahrung im rituellen Handeln zurück verwiesen. Man muss, so seine Schlussfolgerung, sich jenen Symbolen zuwenden, durch die sich rituelle Erfahrung bildet. Erst eine vergleichende Analyse kann hier einen Zugang zur jeweiligen Religion der Akteure und dem Menschlichen überhaupt eröffnen. Tatsächlich kann man Turners späteres Werk als einen Versuch sehen, zu diesem allgemein Menschlichen vorzudringen. Dazu verknüpft er erneut seine beiden Konzepte der Liminalität und der communitas.

Da rites de passage im Wesentlichen immer auf die gleiche Art und Weise aufgebaut seien, ist davon auszugehen, dass während der liminalen Phase die jeweiligen kulturellen Symbole von den Handelnden immer auf die gleiche Art und Weise in den Griff genommen werden können. Daher rühre auch die Vergleichbarkeit der Erfahrungen, die während dieser Zeit gemacht werden und die bei gelungenen Riten zu eben jener communitas führe, die er zunächst bei den Ndembu und dann in so vielen anderen Passageriten fand. Im nächsten Schritt muss es also darum gehen, die Handlungsoptionen, die durch den Ritus eröffnet werden, zu beschreiben.

Wenn man sich nun vor Augen führt, was im Laufe des rituellen Prozesses geschieht, so lässt sich das vor allem als ein Gewahrwerden der Vieldeutigkeit der Symbole darstellen. So lernen die jungen Initianden in ihren Lagern in der afrikanischen Wildnis, dass ein normaler Baum einer bestimmten Sorte nicht nur ein Baum ist, sondern auch ein dominantes Symbol für ihre Kultur, das sich auf religiöse Grundüberzeugungen bezieht. Es ist, so Turner, die Polysemie oder die Multivokalität dieser Symbole, die im Zentrum der rituellen Erfahrung während der liminalen Phase steht. Am eindrücklichsten gelingt ihm diese Schilderung bezüglich der Farben rot, weiß und schwarz, die nicht nur in zahlreichen symbolischen Objekten auftauchen, sondern als drei Flüsse für die Kräfte stehen, die aus dem Hochgott Nzambi entspringen (Turner 1966 [1967]). So
kann zum Beispiel die Farbe weiß ja nach Zusammenhang für das Gute, das Leben, Gesundheit, Reinheit, Kraft, Macht, etc. stehen (Turner 1966 [1967: 69 f.]). Ähnliches findet Turner in den Riten anderer Gesellschaften, die ihm nur aus der Literatur bekannt sind, in diesem Falle verschiedener Gesellschaften Afrikas, der malayischen Halbinsel, Australiens, nordamerikanischer Indianer und solchen der Antike (Turner 1966 [1967: 81-86]).

In allen diesen Gesellschaften aber steht letztlich eine gleiche rituelle Erfahrung im Vordergrund: "The basic three [color terms] are sacred because they have the power to carry the man away ... they appear to transcend his consciousness. By representing these forces or strands of life by color symbols in a ritual context men may have felt that they could domesticate or control these forces ...", und ein paar Sätze weiter fügt er hinzu, "... the experiences the three colors represent are common to all mankind, ..." (Turner 1966 [1967: 90]). Hier geht es letztlich darum, dass den Menschen im Ritual ihre Handlungsfähigkeit wiedergegeben wird bzw. erhalten bleibt. Turner formuliert diese sehr allgemeine Deutung des Rituals vorsichtig, aber in ihr lassen sich letztlich die Spuren einer Ritualtheorie erkennen, wie sie am überzeugendsten von Arnold Gehlen (1956) formuliert wurde: Riten sind handlungsentlastend. Sie ermöglichen es dem Menschen, sich in komplexen Situationen zu orientieren. Allgemein stellen sie Modelle dar, mittels derer die Unübersichtlichkeit der Welt bewältigt werden kann.

In seinem späteren Werk erweitert Turner diesen Gedanken noch um eine andere Dimension. Der freie Umgang mit den Symbolen während der liminalen Phase der Passageriten setzt nicht nur Bezüge zum Religiösen frei, sondern zugleich und vielleicht mehr noch menschliche Kreativität.14 Als eigentliche Schlüssel zu deren im Alltag verborgener Kreativität fungieren wieder die in den Riten verwendeten Symbole. Mit ihnen spielt der Mensch während der liminalen Phase von Passageriten, aber eben auch in den liminoiden Zeiten der modernen Industriegesellschaft. Das Spiel und das Erleben der freien Kombinierbarkeit der Zeichen, die nicht länger an die Strukturen des Alltags gebunden sind, eröffnet dem Menschen Einsicht in mögliche Alternativen zu den normativen Zwängen der gesellschaftlichen Strukturen.15 "Stammesgesellschaften"16 und andere, im wesentlichen konservative Gesellschaften müssten aber dieses Moment der Freiheit sofort wieder einfangen und neutralisieren. Deshalb bleibe menschliche Kreativität in den zeitlich engen Grenzen des Ritus gefangen. Es kann und darf sich nicht frei entfalten, weil sonst die soziale Integration der Gesellschaft gefährdet wäre. Was das Individuum in liminalen Handlungszusammenhängen als Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen erlebt und erfährt, muss notwendig wieder zu den Strukturen des Alltags zurückführen. Es kann kaum mehr sein als "... a subversive flicker" (Turner 1982: 44).

Anders liegen die Dinge für Turner jedoch in den modernen Gesellschaften. Dort, wo liminale Phasen durch liminoide Zeiten und Räume abgelöst wurden, gilt: "... the seeds of cultural transformation [hervorgehen], discontent with the way things are culturally, and social criticism, always implicit in the preindustrial liminal, have become situationally central, ... a matter of the holistically development." (Turner 1982: 45) In modernen Gesellschaften geht es mithin um die Entstehung des gesellschaftlich Neuen, während in den vormodernen Gesellschaften die rituell gerahmte individuelle Erfahrung von Kreativität im Vordergrund steht. Kreativität ist aber in jedem Fall der eigentliche Gegenstand ritueller Erfahrung - unabhängig davon, ob sie in liminalen Phasen von Passageriten vormoderner Gesellschaften oder in den liminoiden Räumen und Zeiten der Moderne entsteht. Dieser Gedanke kann als der eigentliche Kern der späteren Fassung seiner Ritualtheorie verstanden werden.

Durch diese Wendung entsteht jedoch eine Dichotomie, die Gesellschaften entlang einer Achse "traditionell-konservativ-statisch" einerseits und "modern-progressiv-dynamisch" andererseits typisiert. Ob Turner die ganze Problematik einer solchen Gegenüberstellung noch zu seinen Lebzeiten erkannt hat, muss offen bleiben. Auf die Frage, ob denn die so genannten "traditionellen" Gesellschaften und ihre Rituale keinen Wandel kennen, geht er nur ganz am Rande ein. Noch einmal schreibt er, dass selbst die Umkehrung sozialer Strukturen, wie sie in vielen zyklischen Riten vorkommen, in solchen Gesellschaften letztlich einen konservativen, die bestehenden Verhältnisse aufrechterhaltenden Charakter hätten. Sie böten den Akteuren für eine gewisse Zeit eine Entlastung von den Zwängen des Alltags, führten aber unweigerlich zu diesen zurück (Turner 1982: 53f.). In diesem Punkt bleibt Turner dem Erbe der britischen social anthropology verpflichtet.

Turner mag damit in der Regel recht behalten. Beantwortet ist die Frage allerdings nicht. Die Erfahrung, dass es Alternativen zu den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen gibt, wird nicht einfach vergessen sobald ein Ritus durchlaufen und abgeschlossen ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie eine bleibende Spur in der Erinnerung der Teilnehmer hinterlässt. Und als solche stellen sie eben doch ein Potential dar, das die Akteure oder zumindest Einzelne unter ihnen motivieren kann, auch an den alltäglichen Verhältnissen etwas zu ändern. Mit anderen Worten: Victor Turners Ritualtheorie ist in einem wesentlichen Punkt unterdifferenziert. Sie kann das Verhältnis zwischen rituellem und alltäglichem Handeln nicht angemessen erfassen, beschreiben und deuten. Dazu hätte es einer weiteren Sicht bedurft: Die Spuren des Alltags im Ritual und umgekehrt die Spuren rituellen Handelns im Alltag hätten nicht nur auf Gegensätze, sondern auch auf Kontinuitäten befragt werden müssen.17 Und alle Formen des Wissens - alltägliche wie außeralltägliche - hätten eben doch gleichermaßen ernst genommen werden müssen.

Damit sind die Grenzen von Turners Ritualtheorie skizziert. Es bleibt zu fragen, wo die Gründe für ihr schließliches Versagen in diesem Punkt zu suchen sind.18 Dazu soll hier nur auf einen Widerspruch hingewiesen werden. Obwohl für Turner nominell die handelnden Menschen im Mittelpunkt seines Interesses
stehen, interpretiert er ihr Handeln dennoch wie ausschließlich
intentionale Bewusstseinsakte. Er verwechselt Bedeutung mit Sinn und gründet seine Analysen auf exegetisches Wissen, auf sekundäre Interpretationen, wie sie ihm mittels der Symbole und der Sprache kommuniziert werden. Trotz aller Betonung
der Praxis gehen Riten und rituelles Handeln für Turner in der kognitiven Deutung auf. Für ihn bleiben die Symbole das hauptsächliche Agens - weniger die Menschen, die mit ihnen umgehen. Seine Ritualtheorie ist, wie Mathieu Deflem (1991) schrieb, vor allem eine Analyse symbolischer Prozesse. Sie erfasst Rituale nur partiell.

Doch das ist die wissenschaftliche Seite. Auf der anderen Seite verspricht Turner etwas: Der eigentliche kreative Akt liegt, wenn man Turners Theorie von ihrem symbolischen Ballast befreit, immer im Handeln der Menschen. Sie sind es, die Rituale gestalten, und erst dadurch entsteht rituelle Erfahrung. In diesem Handlungsbezug mag man einen existentiell humanistischen Strang in Victor Turners Denken erkennen, der es wert ist, weiterverfolgt zu werden. Er ist bei aller Kritik, die an Turners Ritualtheorie ansonsten geübt wurde, der vielleicht bleibendste, sicher aber einflussreichste Aspekt seines Werkes. Und in einer 1993, zehn Jahre nach seinem Tod erschienenen Aufsatzsammlung wird der Akzent von nahezu allen Autoren genau in diesem Sinne gesetzt: "The authors ... broadly define creativity as human activities that transform existing cultural practices in a manner that a community or certain of its members find of value." (Rosaldo et al. 1993: 5)

Summary

Victor Turner has been one of the most influential anthropologists of religion in the 20th century. Especially his writings on ritual have influenced a wide variety of disciplines. Turner started his career with a study of the Ndembu in Central Africa, but later, his interests shifted to world religions and mass society. He argued that the dialectical relationship of ritual to social structure is the same in all societies and may therefore serve as a general concept of analysis and interpretation. Turner's idea to conceive ritual not as a conservative force but as a change agent in society soon became so popular that it stimulated a vivid discussion in and outside the scholarly world. This article tries to outline the reasons for the influence of Victor Turner's basic concepts twenty years after his death.

Literaturhinweise

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Turner, Victor, 1957: Schism and Continuity in an African Society: A Study of Ndembu Village Life. Manchester: Manchester Univ. Pr. [zugleich Diss. 1955].

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-, 1982: From Ritual to Theatre: The Human Seriousness of Play. New York: Performing Arts Journal Publ.

-, 1987: The Anthropology of Performance. New York: Performing Arts Journal Publ.

Weber, Max, 51980: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr.

Fussnoten:

1) Turner 1969 [2000]. Das Buch baut sich aus zwei ungleichen Teilen auf: Einerseits einer weitgehend ethnographischen Darstellung von Passageriten bei den Ndembu, andererseits die Erweiterung der daran entwickelten Analyse auf andere Gesellschaften und insbesondere auf moderne Industriegesellschaften.

2) Turner 1957: 89. Es muss hinzugefügt werden, dass Turner mit dieser Themenwahl auch den Interessen und Vorgaben seines Lehrers Max Gluckman folgte (siehe rückblickend z. B. Gluckman 1963). Gluckman war von 1942 bis 1947 Leiter des Rhodes-Livingstone Institutes und hatte später den Lehrstuhl für social anthropology in Manchester inne. Als Gründer der Manchester School genoss er eine sehr einflussreiche Position (vgl. Kuper 31996: 137-145).

3) Social drama, z. B. Turner 1957: 91-94. Oft ist darauf hingewiesen worden, dass Victor Turners Mutter Schauspielerin am Schottischen Nationaltheater war (zur Vita Victor Turners siehe Edith Turner 1985, 1990, Manning 1990). Dieser familiäre Hintergrund mag vielleicht die Wahl des Begriffes beeinflusst haben, doch das Konzept des sozialen Dramas ist selbstständig.

4) Siehe ausführlich den Artikel zu Victor Turners Bedeutung für eine kulturtheologische Praxistheorie von Harald Schroeter-Wittke: Übergang statt Untergang, in: ThLZ 128 (2003), Heft 6, Sp.575-588, sowie Turner 1964, in dem Turner in einer ähnlichen Übergangsphase seines eigenen Lebens die Grundgedanken zu diesem Konzept entwickelt hat.

5) Einen guten Eindruck von der gesellschaftlichen Weite der Analysen vermittelt Turner 1974.

6) Fortes 1945, 1949, Richards 1956, Evans-Pritchard 1940. Wahrscheinlich hat Turner das Wort communitas von Paul Goodman (Goodman/Goodman 1947) übernommen. Goodman verwendet es jedoch in einem etwas anderen Sinne.

7) Tönnies 81935 [1991]. Im ursprünglichen Untertitel von 1887 "Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen" wird die Nähe zu Turners Ansatz noch deutlicher. Tönnies Hauptwerk war seit 1935 in Englisch verfügbar und ist 1940 erneut aufgelegt worden. Ob es Turner 1964/69 bekannt war, ist ungeklärt.

8) Z. B. Weber 51980: 140-148. Weber wird zwar von Turner hin und wieder erwähnt (z. B. Turner 1975: 33), aber er geht nie näher auf dessen Argumente ein.

9) Siehe hierzu auch ausführlich Lipp 1985.

10) Turner 1972: 1101. Siehe auch Turner 1967: 19.

11) Ndembu Divination: Its Symbolism and Techniques. (Rhodes Livingstone Paper, 31) 1961, und Chihamba, the White Spirit: A Ritual Drama of the Ndembu. (Rhodes Livingstone Paper, 33) 1962, zus. mit einer neuen Einleitung als Turner 1975.

12) Turner 1975: 31. Turner war seinerzeit zum Katholizismus konvertiert.

13) Horton 1964. Spätestens seit Evans-Pritchards Klassiker "Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande" von 1937 wusste jeder Ethnologe, dass eine ontologische Unterscheidung von verschiedenen Wissensformen aus der Binnenperspektive dieser Gesellschaften nicht nachvollziehbar war.

14) Zu der Bedeutung von Rationalität und Kreativität in der Geschichte der Religionsethnologie siehe auch Förster 2002 [im Druck].

15) Am klarsten formuliert in Turner 1982: 20-52, auch in den posthum veröffentlichten Schriften (Turner 1987).

16) Turner setzte 1982 das Wort tribal oft in Anführungszeichen.

17) Siehe hierzu auch meine These des Rituals als Modulation des Alltags in: Förster 1997: 439-444.

18) Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Punkte, in denen Turners Ritualtheorie versagt. So entspricht die postulierte Erfahrung der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen in der liminalen Phase keineswegs dem, was sich in den meisten Riten tatsächlich vollzieht. Es sind im Gegenteil die Zwänge fast nirgends so groß wie eben während der liminalen Phasen, in denen die Initianden der absoluten Kontrolle derjenigen unterworfen sind, die die Riten durchführen. Eine kurze und treffende Aufzählung solcher und anderer sachlicher Fehler in der Ritualtheorie Turners gibt Grimes 1990.