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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

708–710

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Scherer-Rath, Michael

Titel/Untertitel:

Lebenssackgassen. Herausforderung für die pastorale Beratung und Begleitung von Menschen in Lebenskrisen.

Verlag:

Münster: LIT 2001. 288 S. m. Abb. gr.8 = Empirische Theologie, 3. Kart. ¬ 20,90. ISBN 3-8258-4170-7.

Rezensent:

Sabine Bobert-Stützel

Die Zahl der Suizidtoten hat die Zahl der Unfalltoten längst überstiegen. Jährlich versucht sich in Deutschland der Zahl nach eine mittlere Großstadt umzubringen bzw. tut dies erfolgreich. Insofern befasst sich Scherer-Rath in seiner empirisch orientierten praktisch-theologischen Untersuchung mit einem wichtigen gesellschaftlichen und individuellen Problem. Seine spezifische Leitfrage lautet dabei: "Wollen Menschen in Suizidkrisen mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern sprechen und wenn ja: worüber?" (14) Hierzu thematisiert der Vf. "Menschen in Suizidkrisen" (45 ff.), "Grenzerfahrungen" im Zusammenhang mit Tragik, Schuld und Tod (81 ff.), "Pastorale Beratung und Begleitung" (159 ff.) sowie "Pastorale Gesprächsangebote in der Suizidkrise" (203 ff.). Ein Anhang dokumentiert die Fragebögen sowie die statistischen Ergebnisse (247 ff.).

Befragt wurden Menschen, die sich in einer Suizidkrise hilfesuchend an ausgewählte Beratungsstellen, Krisenzentren und Krankenhäuser in Deutschland gewandt hatten und nicht zugleich ein psychopathologisches Krankheitsbild aufwiesen. 73 Personen erklärten sich in diesem Rahmen via Selbstselektion dazu bereit mitzuwirken. Erklärtes Ziel aller Fragen war, die Erfahrungs- und Erwartungswelt von akut suizidgefährdeten Menschen näher kennenzulernen, um sich seelsorgerlich besser darauf einstellen zu können. Von vornherein verbindet der Vf. dieses Untersuchungsziel mit dem Interesse, die Bedeutsamkeit der drei Faktoren Tragik, Schuld, Einstellung zum Tod in theologischer Perspektive nachzuweisen. Insofern handelt es sich schon in der Grundlegung nicht allein um eine empirische Bestandsaufnahme, sondern zweigleisig zugleich um eine theologische Beweisführung. Viele der erklärten Intentionen in diesem Buch können gewiss von gegenwartsorientierten Seelsorgern und Beratern in Kirchlichen Lebensberatungsstellen geteilt werden. Im Vordergrund soll nicht ein Allgemeinbegriff (z. B. von Krise) stehen, sondern stets subjektives Erleben und subjektive Deutungen. "Jeder Mensch nimmt lebensgeschichtlich bedingt Situationen unterschiedlich wahr und verfügt über ein unterschiedliches Spektrum von Handlungsmöglichkeiten." (17f.) Glaubensleben und Seelsorge werden vorrangig unter dem Aspekt von "Selbstorganisation" und Autonomie thematisiert. Im Prinzip begegnen hier in neuem begrifflichen Gewand die alten Ziele der Seelsorgebewegung der 70er Jahre wieder. Was geschieht, wenn sie mit empirischen Ergebnissen gekoppelt und in ein katholisches Interpretationssystem eingebunden werden? Im Buch siegen Begriffssystem und Systematisierungseifer über die Fakten. Leser und Leserinnen erfahren sehr viel über systematisch-theologisch und phänomenologisch orientierte Interpretationsmöglichkeiten der Begriffstrias Tragik, Schuld, Einstellung zum Tode, und sie erfahren viel über die Weltsicht des Vf.s. So z. B. dass es "keine transzendenzlose Tragik" gebe (221).

Grundlegend kritisch ist bereits der Faktor der Selbstselektion in dieser Untersuchung thematisiert - was der Vf. nirgends tut. Für ihn gilt als erwiesen, dass an und für sich Menschen in Suizidkrisen für pastorale Gesprächsangebote offen seien.

Vergleichsweise abstrakt, doch in Widersprüchen steckenbleibend, geht der Vf. mit möglichen Seelsorge-Gesprächsmodellen um. Letztlich siegt auch hier die Intention des quod erat demonstrandum: den Bedarf am pastoralen Gespräch und hierbei auch an direktiv vorgebrachten Verkündigungsinhalten zu belegen.

Die Zahlen sträuben sich dabei etwas, und auch das hier immerhin progressiv zu Grunde gelegte Counseling Paradigma. Dies führt dann zu folgendem Ergebnis: Methodisch will sich der Vf. auf kein Gesprächsmodell festlegen, erklärtermaßen wird dann aber das partizipative Modell nach Rogers zu Grunde gelegt. Indem der Vf. verschiedene Untersuchungsfragen und -ebenen zusammenfasst, ergibt sich ein Gesprächsprofil, das nicht lediglich offen ist für religiöse Fragen (dies würde nach meinem Verständnis auch Seelsorge mit Rogers leisten), sondern dem Gespräch wird ein "religiös-weltanschaulicher Rahmen vorgegeben" (178). Der Vf. spricht darin Seelsorgerinnen und Seelsorgern "eine aktive Aufgabe in der Glaubensverkündigung zu als konfrontierende und heilende Auseinandersetzung mit dem Sinngrund menschlichen Daseins" (178).

Warum diese weltanschauliche Vorgabe und auch die inhaltlich-direktive Aufgabenzuweisung "nichts an der Form der Gesprächsführung" ändern (205), bleibt mir schleierhaft. Hier wären nähere Ausführungen und Differenzierungen (z. B. nach Krisenphase und Klientel im Einzelnen) dringend nötig, um die Widersprüche aufzulösen und die Ergebnisse irgendwie handhabbar zu machen.

Ebenso in der Luft hängt die polarisierende These, dass unsere gegenwärtige Kultur suizidal sei, hingegen die kirchliche Lebenskultur und ihr vermitteltes Glaubenssystem lösend für Lebensblockaden sei. Auch hier widersprechen die selbst gesammelten Zahlen dem Wunschdenken des Vf.s. So belegt er wiederholt im Zusammenhang mit der Suizidkrise gerade ein selbstmörderisches religiöses Leistungsdenken und einen religiösen Drang zur Perfektion (z. B. 107).

Fazit: Der Weg vom entwickelten theologischen Begriff zu dessen empirischer Überprüfung bzw. Beweislegung hat sich nicht bewährt. Theologische Konzepte siegen über die Komplexität der Empirie. "Menschliches Dasein kennt keine einfachen Strukturen." Wenn der konzipierte Glaube dieser Vielfalt zu entsprechen beginnt, wird auch die Seelsorge Menschen in ihren subjektiv gedeuteten Krisen näher kommen können. (Druckfehler: "Ableben" statt "Ablegen"?, 163.)