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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

678–680

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Valentin, Joachim, u. Saskia Wendel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jüdische Traditionen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Darmstadt: Primus/Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000. VI, 298 S. 8. Geb. ¬ 32,00. ISBN 3-89678-190-1.

Rezensent:

Hans-Christoph Askani

Die Herausgeber haben in dem vorliegenden Band eine Reihe vorwiegend jüngerer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vereinigt, die auf dem Hintergrund historischer, philologischer, philosophischer, aber ganz überwiegend - und unübersehbar - theologischer Studien sich für jüdische Themen interessieren. Aus dieser Vereinigung entstand ein Sammelband, der Beiträge über F. Rosenzweig, W. Benjamin, G. Scholem, M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Leo Strauss, Hans Jonas, Hannah Arendt, Simone Weil, E. Levinas, J. Derrida u. a. enthält. Die Auswahl der behandelten "Autorinnen und Autoren" (2) beruht auf dem "Kriterium jüdischer Abstammung und der frühen Prägung in einer jüdischen Familie" (ebd.), sowie auf der philosophischen Haltung ihres jeweiligen Werkes. Ein roter Faden, der die einzelnen Abhandlungen über die genannten Gesichtspunkte hinaus miteinander verbände, besteht nicht und kann wohl auch nicht bestehen. Das Anliegen, die Auswahl nicht auf Philosophen deutscher Herkunft (cf. 7) zu beschränken, ist unverkennbar. In den einzelnen Texten kommt eine allgemeinverständliche, überblickshafte und keineswegs pointierte Arbeitsweise zum Vorschein.

So gibt etwa W. Schmied-Kowarzik in seinem Artikel über Rosenzweig eine solide diskursive Interpretation des "Stern der Erlösung". So durchläuft der Vf. John Benjamins Werk von dem frühen Aufsatz "Über die Sprache des Menschen und über die Sprache überhaupt" (von 1916), über das "Trauerspielbuch" den "Kunstwerk-Aufsatz" bis hin zu den späten "Geschichtsphilosophischen Thesen" (von 1940). Er tut dies unter der Hypothese, dass "das jüdische Element keineswegs am Anfang des Denkwegs Benjamins" stehe, sondern "sich in der sich zuspitzenden Konfrontation mit der geschichtlichen Realität" erst "gewinn[e]" (51). "Wie setzt sich die Tradition des jüdischen Messianismus in diesem Denken durch?" (53) formuliert der Autor die immer wieder an Benjamin gerichtete Frage nach dem jüdischen Anteil in seinem Denken. Oder in etwas überraschender Diktion: "Wie verwandelt sich die nihilistische Vermittlung von Gott und Welt im Untergang der Welt in die messianische Aktion der Unterbrechung ihres katastrophischen Verlaufs [...]?" (53) Unter gründlicher Kenntnis der Texte versucht A. B. Kilcher die Darstellung des Scholemschen Denkens auf die Frage des Verhältnisses von "Kabbala und Moderne" zuzuspitzen. Interessanter als diese etwas generelle These ist, dass Scholems Begriff von "Philologie" in diesem Zusammenhang Kontur gewinnt, als eine zugleich bescheidene, "harte", geradezu technische und in ihrer Zurückhaltung und Konzentriertheit zutiefst humane Disziplin. "Schon lange warten die stummeren Teile unseres Schrifttums, und nicht die Mystik allein, auf erkennende Liebe, die ihre Aura schaut. Ich glaube schon, daß tiefe Philologie eine echte mystische Funktion haben kann, wenn sie die Verwandlung der Zeiten in ihrer Arbeit befördert, begleitet und beschwört, und dass die würdige Überlieferung des Gutes der Geschlechter [...] vielleicht eine tiefere Beziehung zu einer Kabbala involviert, die nicht ganz ohne Grund Überlieferung heißt." (Scholem, zitiert bei Kilcher, 91.)

Auch die anderen Beiträge zeigen eine allgemein gehaltene Ausrichtung. Entweder verfolgen sie das Ziel, einen Autor überhaupt einem etwas breiteren Publikum bekannt zu machen (so die Texte über L. Strauss, E. Lévinas, E. L. Fackenheim u. a.) oder sie gehen - was aber eher die Ausnahme ist - dezidiert der im Titel des Buches formulierten Devise nach, jüdische Elemente im Denken eines bestimmten Autors (so etwa die Beiträge über Derrida und Benjamin) zur Geltung zu bringen.

Kehren wir nach diesem Blick auf einzelne Artikel zurück zur Gesamtkonzeption des Buches. Auf den ersten Blick erscheint es als durchaus legitim und begrüßenswert, "jüdische Traditionen" und die "Philosophie des 20. Jahrhunderts" in einem Titel, in einem Projekt, gar in einem Buch zu verbinden. Auch dass das Judesein der einzelnen untersuchten "Philosophinnen und Philosophen" für deren Biographie und für deren Werk eine ganz unterschiedliche Bedeutung hat(te) - man denke etwa an Rosenzweig und Benjamin, Scholem und Horkeimer, Weil und Arendt, Lévinas und Derrida - muss kein Einwand sein, kann vielmehr den Reiz des Unternehmens ausmachen. Wie ist aber nun diese jüdische Komponente zu bestimmen, wie kann sie zum Kriterium der Auswahl werden? Die anfangs zitierte Auskunft der Herausgeber (cf. 2) wirkt nicht von ungefähr unbeholfen. Sie reflektiert eine objektive Schwierigkeit: Was ist denn eigentlich der Sinn, so ganz verschiedene "Denker und Denkerinnen" (4) unter dem Signum ihres Jüdischseins als Philosophen ins Verhältnis zu setzen? Dass im jeweiligen Fall es von Bedeutung sein kann, jüdische Prägung, jüdische Spuren, jüdisches Leben und Glauben [...] im Denken eines Philosophen zu entdecken, soll nicht bestritten werden. Aber warum werden sie nun zusammengebunden? Was ist der Begriff des "Jüdischen", der hier vorausgesetzt wird? Was übrigens auch der von "Philosophie", der stillschweigend in Anspruch genommen wird? "... wir stießen auf Strukturanalogien kritischen Denkens in ihren jeweiligen Ansätzen" (2 f.) - das kann es ja wohl nicht sein. Auch die sechs auf der folgenden Seite genannten "Motive jüdischen Denkens", wie das "Bilderverbot", "das Exil", die "rabbinische Hermeneutik" [...] können es auch nicht sein. Was ist es dann? Es ist abgesehen davon, dass zwischen Judentum und Philosophie immer wieder Konstellationen wahrgenommen werden können (und Konstellationen sind künftige Sammelbände), doch auch der Impetus, einer Ungerechtigkeit aufzuhelfen, einem Vergessen entgegenzutreten (cf. 6). Findet dies Vergessen aber denn statt? Muss hier etwas dem Vergessen entrissen werden? Der gute Wille, der dies suggeriert und der die Notwendigkeit des Buches begründen soll, steht seiner Wohlbegründetheit und steht seiner entspannten Rezeption am meisten im Wege. Wenn hier aber irgendein Moment von Notwendigkeit oder moralischer Verbindlichkeit (cf. 6) gegeben wäre, wie wäre es dann verständlich, wie wäre es auch nur erträglich, dass eine Gestalt wie H. Cohen unter dem durchaus schäbigen Verdikt der "Assimilation" und der "(Schul-)Philosophie" (cf. 4) aus dem postulierten Gefüge ausgeschlossen wurde? Es ist dem aber nicht so: Es besteht kein Gefüge und keine sich aufdrängende Problematik, die ganze Organisation des Buches ist lockerer und in einem keineswegs nur negativen Sinn zufälliger, als es seine nachträgliche Rechenschaft herausstellen möchte.